Mit vierzehn Jahren konnte Tania bereits fünf der sieben alten Sprachen lesen. Mit siebzehn beherrschte sie mühelos das Lesen und Schreiben in allen sieben Sprachen. Menkar hielt diese besondere Fähigkeit von ihr geheim und verbot ihr, mit anderen darüber zu sprechen. Sie verstand nicht, warum. Hätte er ihre Fähigkeit bekannt gemacht, wäre sie für viele ältere Schamanen im Kloster von Nutzen gewesen. Sie brannte darauf, es anderen zu zeigen und so etwas wie Anerkennung zu erlangen, doch Menkar hatte einen Bann auf sie gelegt, der es ihr untersagte, ohne seine Erlaubnis davon zu erzählen. Stattdessen wies er seinen Chefspion an, sie in der Kunst der Spionage zu unterweisen – eine Tätigkeit, die sie sehr verwunderte.
Nach ihrem Meister lernt man am besten durch praktische Erfahrung, und so wurde Tania ausgeschickt, um Prinz Rigel auszuspionieren. Wenn sie erfolgreich war, würde sie ihre Freiheit erlangen. Ein großartiger Handel, wie sie fand.
Sie zuckte zusammen, als sie auf eine Eichel trat. Sie hob das Bein und entfernte die nasse Eichel, während sie den dunklen Wald absuchte. Sie blickte nach Westen und setzte ihren Lauf fort. Tania sprang über einen gefallenen Baumstamm. Sie rutschte auf dem schlammigen Boden aus, konnte sich aber an einem Baum festhalten. Sie verlor kostbare Zeit und ihre Angst wuchs. Der Wald verdichtete sich, und das Laubdach war so dicht, dass kein Sonnenstrahl mehr hindurchdringen konnte. Der Wald erstreckte sich über die Hügel, die Bäume wechselten von Zypressen zu Eichen zu Kiefern, von schmal zu dick, von hoch zu klein. Dicht verworren mit dichtem Gestrüpp und grünen, moosüberzogenen Felsen.
Der Wind heulte und flüsterte durch die Bäume und trug den Duft von Nebel, Moos und feuchter Erde mit sich. Es war, als würde der Wald atmen, als hätte er eine Seele.
Die Wärme der Luft nahm ihr fast den Atem. Es war schwierig, sich zu orientieren, auch wenn der Mond bereits hinter dem Horizont verschwunden war.
Plötzlich grollte in der Ferne ein Donner. Graue Wolken sammelten sich am Himmel.
Angst stieg in ihr auf. Was, wenn ihr eine Bestie in der Wildnis begegnen würde? Sie besaß nicht einmal einen Dolch zu ihrem Schutz. Sie stolperte über einen Felsen und fing sich sofort wieder. Nachdem sie lange gelaufen war, war sie schweißgebadet und atemlos. Sie lehnte sich an einen moosbedeckten Baumstamm, ihr Herz schlug heftiger, während der beißende Geruch von Angst in der Luft lag. Sie sah sich um, um zu erkennen, wo sie war, doch alles, was sie sehen konnte, waren Bäume, bergige Felsen und mit Brombeeren gesprenkeltes Grasland bis zu den nördlichen Ausläufern.
Ihr Blick durchdrang die Dunkelheit, und sie sah die imposanten Schwarzzahnberge. Ihr höchster Gipfel glich einem schwarzen Wolf, der den Mond anheult. Tania hatte genügend Karten studiert, um zu wissen, dass sie sich nun im Eslam-Wald im Nordosten des Drakar-Königreichs befand. Die Königreiche Cetus und Pegasii lagen in der Ferne – jedoch meilenweit entfernt.
Tania lehnte sich an einen Baum, während Panik sie ergriff. Sie war noch fern von Cetus. Plötzlich erklang ein tiefes Grollen aus dem Wald; ihre Haut war von eiskalter Furcht überzogen. Der Boden erzitterte, Felsbrocken wackelten, und sie erstarrte. Ihre Knie waren wie gelähmt, zu ängstlich, um sich zu bewegen, denn sie wusste, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, wenn sie davonrannte.
Ein Donner grollte durch den dunklen Wald. Dann ein Blitz. In diesem Lichtblitz zuckte ein makellos weißer Blitz durch das Dickicht der Bäume. Aus dieser Entfernung konnte sie nur einen kurzen Blick darauf werfen: Rauchschwaden, die ein- und ausströmten.
Fassungslos entwich ihr ein keuchender Atemzug. Langsam – ganz langsam – erhob sie sich. Der weiße Nebel schlängelte sich über den schmalen, unebenen Pfad. Alles, was sie denken konnte, war, ihm zu folgen, während jeder Instinkt in ihr brüllte: 'Lauf weg!'
Fasziniert rannte Tania auf den Pfad zu. Sie lief, sprang über spitze Steine, Äste und Dornen. Dann und wann erhaschte sie einen Blick auf ihn, während das Donnern sie verfolgte. Als sie dem weißen Spritzer bis zu einer Lichtung gefolgt war, raubte ihr der Anblick dort den Atem.Das Tier war wunderschön, ein prächtiges geflügeltes Pferd. Der Geist von Pegasii. Es hielt an und drehte seinen Kopf zu ihr. Es schlug mit seinen schneebedeckten Flügeln, während sich weißer Rauch von seinem Körper löste und es ätherisch aussehen ließ. Wie konnte die Welt etwas so Schönes in sich tragen? Es schlug mit den Hufen auf den Boden und rannte davon. Auch Tania rannte ihm hinterher.
Die Wolken brachen mit einem weiteren Donnergrollen auf und es begann heftig zu regnen.
Sie wusste nicht, wie lange sie rannte, aber der Regen machte es schwieriger, den matschigen Boden zu betreten. Dennoch lief sie weiter, folgte dem Geist, konnte ihren Blick nicht abwenden, konnte der bizarren Anziehungskraft nicht widerstehen. Sie war fasziniert, angezogen und gefesselt. Sie wollte ihn erreichen, ihn berühren und den geheimnisvollen Pegasus spüren.
Plötzlich hüpfte das Pferd und sprang über einen Felsen. Auf der anderen Seite blieb es stehen, als ob es auf sie warten würde. Ermutigt machte Tania den gleichen Sprung - doch ein Luftstoß warf sie zurück. Mit einem Stöhnen schlug sie auf dem Boden auf.
Sie versuchte es erneut und hüpfte über den Baumstamm - doch diesmal traf sie die Wucht härter am Rücken.
Ihre schmerzerfüllte Stimme hallte wider, als sie in ein Dickicht prallte. Ihr Kopf prallte gegen einen Felsbrocken; warme Flüssigkeit rann an ihrer Haut hinunter. Ein metallischer Geschmack kroch auf ihre Zunge, und ihr Bewusstsein schwand. Durch den dichten Schleier vor ihren Augen sah sie, wie der Geist davonraste.
Tania schloss die Augen und begrüßte die Dunkelheit, die sie einhüllte.
Als sie die Augen wieder öffnete, tat ihr der Kopf weh. Sie schrie auf, als sie ihren Hinterkopf erkundete. Stimmen aus der Ferne durchdrangen die Dunkelheit.
Das Knallen einer Peitsche oder eines Rohrstocks hallte gegen etwas Metallisches, und ihre Augen flogen auf. Tania befand sich in den Kerkern von Cetus.
Eine dunkle Stimme ertönte.