In der Ferne stand Kaden mitten im öffentlichen Gedränge. Wortlos beobachtete er die beiden.
Kaden ließ sich von Everett, der als Konkurrenz ein schlechter Scherz war, nicht beeindrucken. Er war so sicher seines Sieges wie ein gestandener Feldherr auf dem Schlachtfeld.
"Wow, schau dir den Mann an..."
"Er sieht echt gut aus. Denkst du, er ist ein Star?"
"Ich bin schon verrückt nach so vielen Idolen, aber für ihn würde ich alle fallen lassen."
Kaden ignorierte das Getuschel und die Blicke. Sein ganzer Fokus lag auf Lina, die vor dem einzigen Gemälde stand, das er je geschaffen und an das er sein Herz verloren hatte.
Er beobachtete, wie sie die Hand an ihren Hals legte und zu Boden blickte. Selbst aus der Entfernung konnte er erkennen, dass sie bewegt und emotional aufgewühlt war.
Die einzige Frau, die er je porträtiert hatte.
Kaden begann zu ahnen, dass dies kein bloßer Zufall war. Ihre Art, ihn wiederzuerkennen, ihre Furcht vor ihm und die Tatsache, dass sie ihn mit "Eure Hoheit" angesprochen hatte – er war kein Narr.
"Chef, Sie sollten drinnen nicht rauchen", flüsterte Sebastian und blickte auf die Zigarette, die gefährlich locker zwischen den Fingerspitzen seines Chefs hing. Die Asche war am Glimmen, der Rauch wallte zur Decke hinauf, doch sein Chef hatte noch keinen Zug getan.
Kaden bemerkte, dass Lina sich weiter im abgesperrten Bereich bewegte und verschiedene Artefakte besichtigte. Dann stieß sie auf ein langes, schmales Schwert.
Ein spöttisches Grinsen umspielte seine Lippen. Allein der Anblick der Waffe genügte, um sie erstarren zu lassen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht.
"Scheiße." Kaden richtete sich auf, warf seine Zigarette zu Boden und trat sie aus. Für den Schaden würde er später aufkommen.
Ohne Vorwarnung verließ Lina den abgetrennten Bereich. Sie war auf der Flucht.
Everett kam nicht einmal in die Nähe, sie einzuholen. Er stand da wie ein Narr und zeigte nicht einmal den Anstand, ihr nachzulaufen.
"Chef!" keuchte Sebastian, als sein Chef plötzlich losstürmte – wie ein Mann auf einer Mission.
Der Chef sah aus, als wäre er auf einen Amoklauf aus. Die Atmosphäre wurde gespannt und erstickend.
Was war hier im Gange?!
- - - - -
Lina lief, so weit ihre Beine sie trugen. Schließlich befand sie sich tief im Museum, an einem von Menschen wenig frequentierten Ort. Sie erkannte, dass sie sich im Flur befand, der zu den Toiletten führte.
Mit schwerem Atem hielt Lina die Tränen zurück, als Erinnerungen aus ihrem früheren Leben vor ihren Augen aufblitzten. Sein warnender Blick, sein Spott, das Schwert an ihrem Messer und der Schwung der Klinge, während Blut spritzte und zwei Männer schrien.
"... Prinzessin!"
"... Lina!"Obwohl tausend Jahre vergangen waren, hallten ihre Stimmen in Linas Ohren nach. Sie rang nach Luft, hielt sich die Ohren zu und wimmerte. Die Art, wie sie sie angesehen hatten, ihr elendes Brüllen, der heftig fallende Regen und das Ersticken an ihrem eigenen Blut konnte sie nicht vergessen.
Plötzlich packten starke Hände ihre Schultern, und Lina schrie entsetzt auf. Die Hände rüttelten sie grob, und ihr Kopf schnellte hoch. Hass. Sorge. Angst. Augen in Goldtönen blickten sie an, erfüllt von denselben Emotionen wie an jenem entsetzlichen Morgen.
"Kade...", hauchte Lina verwirrt und ihr gaben die Beine nach, doch er fing sie auf.
Er hielt sie an seiner Brust fest, seine Arme umschlossen ihren zitternden Körper. Er drückte seine Handfläche gegen ihren unteren Rücken, zog sie an sich heran.
"Shh... ich bin da", flüsterte er sanft und achtete darauf, sie nicht zu berühren. Er war stets vorsichtig mit ihr.
"Es tut mir leid", keuchte Lina, klammerte sich an sein Hemd, an die vertraute Wärme.
Er duftete nach ihm, roch nach Vergangenheit. Seine Berührung, sein Streicheln, seine Zuneigung...
All das kehrte zu ihr zurück.
Lina wusste, dass sie sich hoffnungslos verliebte, schnell und tief.
"Wofür, mein liebes Täubchen?" murmelte er, während er ihr über den Hinterkopf strich. So weich, wie er in Erinnerung hatte. Ihr zierlicher Körper zitterte wie trockenes Laub im Wind.
Sein strenger Blick erweichte, als sie ihr Gesicht in seine Kleidung schmiegte.
"Kade..."
Kaden hätte schwören können, dass sein Herz in jenem Moment stehen geblieben war. Er hätte schwören können, dass sich etwas in seiner leeren Brust bewegte. Verdammt. Er war einer der kältesten Männer in der Stadt, aber dieses verdammte Herz setzte aus, als sie wimmerte.
"F-für..."
Lina erstarrte plötzlich. Sie wurde sich ihrer Umgebung bewusst. Der Kosename, den nur er verwendete. Nicht, weil sie so friedlich wie eine Taube war. Nein, sie war viel schlimmer.
"Lass mich los!" Lina stieß ihn zurück, ihre Augen weiteten sich beim Anblick von Kaden. Für einen Moment dachte sie, er sei Kade, der zweite König von Ritan. Aber damals, als sie noch jung waren, war er nur ein vergessener Prinz und sie eine bevorzugte Prinzessin.
Kaden stolperte nicht einmal. Er stand fest und ungerührt. Doch er vernahm die Dringlichkeit in ihrer Stimme und wich zurück. Er wunderte sich über ihre Tränenlosigkeit, nahm aber an, dass sie sie einfach gut unter Kontrolle hatte. Es sei denn, es ging um ihn, natürlich.
"Was machst du hier?" fragte Lina und drückte ihren Körper gegen die Wand, auf Distanz bedacht. Eine Frage nach der anderen schoss ihr durch den Kopf. Hatte er sie gehört? Hatte er gehört, wie sie ihn Kade nannte? Wusste er davon?
"Einer Dame in Not beistehen", sagte Kaden unbekümmert.
Lina starrte ihn ungläubig an. Kaden lachte belustigt.
"Ich bin keine Dame in Not", entgegnete Lina.
"Und ich bin kein dunkler Ritter, der zur Rettung eilt", erwiderte Kaden.
Lina runzelte die Stirn, ihr Blick voll Bestürzung. Bei ihrem Anblick kräuselten sich Kadens Lippen.
"Normalerweise heißt es doch der Prinz in glänzender Rüstung...", murmelte Lina.Lina berührte zögerlich ihren Hals. Keine Narbe, keine Wunde war zu fühlen. Sie war wohlauf, ihr Herz schlug wild, wie das eines Pferdes in freier Wildbahn – eine Redewendung, die in der modernen Zeit niemand mehr gebrauchte.
Tränen füllten ihre Augen. Lina sehnte sich nach Hause zurück, zurück zu der Burg, wo sie jeder liebte. Doch der Geschichte nach war ihr Zuhause zerstört und verbrannt worden.
Jetzt war Lina die in Vergessenheit geratene Prinzessin, und er war der bevorzugte Prinz.
"...Kade."
Erschrocken wandte Lina den Kopf zu ihm. Sie war so von der Rolle, dass ihr die Worte fehlten. Seine Kiefermuskeln waren angespannt, sein Blick kalt. Er hatte etwas gesagt, was sie zunächst überhört hatte.
"Du hast mich Kade genannt", wiederholte Kaden.
Lina blinzelte. "Ich meinte... Kaden..."
"Ich bin nicht so dämlich wie dein kleines Blind Date", sagte Kaden mit trockenem Unterton, musterte sie von oben bis unten, wobei sein Blick auf ihren entblößten Beinen verweilte. Sie presste ihre Beine zusammen und zog den Blazer eines anderen Mannes enger um sich.
Sein Blick wurde intensiver.
Wem gehörte er?
Unvermittelt packte Kaden den Blazer, sie stieß einen Schrei aus. Er zog sie an sich heran.
"Zieh ihn aus", befahl Kaden.
"Aber—"
"Jetzt!"
Lina wurde bewusst, wie verrückt die Situation war. Die Art, wie er sie ruhig anwies, der strafende Ausdruck in seinem Gesicht und sein fester Griff am Blazer – das alles ließ ihre Knie weich werden.
"Mir ist kalt", sagte Lina emotionslos.
"Ich werde dich aufwärmen."
"Wie denn?" entfuhr es Lina.
Kaden betrachtete sie genau. Ein langsames Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
"Wie sonst, soll ein Mann eine Frau aufwärmen?" fragte Kaden mit tiefer, verschlagener Stimme.
Lina wollte es wissen. Sie sah ihm in die Augen, und ihr Herz machte einen Sprung. In ihrem Innern loderte ein Feuer. Er berührte sie nicht einmal, doch sein begehrender Blick entblößte sie gleichsam. Er umspielte ihre Haut mit Wärme.
"Der Blazer gehört meinem Bruder", gestand Lina letztlich.
Kaden hielt inne, sein Blick wechselte kurz zum schwarzen Blazer, den er genau musterte. Er war deutlich zu groß für den Körperbau von Everett, doch hing trotzdem locker an ihren Schultern. Sie sagte also die Wahrheit.
"Von denselben Eltern?" hakte Kaden nach.
Lina nickte unsicher.
Kaden entspannte sich ein wenig. "Gut."
"Gut", wiederholte Lina.
"Fantastisch", sinnierte Kaden.
"Wunderbar..."
Kaden verengte die Augen. Hielt sie das alles für ein Spiel? Ihre Wimpern flatterten, sie wand den Blick ab, errötete bei der Erkenntnis ihres Fehlers. Ihm gefiel diese Röte. Sie breitete sich über ihren Hals und ihre Brust aus, gleich einem Erröten in der Ekstase.
Plötzlich machte Lina einen Schritt nach links, offensichtlich mit der Absicht zu fliehen.
Mit einem Schlag seiner Hand gegen die Wand versperrte Kaden ihr den Weg. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem muskulösen Arm entfernt. Sie drehte sich, und er platzierte seine andere Hand neben ihr. Er schloss sie ein, sein Gesicht kaum von dem ihren entfernt.
"Du erinnerst dich an mich, nicht wahr?" forderte Kaden.
Ihre Augen weiteten sich. Sie wirkte wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
"Sicher erinnere ich mich. Du bist jetzt schon zweimal ungeladen bei meinem Date aufgetaucht", gab Lina mit zitternder Stimme zurück.
Lina atmete tief ein, um ihre wilde Herzschlag zu beruhigen, bereute es jedoch sofort. Sein natürlicher Duft überwältigte sie, kraftvoll und dominierend. Wie sollte sie ihm entkommen, wenn jeder ihrer Schritte sie zu ihm zu führen schien?
Lina versuchte vergeblich ihr widerspenstiges Herz zu bändigen.
"Wir haben uns mindestens dreimal getroffen. Warum sollte ich dich vergessen?" fügte Lina hinzu.
Ein leises Grinsen zeigte sich in den Mundwinkeln Kadens.
"Du führst Buch?" neckte Kaden.
Linas Gesicht wurde noch röter, als sie ertappt wurde.
"Nicht wirklich", antwortete Lina.
"Sicher…" zog Kaden genüsslich in die Länge und beobachtete, wie sie noch verlegener wurde.
"Dann lass mich meine Frage anders stellen", sagte Kaden langsam und fixierte sie, herausfordernd sie zu belügen.
"Erinnerst du dich an mich, aus einem anderen Leben?" stieß er heraus.
Und augenblicklich verlor Linas Gesicht alle Farbe.