Es war ein Spektakel. Kaidens gerötetes Auge, voller kullernder Tränen, bewunderte die grelle, hinausstechende Barriere, die mit jedem Augenblick noch anziehender schien. Doch die Bewunderung drohte zu schwinden, und sein trauriges, doch lächelndes Gesicht schien sich langsam zurückzuziehen. Eine laute Stille durchbrach die ansonsten dunkle Nacht.
„Warum weinst du denn jetzt?", fragte der Pfleger mit einem verwirrten Blick, sichtlich beunruhigt und besorgt.
Ach, es ist nichts", erwiderte Kaiden. „Es war nur eine Erinnerung an einen alten Freund, die mir durch den Kopf ging."
Der Pfleger wollte ihm nicht zu nahe treten, fragte aber schließlich doch. Die unangenehme Atmosphäre wurde erneut von einer Frage durchbrochen, die vom Pfleger kam.
„Willst du nicht mal mit einem Therapeuten über deine Probleme reden? Ich weiß, es kann einem unangenehm werden, aber es bringt tatsächlich viel. Du hast damals wahrscheinlich viel durchmachen müssen. Nein, ich will es mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen. Dennoch möchte ich dir den Rat geben, dass du dir professionelle Hilfe suchen solltest, falls es dir in irgendeiner Art schlecht gehen sollte."
Kaiden musste lächeln. Er war berührt von der Ehrlichkeit genauso wie von der Fürsorglichkeit des Pflegers. Er war wahrhaftig ein guter Pfleger.
„Das werde ich tun, falls ich es nötig haben sollte", erwiderte Kaiden.
Nun war die Zeit schon so weit vorgerückt, dass die Röte in seinem Auge teilweise verblasste und die Spuren der Tränen auf der Wange sich langsam verdünnten und sich in Luft auflösten. Der Pfleger setzte fort und sagte, dass er sich nicht hetzen müsste, er könne, wenn er wolle, auch einfach nur mit ihm reden. Kaiden willigte ein und dachte, dass es nicht schaden würde. Er hatte ihn nämlich ein bisschen liebgewonnen.
Der Pfleger klopfte sich schließlich auf seine beiden Beine und stützte sich auf ihnen. Seine kräftigen Arme stießen sich mit kleinem Schwung von seinen Beinen ab, und sein Oberkörper erhob sich. Er stand auf und hob seine Arme in Richtung Kaiden, zielte auf dessen Rollstuhl. Kaiden spürte, wie er sich leicht drehte und mit langsamer Geschwindigkeit nach vorne transportiert wurde. Die etwas kühlere Herbstnacht konnte durch die Wärme des heißen Kakaos jedoch besiegt werden.
Die beiden liefen schließlich die Promenade entlang und blickten auf das noch niedrige Meer, das von Staudämmen aufgehalten wurde. Der Anblick war atemberaubend, so oft er es sich ansah.
Doch die Bewunderung wurde erneut gestört, als der Pfleger ihn nun wieder fragte, was denn genau geschehen sei. Kaiden, der von der Schönheit des grellen Lichtes fasziniert war, kehrte zur Realität zurück und begann von seinem Leben zu sprechen.
Mit etwas ruhigerer und bedachterer Stimme erzählte er, dass er wie an jedem gewöhnlichen Tag in der Schule gesessen hatte. Es war sein erster Tag nach den Sommerferien, und er lag beruhigt in seinem Klassenzimmer halb schlafend. Doch dann geschah es, als ein guter Freund von ihm sagte, dass draußen etwas Seltsames und Helles zu sehen war. Jeder war verwirrt, aber auch angezogen von dieser wunderschönen Pracht. Es war nicht verwerflich, sich dieser Schönheit einige Sekunden seiner Zeit zu widmen. Doch er realisierte sofort, dass es eine mächtige Explosion gewesen sein muss.
Er konnte einen seiner Freunde zu Boden werfen und wollte die anderen auffordern, ebenfalls zu Boden zu gehen. Mit zitternder und eingezogener Stimme fuhr Kaiden fort und sagte, dass es alles seine Schuld gewesen war. Hätte er doch nur lauter geschrien oder zumindest auch ein paar andere mit auf den Boden gerissen. Es waren nämlich noch einige Sekunden übrig gewesen.
Kaiden fuhr mit weinender und zitternder Stimme fort und flüsterte mit murmelnder und nuschelnder Stimme, dass alles seine Schuld gewesen sein muss. Er hätte noch ein paar mehr retten können, doch er war zu egoistisch.
Der Pfleger schien ihn zu verstehen und klopfte leicht auf Kaidens noch vorhandener Schulter. „Es war nicht deine Schuld, jeder hätte so reagiert und zuerst an sich selbst gedacht." Mit diesen Worten versuchte er ihn zu beruhigen, was ein bisschen half. Die durchtriebene und unregelmäßige Atmung verbesserte sich, und Kaiden fuhr weiter fort.
Kurz darauf wurde jeder durch die Druckwelle entweder durchlöchert oder in Hälften geschnitten. Es war ein Albtraum. Doch auch dieser war noch nicht zu Ende. Er realisierte, dass es wenigstens drei Überlebende gab, doch vergeblicher weise wurde dies nach nur wenigen Minuten auf nur noch zwei reduziert.
Sein bester Freund, den er seit dem Kindergarten kannte und der immer in schlechten wie in guten Zeiten zu ihm gestanden hatte, wurde von einer langen Metallstange durchbohrt. Eine etwas fremdere Person ihm gegenüber starb ohne jegliche Rettungsmöglichkeit vor ihm.
Es gab nur noch einen Freund namens Leon und ihn selbst. Sie mussten sich tapfer durch die Stadt schlagen und dabei so egoistisch wie möglich handeln. Sie schubsten teilweise Kinder oder ältere Personen, da sie ihnen im Weg standen. Es war ihnen klar, dass ein Tsunami im Anmarsch war, und so mussten sie so schnell wie möglich auf ein hohes Gebäude.
Während sie nun auf viele verschiedene Hindernisse trafen, schafften sie es jedoch schließlich. Die beiden waren endlich ganz oben, doch er realisierte erst später, dass Leon es nicht geschafft hatte.
Kaiden brach weiterhin in Tränen aus, und seine zitternde Stimme klang fast schon wie ein lautes Kratzen, erzeugt von Schnittwunden in der Kehle.
Kaiden sagte, dass Leon es viel mehr verdient hätte. Für ihn sei Leon nur ein Klotz am Bein gewesen, ein verletztes Stück, das eigentlich keine Überlebenschance hatte. Doch Leon war die Person, die ihn immer wieder aufmunterte und half. Ohne Kaiden wäre Leon schon Minuten zuvor ganz oben gewesen und hätte sicherlich wie er selbst überleben können.
Doch das Schicksal wollte es anders – Leon opferte sich für ihn, weil er zu langsam war. Warum war alles nur so? Fragte sich Kaiden mit noch zitternder Stimme und leichter Wut im Nachgeschmack.
Der Pfleger entgegnete seiner Wut und Trauer, indem er sagte, dass er ihn verstünde, jedoch positiv denken solle. Trotz der vielen Hürden habe er zwar vieles verloren, doch mit diesen Ereignissen öffneten sich weitere Türen. Jetzt hatte er wieder das Leben in der Hand und konnte Gutes für die Welt tun. Der Pfleger gab ihm einen, wirklich nur einen einfachen, aber guten Rat.
„Kaiden, du solltest mit dem Geschenk des Lebens etwas anfangen und die Welt zu etwas Besserem verändern, statt es mit deiner Trauer und Wut wegzuwerfen. Schließlich wären die vielen Opfer durch deine Wut und Trauer ins Nichts verdammt und hätten keinerlei Bedeutung."
Kaidens trauender und durch Wut verbitterter Blick vermischte sich mit seiner normalen Selbst. Er schien wieder beruhigt, dennoch mit einigen Tränen, die seine Wange hinab liefen. Kaiden entgegnete dem Rat des Pflegers anschließend und bedankte sich für dessen Zeit und Aufmunterung.
Dem Pfleger zauberte das ein leichtes Lächeln auf den Mund und er schien etwas fröhlich. Doch das wurde schnell von einem besorgten Blick ersetzt, als Kaiden plötzlich würgen musste und sich erbrechen musste.