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Chapter 2 - Sklavenkarawane

Sunny träumte von einem Berg.

Die zerklüftete und einsame Erhebung überragte alle anderen Gipfel der Bergkette und schnitt mit ihren scharfen Kanten den nächtlichen Himmel. Ein strahlender Mond hüllte die Hänge in ein gespenstisch bleiches Licht.

An einem der Hänge klammerten sich die Reste einer alten Straße hartnäckig an die Steine. Ab und zu sah man verbitterte Pflastersteine, die durch den Schnee schimmerten. Zur Rechten erhebt sich eine steile Felsenwand, unüberwindbar, wie eine Mauer. Zur Linken deutet ein stummes schwarzes Meer aus Nichts auf einen endlosen Absturz hin. Starke Winde prallten immer wieder gegen den Berg und schrien in ohnmächtiger Wut.

Plötzlich stürzte der Mond über den Horizont. Die Sonne erhob sich im Westen, schoss über den Himmel und verschwand im Osten. Schneeflocken sprangen von der Erde auf und wurde in den Wolken wiedereingeholt. Sunny wurde klar, dass er gerade den Lauf der Zeit rückwärts sieht.

Nach dem Blinken eines Auges waren hunderte von Jahren vergangen. Der Schnee zog sich zurück und legte die alte Straße frei. Ein kalter Schauer lief Sunnys Rücken hinunter, als ihm die verstreuten menschlichen Knochen auffielen. Einen Moment später waren die Knochen verschwunden und an ihrer Stelle erschien eine Sklavenkarawane, die sich unter dem Lärm von Ketten rückwärts den Berg hinunterbewegte.

Die Zeit verlangsamte sich, blieb kurz stehen und nahm dann wieder ihr gewöhnliches Tempo auf.

[Aspirant! Willkommen im Alptraumzauber. Bereiten Sie sich auf Ihre erste Prüfung vor...]

'Was…was zum Teufel ist das?'

Einen Schritt, dann noch einen.

Ein dumpfer Schmerz durchzog Sunnys blutende Füße, während er vor Kälte zitterte. Seine abgetragene Tunika half kaum gegen den eisigen Wind. Seine Handgelenke schmerzten am schlimmsten: Durch die eisernen Fesseln schwer verletzt, sandten sie jedes Mal, wenn das eiskalte Metall seine aufgeplatzte Haut berührte, einen stechenden Schmerz aus.

'In was für einer Situation bin ich hier bloß geraten?!'

Sunny sah rauf und runter, bemerkte eine lange Kette, die sich den Weg hinauf windet, mit dutzenden hohlen Augen - Sklaven wie er - an gleichmäßigen Abständen daran gefesselt. Vor ihm ging ein Mann mit breiten Schultern und blutigem Rücken mit gleichmäßigem Schritt. Hinter ihm fluchte ein schräger Kerl mit schnellen, verzweifelten Augen leise auf einer Sprache, die Sunny nicht kannte, die er aber irgendwie doch verstand. Von Zeit zu Zeit, fuhren bewaffnete Reiter in altertümlichen Rustungen vorbei und warfen den Sklaven einschüchternde Blicke zu.

Egal, wie man es dreht oder wendet, die Dinge sahen echt düster aus.

Sunny war mehr verwirrt als in Panik. Es stimmte, diese Umstände waren nicht typisch für die ersten Albträume. Normalerweise fanden sich frischgewählte Kandidaten in einem Szenario wieder, dass ihnen gewisse Autonomie gewährte: Sie wurden Mitglieder privilegierter oder kriegerischer Kasten, hatten reichlich Zugang zu Waffen, zumindest um zu versuchen, jede Konfliktsituation bewältigen zu können.

Als machtloser, an Ketten gefesselter und bereits halbtoter Sklave anzufangen, war das genaue Gegenteil von idealtypisch.

Jedoch war bei dem Zauber sowohl die Herausforderung, als auch das Gleichgewicht von Bedeutung. Wie der alte Polizist es gesagt hatte, er kreierte Prüfungen, keine Hinrichtungen. Sunny war deswegen sicher, dass er zur Kompensation für diesen miserablen Start mit etwas Gutem belohnt werden würde. Zumindest mit einem starken Aspekt.

'Mal sehen... wie mache ich das?'

Er erinnerte sich an die populären Webcomics, die er als Kind las, konzentrierte sich und dachte an Wörter wie "Status", "Ich" und "Information". Tatsächlich, kaum hatte er sich konzentriert, erschienen schimmernde Runen vor ihm in der Luft, unbekanntes Alphabet aber dennoch irgendwie verständlich.

Runen, die seinen Aspekt beschreiben... und schließlich verlor er die Fassung.

'Was?! Was zum Teufel?!'

***

Name: Sonnenlos.

Echter Name: —

Rang: Anwärter.

Seelenkern: im Schlaf.

Erinnerungen: —

Echoes: —

Attribute: [Schicksal], [Göttliches Siegel], [Kind der Schatten].

Aspekt: [Tempelsklave].

Beschreibung des Aspekts: [Ein Sklave ist ein nutzloses Geschöpf ohne nennenswerte Fähigkeiten oder Fertigkeiten. Ein Tempelsklave ist dasselbe, nur viel seltener.]

Sprachlos starrte Sunny auf die Runen und versuchte sich einzureden, dass er sich das nur einbildete. Er konnte doch nicht so ein Pech haben, oder?

Keine nutzlosen Aspekte, mein Arsch!

Kaum war dieser Gedanke in seinem Kopf aufgetaucht, verlor er seinen Schrittrhythmus und stolperte, wobei er die Kette mit seinem Gewicht herunterzog. Sofort schrie der schräge Kerl hinter ihm auf:

"Hurensohn! Pass besser auf, wohin du gehst!"

Sunny eilte, die nur für ihn sichtbaren Runen verschwinden zu lassen und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Einen Moment später ging er wieder gleichmäßig - allerdings nicht ohne versehentlich die Kette ein weiteres Mal zu ziehen.

"Du kleiner Scheißer! Ich bring dich um!"

Der breitschultrige Mann vor Sunny lachte leise, ohne seinen Kopf zu drehen.

"Wozu die Mühe? Der Schwächling wird bei Sonnenaufgang sowieso tot sein. Der Berg wird ihn töten."

Ein paar Sekunden später fügte er hinzu:

"Er wird auch dich und mich töten. Nur ein bisschen später."

Der schräge Kerl schnappte nach Luft.

"Sprich für dich selbst, Narr! Ich habe vor zu überleben!"

Sunny schüttelte still den Kopf und konzentrierte sich darauf, nicht wieder umzufallen.

'Was für ein charmantes Paar.'

Plötzlich mischte sich eine dritte Stimme in das Gespräch ein, diesmal von weiter hinten. Diese Stimme klang sanft und klug.

"Dieser Bergpass ist normalerweise viel wärmer um diese Jahreszeit. Dieses Mal sind wir einfach nur vom Pech verfolgt. Außerdem rate ich euch, dieses Kind nicht zu ärgern."

Warum das denn?"

Sunny drehte leicht seinen Kopf, um besser zu hören.

"Hast du die Markierungen auf seiner Haut nicht gesehen? Er ist nicht wie wir, die in die Sklaverei geraten sind aufgrund von Schulden, Verbrechen oder Unglück. Er wurde als Sklave geboren. Ein Tempelsklave, um genau zu sein. Vor nicht allzu langer Zeit haben die Imperiale den letzten Tempel des Schattengottes zerstört. Ich vermute, das ist der Grund, warum dieser Junge hier gelandet ist."

Der breitschultrige Mann warf einen Blick zurück.

"Na und? Warum sollten wir uns vor einem halb vergessenen, schwachen Gott fürchten?"

"Das Imperium steht unter dem Schutz des mächtigen Kriegsgottes. Natürlich haben sie keine Angst, ein paar Tempel niederzubrennen. Aber wir hier sind durch nichts und niemanden geschützt. Wollt ihr wirklich riskieren, einen Gott zu verärgern?"

Der breitschultrige Mann grunzte, ohne eine Antwort zu geben.

+Wie man es auch dreht oder wendet, die Dinge sahen nicht gut aus.

Ihr Gespräch wurde von einem jungen Soldaten in einem prächtigen weißen Pferd unterbrochen. Gekleidet in einer einfachen Lederrüstung und bewaffnet mit einem Speer und einem Kurzschwert sah er würdevoll und nobel aus. Zu Sunnys Ärger sah der Typ auch noch ziemlich hübsch aus. Wäre das eine historische Drama-Serie, wäre er definitiv der männliche Hauptdarsteller.

"Was geht hier vor?"

Seiner Stimme fehlte jegliche Drohung, sie klang eher besorgt.

Als alle zögerten, antwortete der Sklave mit der sanften Stimme:

"Es ist nichts, Herr. Wir sind alle nur müde und frieren. Besonders unser junger Freund da. Diese Reise ist wirklich zu viel für jemanden in seinem Alter."

Der Soldat sah Sunny mitleidig an.

'Was starrst du so? Du bist doch nicht viel älter als ich!', dachte Sunny.

Natürlich sagte er nichts laut.

Der Soldat seufzte und reichte Sunny eine Flasche aus seinem Gürtel.

"Halte noch ein bisschen durch, Kind. Wir werden bald eine Pause einlegen. Hier erstmal, trinke etwas Wasser."

'Kind? Kind?!'

Aufgrund seines dünnen Körperbaus und seiner kleinen Statur, die beide auf Unterernährung zurückzuführen waren, wurde Sunny oft für jünger gehalten. Normalerweise machte er sich das zu Nutze, doch aus irgendeinem Grund störte es ihn dieses Mal, als Kind bezeichnet zu werden.

Trotzdem hatte er wirklich Durst.

Gerade als er die Flasche nehmen wollte, knallte eine Peitsche durch die Luft und plötzlich befand Sunny sich in einer Welt voller Schmerz. Er stolperte und zog wieder an der Kette, was den hektischen Sklaven hinter ihm zum Fluchen brachte.

Ein anderer Soldat, älter und wütender, hielt sein Pferd ein paar Schritte entfernt an. Die Peitsche, die Sunnys Tunika durchschnitt und Blut zum Vorschein brachte, gehörte ihm. Ohne auch nur einen Blick auf die Sklaven zu werfen, fixierte der ältere Soldat seinen jüngeren Kollegen mit einem geifernden Blick.

"Was glaubst du, machst du da?"

Das Gesicht des jungen Soldaten verdunkelte sich.

"Ich habe dem Jungen nur etwas Wasser gegeben."

"Er wird mit allen anderen zusammen Wasser bekommen, sobald wir unser Lager aufschlagen!"

"Aber..."

"Halt die Klappe! Diese Sklaven sind nicht deine Freunde. Hast du das kapiert? Sie sind nicht einmal Menschen. Behandle sie wie Menschen und sie fangen an, wirres Zeug zu spinnen."

Der junge Soldat sah Sunny an, senkte dann seinen Kopf und steckte die Flasche wieder in seinen Gürtel.

"Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du dich mit den Sklaven anfreundest, Neuling, dann ist dein Rücken als nächstes dran!"

Um seine Drohung zu unterstreichen, ließ der ältere Soldat seine Peitsche durch die Luft knallen und ritt an ihnen vorbei, während er Bedrohung und Wut ausstrahlte. Sunny sah ihm mit kaum verhohlener Bosheit nach.

"Ich weiß nicht wie, aber ich werde zuschauen, wie du zuerst stirbst."

Dann drehte er den Kopf und schaute in Richtung des jüngeren Soldaten, der mit gesenktem Kopf weiter hinten blieb.

"Und du, als Zweiter."