Chapter 4 - Natürlich

Der König beobachtete ihre gesamte Unterhaltung. Ihre Lippen, weich wie Pfingstrosenblüten, bewegten sich mühelos. Ihre Augen glänzten, fast genau wie in jener Nacht, als sie sanft seinen Namen hauchte. Ein nie zuvor gekanntes Prickeln durchfuhr ihn. Er wollte sich ihr hingeben, solange die Nacht andauern würde, und genau das hatte er getan.

Adeline war so zerbrechlich, dass er sie zärtlich in Ehren halten wollte. Er hatte nicht vergessen, wie sie schmeckte und sich anfühlte. Ihre Nähe allein genügte, seine Sinne zu überwältigen. Sie war unwiderstehlich süß.

Das wunderschöne Flattern ihrer Wimpern, wenn sie schüchtern war, ihr erschrecktes Keuchen, das ihren Atem beschleunigte, und das Zittern ihrer Finger. Er sehnte sich danach, sie zu besitzen, sie gar zu verzaubern.

"Was für eine freche kleine Beute", sinnierte er.

Und doch stand sie dort, mit rosigen Wangen und großen Augen, die einem Mann gehörten, der nicht er war. Das war in Ordnung. Bald würde sie ihn anflehen.

Mit seiner Zunge strich er über eine Fangzahn. Er würde ihren Körper und ihre Seele in Besitz nehmen. Das stand fest.

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"Wer war der Mann, Adeline?" fragte Asher.

Sein Gesicht war gelassen, ungeachtet des Unwetters, das in seinem Blick aufzog. Er drehte sich nur um, um ihr einen Teller mit Kuchen zu bringen. Im nächsten Moment war sie verschwunden. Verzweifelt suchte er sie. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sie nicht finden konnte.

Unvermittelt führte sie ein Gentleman aufs Parkett. Er konnte sich diese Szene nicht vorstellen, nicht einmal im Traum.

Adeline Rose war mit Abstand eine der schönsten Damen auf dem Ball. Zumindest in seinen Augen. Von ihren wallenden Locken, die an Chrysanthemen erinnerten, bis zu ihren leuchtend grünen Augen glich sie einer raren Blüte in einem Feld von Blumen, die sich vergeblich daran versuchten, ihre Schönheit zu kopieren. Aber keine konnte sich wirklich mit ihr messen.

"Ich weiß es nicht", log Adeline. Sie lächelte ihn an, denn sie wusste, dass er nur um ihr Wohl besorgt war.

Asher war ihr Leibwächter. Er hatte jedes Recht, jeden Mann, der ihr Gesellschaft leistete, zu hinterfragen. Er musste für ihre Sicherheit sorgen, auch wenn es niemanden gab, der ihr nachstellte. Eigentlich war es eine lächerliche Aufgabe. Warum sollte sich irgendjemand um eine namenlose Frau wie sie kümmern?

Aber er bestand darauf.

Selbst nach dem Tod ihrer Eltern und ihrer Verbannung aus der Stadt folgte Asher ihr nach. Er war ihr Schild und ihr Schwert.

"Adeline", sprach Asher ernst, wie ein großer Bruder, der seine ungehorsame Schwester zurechtweist. "Ich habe deinen Eltern geschworen, dich zu beschützen. Du musst mir seinen Namen nennen."

Adeline zuckte bei der Erwähnung ihrer Eltern zusammen. Ihr Tod war kein herkömmlicher Todesfall gewesen. Schon als kleines Mädchen wusste sie, dass es sich um Mord handelte. Ein Jahrzehnt war seit ihrem Ableben vergangen, aber sie konnte die blutunterlaufenen Augen und die bleiche, violett verfärbte Haut nie vergessen.

"Adeline Mae Rose", sagte er mit tieferer Stimme.

"Ich weiß es wirklich nicht", seufzte Adeline laut. "Ich wünschte, ich täte es."

Ashers Hand zuckte. Ein schmerzhaftes Ziehen nagte an seiner Brust. Sie zeigte Interesse an einem anderen Mann. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. So lange Asher sich erinnern konnte, hatte sie sich immer in ihre eigene Welt zurückgezogen.

Adeline war gerade zwanzig geworden. Es war natürlich, dass sie nun endlich Interesse an Männern zeigte. Doch aus irgendeinem Grund wollte sein Herz nicht mitspielen. Die ganze Zeit, die sie mit diesem Fremden tanzte, empfand er eine seltsame Bitterkeit. Er spürte den Drang zu töten.

Seine Blutlust war stark, doch er verbarg sie. Seine Blutlust war immer intensiv, wenn es um Adeline ging.

Um seiner geliebten Blume willen verbarg er alles vor ihr.

"Das ist in Ordnung", sagte Asher letztendlich. "Ich habe mich ungebührlich verhalten, Prinzessin. Es tut mir leid."

Adeline runzelte vor Schuldgefühlen die Stirn. Unsicher rutschte sie in ihren Schuhen hin und her und verschränkte ihre ängstlichen Finger. Sie mochte diesen Titel nicht. Er gehörte ihr nicht mehr.  Trotz des königlichen Blutes, das in ihren Adern floss, war sie nun eine Niemand.

Dieser Kontinent wurde von einem einzigen König beherrscht, Seiner Königlichen Majestät. Jeder andere, der über die Städte mit Ausnahme der Hauptstadt herrschte, waren bloße Kronprinzen oder Kronprinzessinnen - nichts weiter. Sie konnten niemals König werden.

"Jeder hat dich beobachtet, Prinzessin", bemerkte Asher.

Adeline schluckte.  Sie hatte ein dickes Fell, daher war sie an die Blicke und das Getuschel  gewöhnt. Nach dem Tod ihrer Eltern durch Vergiftung war es jahrelang so gewesen. Mitleidige Lächeln, besorgte Blicke – sie ärgerten sie. Es gab nicht viele Dinge, die sie störten, aber falsches Mitleid gehörte definitiv dazu.

"Du weißt, dass ich diesen Titel nicht mag", entgegnete sie, wobei ihre Stimme nicht mehr sanft und freundlich war.

Asher hielt inne und betrachtete ihren Gesichtsausdruck, bevor er sich zum nächsten Schritt entschied. Ihre sanften Brauen waren gefaltet, ein feuriger Blick lag in ihren zarten Augen, ihre Lippen waren schmal.

"Ich verstehe", dachte er bei sich. "Sie ist verärgert."Asher war sich bewusst, dass es sich nicht ändern ließ. Trotzdem hatte sie ihn heute verstimmt. Es war nur fair, wenn er den Gefallen erwiderte.

Asher hatte eine Grenze überschritten. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, und für ihn, der ihr so vertraut war, war dies offensichtlich. Doch am liebsten hätte er ihr Herz geöffnet.

"Ich bitte um Entschuldigung, Adeline. Doch ich bin dein Leibwächter und nicht dein Freund", sagte Asher bedächtig. Er maßregelte sie aus Liebe, nicht aus Ärger. "Du musst verstehen, dass mir dein Wohl am Herzen liegt."

Adeline war verletzt. Seine harten Worte trafen sie tief - nicht ein Freund. Wie konnte sie das übersehen? Ihre Beziehung war, was immer auch zwischen ihnen gewesen sein mochte, auf bloße Bekanntschaft geschrumpft. Sie hasste es nicht. Sie hatte sich damit abgefunden.

Trotz ihrer getrübten Stimmung zwang sie sich zu einem Lächeln. Doch in ihren Augen wirkte es mehr wie eine Grimasse. Sie wollte ihn nicht verärgern, nicht hier, inmitten gedämpften Gesprächs und eleganter Musik.

Adeline suchte schnell nach einer Ablenkung von diesem unangenehmen Gespräch. Tante Eleanor war weit und breit nicht zu sehen, und sie zog es vor, das nicht anzusprechen.

Schließlich fiel ihr Blick auf etwas Interessantes.

"Was ist das?" fragte Adeline.

In Ashers Hand hielt er etwas, das angesichts seiner Statur und Persönlichkeit fehl am Platz wirkte. Er war kräftig, mit durch regelmäßiges Training gestählten Muskeln. Ein erwachsener Mann wie er mit einem Teller Kuchen wirkte so kurios, dass ihr Lächeln breiter wurde. Schließlich wurde ihre Freude echt.

"Ein Stück Kuchen", antwortete Asher verlegen.

Plötzlich war Ashers Frustration wie verflogen. Von ihrem bezaubernden Charme hingerissen, wurde er zu einem hilflosen Tollpatsch. Er konnte nichts dagegen tun, sie rief immer diese beschämende Seite in ihm hervor.

"Für mich?" fragte Adeline keuchend, ihre Augen wurden weitaufgerissen.

Da war es, ihr kindliches Staunen. Für einen Moment war er gefangen von ihren weichen, schönen Gesichtszügen. Ihm stockte der Atem.

"Natürlich", stotterte Asher. Innerlich verfluchte er sich. Nie würde er in ihrer Gegenwart fluchen. Nichts konnte ihn dazu bewegen, ihre Ohren so zu beleidigen.

Asher räusperte sich. "Viscountess Eleanor hat dir zwar diese entsetzliche Diät auferlegt, aber sie ist gerade von einer Schar tratschender älterer Damen abgelenkt. Deshalb habe ich dein Lieblingsgebäck besorgt."

Es war offensichtlich. Adelines düstere Stimmung war verschwunden, als wäre sie nie dagewesen. Wenn sie wahrhaft glücklich war, hellten sich ihre Augen auf und erinnerten an sanftes, saftiges Gras an einem Regentag.

Er war verzaubert. Ganz und gar.

"Darf ich es haben?" fragte Adeline aufgeregt.

Asher schluckte schwer. Wenn Adeline so zu ihm aufsah, wollte er sie vor allen anderen verstecken. Er träumte davon, sie weit weg von diesem Kontinent zu bringen. Vielleicht würde sie dann immer so lächeln.

"Selbstverständlich", sagte Asher. "Wem sonst sollte ich diese Zitronen-Baiser-Tarte geben?"

Adeline streckte ihre Hände aus. Sie lagen zusammengepresst da, als würde sie einen nationalen Schatz in Empfang nehmen. Ihr Herz schlug vor Freude.

Sie war am Verhungern. Den ganzen Vormittag und Nachmittag hatte Tante Eleanor ihr Essen verwehrt, nur damit sie in das hautenge, elfenbeinfarbene Ballkleid passte. Alle Umstehenden waren in prächtigen Farben gekleidet, der Ballsaal ähnelte einem Regenbogen, doch Adeline bevorzugte das Schlichte und Einfache.

Es war das, was ihre Mutter bevorzugte. Und so war es auch für sie.

"Danke", sagte Adeline mit Dankbarkeit in der Stimme.

Adeline nahm die Dessertgabel von ihm entgegen. Sie war klein und nicht länger als ein Männerfinger. Unverhohlene Vorfreude zeigte sich, als sie mit dem Utensil in das saftige Gebäck stach.

Adeline führte die Gabel an den Mund, und sofort brach das säuerliche und pikante Geschmackserlebnis über ihre Zunge herein. Sie schloss die Augen und stöhnte erleichtert. Es war köstlich. Ihre Schultern entspannten sich in purer Ekstase.

"Es ist köstlich", seufzte Adeline sehnsüchtig.

Als unschuldige Frau war sie sich der brennenden Blicke, die ihre Bewegungen verfolgten, nicht bewusst. Noch konnte sie sich die Gedanken vorstellen, die in ihren Köpfen vor sich gingen. Vier Personen hatten ihre Aufmerksamkeit auf sie gerichtet.

Adeline war völlig ahnungslos. Vor allem ahnte sie nicht, welche ungezügelten Absichten sie in diesem Moment entblößen wollten.