Stille erfüllte die Runde. Das Rauschen des Windes übertönte den Garten. Lina musterte Kaden, als hätte er den Verstand verloren, und Everett sah aus, als stünde er kurz davor, den seinen zu verlieren.
"Herr DeHaven, da müssen Sie sich irren", sagte Everett, legte eine unschuldige Hand auf seine Brust und zeigte ein verschlagenes Lächeln. "Ich bin nicht derjenige, der einem Pärchen nachstellt, in der Hoffnung, die überbleibsel auflesen zu dürfen."
Kaden wandte sich nur mit einem warnenden Blick Everett zu. Everett zuckte mit den Lippen, seine Augen huschten zu Lina hinüber, als könnte der Anblick ihr etwas Zuversicht verleihen.
"Und wer sagt, dass ich zu Ihnen spreche?", erwiderte Kaden und hob fragend die Augenbraue.
Everett versteifte sich und bemerkte nicht, dass er sich gerade selbst ins Knie geschossen hatte. Er war automatisch davon ausgegangen, dass der junge Herr DeHaven mit ihm sprach.
Kaden lachte leise, warf einen letzten Blick zu Lina und entfernte sich.
Lina konnte nicht umhin, Kaden anzustarren. Seine entschlossenen Schritte, seine kraftvolle Haltung und sein gleichgültiger Blick, alles kam ihr so bekannt vor. Seine Muskeln zeichneten sich unter seinem Hemd ab und enthüllten jede Linie seiner Stärke.
Als Kaden schließlich am Eingang angekommen war, hielt er inne und sah zu ihr zurück. Ihre Augen weiteten sich, ertappt beim Starren. Ein Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen.
Linies Herz hämmerte, als seine haselnussbraunen Augen die ihren trafen. Als wolle Kaden sie einwickeln, tänzelte sie einen Schritt in seine Richtung. Seine Aufmerksamkeit war wie ein Sirenengesang, der Seeleute verzauberte, und sie war sein gewilltes Opfer.
"Fräulein Yang?"
Lina schreckte auf, die Trance war unterbrochen. Selbst aus der Ferne konnte sie Kadens leises Lachen vernehmen. Ihr Magen kribbelte. Sie fragte sich, wie er aus der Nähe klingen würde, dann errötete ihr Gesicht bei der Vorstellung, wie frivol das klang.
"Sicherlich werden Sie nur eines von hunderten Blind Dates sein, die ich in der Winterpause habe", sagte Lina und nahm Everetts Visitenkarte aus Höflichkeit entgegen. "Also tun Sie besser so, als hätten Sie mich vergessen."
Ohne ein weiteres Wort oder einen weiteren Blick zog sich Lina zum Ausgang des Gartens zurück und stellte fest, dass Kaden verschwunden war. Sie hasste die Enttäuschung, die auf ihren Schultern lastete. Vor allem hasste sie die Tatsache, dass sie erwartet hatte, er würde auf sie warten.
"Aber das werde ich nicht", sagte Everett.
Lina gab keine Antwort. Sie ließ den Erben einer der großen Drei Anwaltskanzleien stehen wie einen Narren.
Lina schritt durch die erleuchteten Korridore, vorbei an prunkvollen Gemälden und funkelnden Kronleuchtern, in der Hoffnung, sie müsste nur um die Ecke gehen, um Kaden wieder zu begegnen.
Doch er war fort. Und sie musste sich fragen, ob sie erneut in seine Falle getappt war.
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"Sie sucht nach Ihnen, Boss." Sebastian beobachtete aus der Ferne, wie die junge Frau nach links und rechts blickte, jedoch auf geheimnisvolle Weise, als suche sie nach der richtigen Richtung.
"Wie sie sollte", gab Kaden zurück, lehnte sich an sein Auto und zog an seiner Zigarette.
Seine Augen funkelten, als der Rauch das Sichtfeld trübte, die Zigarette hing gefährlich zwischen seinen Fingern.
Als Kaden ihr süßes Gesicht sah, atmete er tief ein, und als er ihren sanften Körper sah, wie er suchend kreiste wie ein verirrtes Lämmchen, zog er noch einmal und wieder und wieder, so oft, bis sein Verlangen nach ihr gestillt war. Doch je mehr er inhalierte, desto mehr begehrte er sie.
Das Flattern ihrer Wimpern, das Zögern in ihrem Blick, ihre Fluchtbereitschaft – er begehrte sie wie ein Mann das Wasser in der Wüste. Er wollte sehen, wie weit sie zu laufen bereit wäre, wie weit sie ihre Flügel ausbreiten könnte und wie entzückend sie in seinen Armen wirken würde.
"Sollte ich sie zur Präsidentensuite führen, Boss?" fragte Sebastian. Dort residierte sein Boss gewöhnlich, wenn sie dieses Hotel besuchten.
Kaden stellte sich ihre zögerliche Haltung vor, als sie Sebastians Absichten missverstand. Er konnte sich das Feuer in ihren Augen und die Kühle ihrer Worte vorstellen.
"Nicht nötig", sinnierte Kaden. "Sie wird bald von selbst zu mir kommen."
Sebastian fragte nicht weiter. Das musste er auch nicht. Die Worte seines Bosses waren absolut. Einmal ausgesprochen, wurden sie nicht zurückgenommen. So handhabte Kaden die Dinge immer. So hatte Sebastians Großvater ihm gesagt, würde der Boss sich verhalten.
"Jawohl, Boss", antwortete Sebastian und bemerkte, dass die Zigarette rasch zur Neige ging.Wie merkwürdig. Der Boss rauchte selten, und wenn er rauchte, dann nur, weil ihn etwas verstimmt hatte. Und selten war er so schnell mit der Zigarette fertig.
Sebastian fragte sich, warum.
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Lina verließ das Hotel und schaute unbewusst nach der schwarzen Limousine, die sie vor den Toren der Universität abgesetzt hatte.
Aufhorchend erblickte Lina ein schwarzes Fahrzeug, stieß jedoch einen enttäuschten Seufzer aus, als sie erkannte, dass es ihr Fahrer war. So viel also zum Thema Abstand von Kaden halten...
Lina verstand nicht, warum sie sich immer stärker zu Kaden hingezogen fühlte. Sie sagte sich immer wieder, dass er nichts Gutes im Sinn hatte und dass ihre Zukunft mit ihm finster aussehen würde.
Die Menschen waren stets vom Unerreichbaren angezogen, und für sie war er ein wandelnder rotes Tuch.
"Gnädiges Fräulein...", begrüßte sie der Fahrer und verneigte sich respektvoll, als er die Tür für sie öffnete.
"Danke", sagte Lina und glitt in das Auto, ohne zu bemerken, dass ein weiteres in der Ferne geparkt stand und sie beobachtete.
Während der Fahrt in Richtung des Zweiten Herrenhauses starrte Lina aus dem Fenster, ihre Finger fest ineinander verschränkt, mit den Gedanken an das, was das Zweite Herrenhaus für sie bedeutete.
Bald kamen sie an ihrem Ziel an und der Chauffeur öffnete die Tür. Lina stieg wortlos aus. Sie ging den langen Weg zum Eingang entlang.
Niemand da, um sie zu begrüßen, niemand, der ihr willkommen hieß. Das hätte sie wissen müssen.
Lina ging wortlos durch das Haus, die lange Treppe hinauf, die zu ihrem Zimmer führte, und bog dann in den Flur ein. Plötzlich hielt sie eine Stimme auf.
"Gehst du nicht zum Essen runter, um Mama zu begrüßen?"
Lina drehte sich zu der zögerlichen Stimme ihres jüngeren Bruders um und schenkte ihm ein mildes Lächeln, doch er sah sie enttäuscht an.
"Du kannst ihr meine Grüße ausrichten, Milo", sinnierte Lina.
Milo schnaubte, verschränkte die Arme und starrte auf ihre Kleidung. "Und wie lauten deine Grüße?"
"Das Blind Date war ein Desaster."
"Nun, wenn du dich kleidest wie eine Werberin für einen Uni-Club, ist es kein Wunder, dass das Date ein Reinfall war."
Lina lachte über Milos genervten Ton. Er war immer der Nörgler, obwohl er zwei Jahre jünger war als sie.
"Überbringe ihr einfach die Botschaft", sagte Lina. "Als Übermittler wird Mama dich nicht strafen."
"Nein, aber sie wird mir die Ohren abkauen, und das kommt einer Hinrichtung gleich", überlegte Milo.
Lina kicherte, sagte aber nichts weiter. Sie war erschöpft von den Ereignissen des Tages. Sie trat in ihr dunkles, tristes Zimmer ein, ließ das Licht aus und ließ sich aufs Bett fallen, während sie die laute Stimme ihrer Mutter von unten hörte.
"Welch undankbares Miststück! Ich presse sie unter Blutschreien aus meinem Leib und so dankt sie es mir? Begreift sie denn nicht, was für eine Mühe es war, sie mit dem Erben zu verkuppeln?!"
Lina schloss die Augen, der Schlaf überrannte sie. Sie war längst daran gewöhnt, beim Geschrei ihrer Mutter einzuschlafen.
"Nichts, was sie tut, ist richtig! Bei allem, was sie anpackt, stellt sie sich dumm an. Das Einzige, um das ich sie im Leben bitte, und sie kriegt es nicht mal richtig hin!"
Lina spürte, wie sie in das Traumland abdriftete, wo ein vertrauter Mann mit bernsteinfarbenen Augen auf sie wartete.