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Chapter 3 - Einen Welpen treten

Adeline wollte wissen, was er damit meinte. Leider hörte die Musik auf. In diesem Moment bemerkte sie, dass sonst niemand tanzte. Sie hatte sich so von seiner Welt mitreißen lassen, dass sie alle anderen vergessen hatte. Wie in Trance hatte er sie gefesselt, mit Leib und Seele.

"Dieses Mal bin ich es, der um Mitternacht verschwindet", hauchte er ihr zu, seine Lippen streiften ihr Ohr und kitzelten das empfindsame Fleisch.

Sein spöttischer Ton klang wie Glocken in ihren Ohren.

Adelines blasse Wangen erröteten zu einem Rot, das Tomaten erblassen ließ. "Ich wollte nicht gehen", entfuhr es ihr mit leiser, aufgeregter Stimme.

Der Gedanke, mitten in der Nacht zu fliehen, und das auch noch unzureichend gekleidet, ließ sie sich zutiefst schämen. Ihre Würde und Etikette waren längst vergessen. Es war, als wäre sie eine Frau, die Angst hatte, beim Fremdgehen erwischt zu werden, und dabei aus dem Bett der Geliebten floh.

Er sah sie wahrhaftig an wie eine verschmähte Geliebte, vor allem mit seinen zusammengekniffenen Augen und seinem einschüchternden Lächeln.

"Ich würde liebend gerne bleiben und mehr über das kalte Bett sprechen, in dem ich aufgewacht bin, aber ich habe noch anderes vor – Orte zu besuchen, Leute zu treffen und Menschen zu töten", sagte er.

Adeline lachte nervös. Ihr Lachen wurde von seinem durchdringenden Blick unterbrochen. Sein Lächeln blieb, aber seine Augen waren kalt. Ihr Blut gefror.

Er meinte es ernst.

Ohne ein weiteres Wort drehte er ihr den Rücken zu und ging davon. Dann stellte etwas seine Beherrschung auf die Probe.

Eine kleine Hand griff nach seinem Ärmel. Adeline wirkte wie ein mürrisches Kind.

"Wie sich das Blatt gewendet hat", sagte er amüsiert. Sie war immer für eine Überraschung gut, nicht wahr?

Eben noch versuchte sie, vor ihm zu fliehen, und im nächsten Moment hielt sie sich an ihm fest. Sie kniff mit Daumen und Zeigefinger in die Kante seines Ärmels.

"Wenn du so sehr wolltest, dass ich bleibe, liebe Adeline, hättest du jene Nacht um mehr betteln sollen", neckte er sie.

"Wie unhöflich", entgegnete sie.

Als er sich abrupt umdrehte und ihr seine roten Augen zeigte, wich sie nicht vor Angst zurück. Obwohl sein ungewöhnlich ruhiges Lächeln sie durchaus erschreckte. Er war der typische Mann, der selbst dem Tod ins Gesicht lachen würde.

Adeline verfluchte ihre verwünschte Hand. Sie ließ sie los, als hätte seine Berührung sie verbrannt. Er war unheimlich still, voller Geheimnisse und Sünden. Sie hätte weit, weit weg von ihm laufen sollen. In dem Moment, als er sie losließ, hätte sie in die Berge rennen sollen.

"Dein Name", sagte sie schließlich. "Du hast ihn mir in jener Nacht nie gesagt, und ich ..."

Sein Lächeln wurde breiter, seine Augen röter als frisch vergossenes Blut. "Ich habe dir meinen Namen gesagt, liebes Mädchen. Wie sonst sollte ich deinen kennen?"

Seine Stimme war ein sanftes Flüstern, sein Gesicht vorübergehend freundlich. Aber sein eisiger Blick ließ etwas anderes vermuten.

Ihre Finger zitterten. Sie hatte einen Fehler gemacht. Einen gewaltigen. Nicht nur, dass ein Mensch über seine Verhältnisse hinausgetreten war, sie hatte sich auch noch einen Vampir geangelt. Nun hatte sie einen weiteren Makel offengelegt.

In diesem Moment kam die Welt wieder in den Blick. Das Getuschel, die neugierigen Blicke, die erschrockenen Menschen. Die Hintergrundgespräche surrten wieder in ihren Ohren. Die Realität hatte sich ihr offenbart. Die Hierarchie hielt sie für ein verrücktes Mädchen, das sein Schicksal besiegelt hatte, indem es sich einen Vampir schnappte.

"Ich erinnere mich nicht mehr viel an jene Nacht", gestand Adeline. "Es tut mir leid ..."

"Warum stotterst du?"

Adeline erstarrte bei seinen Worten. Was für eine furchtbare Frage war das? Als sie aufblickte, begegnete sie seiner reinen Neugierde. Kein Urteil. Kein spöttischer Blick. Er war ernst.

"Als Kind hast du nicht gestottert", fügte er hinzu.

"Es ist nur eine schlechte Angewohnheit", erklärte sie.

"Ich verstehe."

Adeline runzelte die Stirn. Warum wirkte er enttäuscht? Die Luft wurde kälter. Oder vielleicht lag es an seiner einschüchternden Präsenz. Sein Schatten schwebte über ihrer kleinen Gestalt. Er könnte sie lebendig verschlingen, wenn er wollte. Und dennoch besaß er eine königliche Aura.

Er war atemberaubend schön. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden, selbst wenn er kalt zu ihr war. Sein rabenschwarzes Haar umrahmte seine Stirn, einige Strähnen fielen über seinen kultivierten Blick.

Es verhielt sich so, als ob die Welt sein Spielzeug wäre. Ein unerhörter Gedanke, wenn man bedenkt, dass dieses Privileg allein dem König zusteht.

"Bis zum nächsten Mal, Adeline", flüsterte er ihren Namen, als wäre es der Name eines Heiligen. Oder der Beginn eines Briefes an eine geliebte Person.

Als sie verwirrt blinzelte, lächelte er sie an und entblößte dabei perlweiße Zähne. Für einen winzigen Moment waren seine Eckzähne zu sehen.

Dann, wie in einem fiebrigen Traum, war er fort.

Und plötzlich erkannte Adeline eine erschreckende Tatsache – er kannte sie als Kind.- - - - -

"Ich wusste nicht, dass Ihr Wohltätigkeitsarbeit leistet, Eure Majestät", spottete Weston. 

Weston senkte beim Anblick des Königs den Kopf. In der Öffentlichkeit war er ein gehorsamer Beschützer. Im Privaten war er ein loyaler Freund. Ein züchtigender, nörgelnder Freund.

"All die Jahre des angesammelten Karmas, irgendwo muss ich ja anfangen", kicherte der Mann in Schwarz.

"Keine noch so große Wiedergutmachung wird die Sünde von Euren Händen waschen, Eure Majestät", knirschte Weston. Er benahm sich wie eine betrogene Ehefrau. Er stapfte vorwärts und entblößte seine Handflächen.

Eine Kronenbrosche ruhte auf seiner Hand. An der Brosche hingen goldene Ketten, an deren anderem Ende ein Rubin hing, der der Sonne nachempfunden war. In der anderen Hand befand sich ein roter Ranzen, der mit goldenen Stickereien umrandet war.

"Bitte", sagte Weston mit einer Stimme, die alles andere als bettelnd klang.

"Ah ja", schmunzelte der König. "Ich scheine das vergessen zu haben."

Weston bemühte sich, nicht zu strahlen. Aber er kam trotzdem ins Grübeln. Vergessen war eine Untertreibung 

Weston drehte sich nur kurz um, und das Zubehör wurde auf dem Stuhl abgelegt. Das Nächste, was er wusste, war, dass der König auf dem Boden des Ballsaals stand, und mit einem Wimpernschlag war er verschwunden.

Niemand hatte ihn durch den riesigen Tanzsaal in Richtung des offenen Balkons gehen sehen. Die Leute sahen nur Bruchstücke seines Gesichts, nachdem er einen schlanken Menschen in die Mitte der Tanzfläche gebracht hatte.

"Wer war das, Eure Majestät?" erkundigte sich Easton. 

In seiner Stimme schwang kindliches Staunen mit, und seine Augen weiteten sich. Vielleicht war das der Grund, warum die Mägde ihm immer Süßigkeiten und Schokolade zusteckten. Er hatte einen jungenhaften Charme, der sogar die oberste Magd umwarb.

"Sie hat uns gesehen, Eure Majestät", plapperte Easton weiter. "Das wäre unmöglich gewesen. Ich glaube nicht, dass sie nur ein Mensch ist."

Der König runzelte eine Braue. War das so? Wie interessant. Kein Wunder, dass sie immer wieder wegschaute. Er hatte angenommen, sie sei zu schüchtern, um ihm gegenüberzutreten;

Immerhin war er ziemlich gutaussehend, und Frauen erröteten immer in seiner Gegenwart. Er war mit dieser Behandlung vertraut.

Jetzt, wo er darüber nachdachte, war sie schon oft vor ihm rot geworden. Zuerst war es das Erröten ihrer Brust in jener Nacht, und jetzt war es bei fast allem, was er sagte. Ihre Haut war cremefarben und blass wie der erste Schnee, also konnte er es ihr nicht verübeln.

Adeline war eine Schatztruhe voller Geheimnisse, und er hatte vor, jedes einzelne davon zu lüften. Angefangen mit ihrem smaragdgrünen Kleid.

"Eure Majestät", jammerte Easton, als er merkte, dass er ignoriert wurde. Seine Lippen verzogen sich zu einem finsteren Schmollmund, und er sah den Monarchen mit Welpenaugen an. "Vernachlässigen Sie mich nicht so ..."

Der König verspürte den Drang, einen Welpen zu treten. Genauer gesagt, diesen braunhaarigen, zotteligen Hund, der vor ihm stand;

"Du und dein Bruder, ihr seid wie Tag und Nacht", bemerkte er kalt. Er musterte die beiden Zwillinge. "Aber nicht so schön und anmutig."

Weston öffnete den Mund, um zu sprechen, doch er wurde unterbrochen,

"Was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass ihr in meiner Gegenwart seid." Der König steckte die Brosche in seine Brusttasche, obwohl er es nicht nötig hatte. Jeder kannte sein Gesicht. Nur ein Dummkopf tat das nicht.

"Was hat das zu bedeuten?" flüsterte Easton seinem Bruder zu, die Brauen zusammengezogen.

"Es bedeutet, dass unser König schamlos ist und sich für den Schönsten im ganzen Land hält", witzelte Weston.

"Bin ich das nicht?", überlegte der König.

Weston presste die Lippen zusammen. Er bekam nicht genug Geld, um sich mit so etwas zu beschäftigen. In diesem Moment verflüchtigte sich die gute Laune des Königs - ein seltenes Phänomen - schlagartig. Die Wärme wich aus seinen Augen. Sein Gesicht wurde eisig.

"Wer zum Teufel ist das?", fragte er.

Weston und Easton wirbelten herum, neugierig, wen sie diesmal köpfen mussten. "Wo, wo?" fragte Easton wie ein verwirrtes kleines Kind.

"Dort", schnauzte sein älterer Bruder mit einem Fingerzeig.

Nach den stürmischen Gesichtszügen des Königs zu urteilen, wusste Weston bereits, wer dem Despoten die Laune verdorben hatte.

Ein großer, schlaksiger Mann mit breiten Schultern und anständiger Statur unterhielt sich mit einer Frau. Zum ersten Mal an diesem Abend zierte ein Lächeln ihr Gesicht. Sie hatte nie schöner ausgesehen, als wenn sie glücklich war.

Aber nichts von dieser Freude galt dem Mann, mit dem sie getanzt hatte.

Das kleine Reh des Königs war in die Falle eines anderen Raubtiers getappt. Und er war alles andere als erfreut.