Als Akiro den letzten Schluck seines Gyokuro-Tees nahm, war die
Stimmung des Abends bereits in eine tiefere, stillere Dämmerung
übergegangen. Hiori hatte sich verabschiedet, und das Gespräch hallte
noch in Akiros Gedanken wider, doch anders als sonst – es lag ein
ungewohnter Schatten in seinem Inneren. Langsam machte er sich auf
den Weg nach Hause, während das leise Murmeln der Grillen die
Dunkelheit erfüllte und die kühle Nachtluft seine Verwirrung und
Traurigkeit wie ein Schleier umhüllte.
Die Worte, die er ausgesprochen hatte, das seltsame Zitat, kamen ihm
nicht mehr wie seine eigenen vor. Der Name Tokyo und die Worte, die wie
ein uraltes Gebet geklungen hatten, lasteten schwer auf seinem Herzen.
Er hatte nicht einmal gewusst, dass er solche Worte kannte – warum
also fühlten sie sich jetzt an, als wären sie Teil von ihm, als hätte er sie
schon immer gekannt?
Eine leise, schwer zu beschreibende Traurigkeit durchzog ihn. Es war, als
würde er jemandem nachtrauern, den er nie gekannt hatte. Als würden
Erinnerungen an eine andere Zeit in ihm schlummern, auf die er keinen
Zugriff hatte, und doch spürte er den Verlust, als wäre es seine eigene
Vergangenheit.
Das Wort Byokos schlich sich in seine Gedanken und verwirrte ihn noch
mehr. Irgendetwas an diesem Begriff fühlte sich so lebendig und vertraut
an, und doch verstand er nicht, warum. Mit jedem Schritt spürte er die
Einsamkeit in seinem Herzen stärker, ein Gefühl, dass ihm fremd war und
dennoch eine tiefe, traurige Resonanz in ihm weckte.
Als er endlich sein Zuhause erreichte, sah er zu den Sternen auf und
fragte sich, ob sie Antworten für ihn bereithielten. Doch das Einzige, was
er in dieser Nacht fand, war ein stummer, unbeantworteter Ruf, der ihn
mit einer Traurigkeit erfüllte, die er nicht verstand.
Akiro blieb auf seinem Heimweg einen Moment stehen und sah zu den
Sternen hinauf, etwas, das er sonst selten tat. Normalerweise hielt er
seinen Blick auf den Boden gerichtet, dort, wo die Natur war, die er so
sehr verehrte – die Erde, die Flüsse, die Tiere, die ihn umgaben. Doch
heute fühlte es sich anders an.
Eine ungewollte Traurigkeit legte sich über sein Herz, eine Leere, die er
nicht erklären konnte. Ein leiser Gedanke glitt durch seinen Kopf: Warum
hoffte er nun, dass die Sterne ihm Antworten geben könnten? Wieso
suchte er Trost in den Lichtern des Himmels, obwohl er doch immer sein
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Vertrauen in die Natur gelegt hatte, die direkt unter seinen Füßen lebte
und atmete?
„Warum macht es mich so traurig, dass sie nicht antworten?" murmelte
er leise, während er in die Stille der Nacht lauschte. Die Sterne blieben
stumm, und in diesem Schweigen schien ihm die Dunkelheit endlos, als
würde sie eine Wahrheit verbergen, die er nie finden würde.
Akiro stieß sich plötzlich ab und rannte los, angetrieben von einem
unbestimmten Drang, die Antworten zu finden, die ihm entglitten. Seine
Schritte wurden schneller, die Luft strömte ihm entgegen, und in einem
kurzen, unkontrollierten Moment löste sich eine ungeahnte Kraft in ihm.
Für einen Augenblick glitt er durch die Nacht mit einer Geschwindigkeit,
die jenseits dessen lag, was er bisher je erreicht hatte. Die Dunkelheit um
ihn herum verschwamm, und das Rauschen des Windes formte ein
scharfes, fast durchdringendes Zischen.
Dieser rasante Augenblick entlockte ihm ein Gefühl, das vertraut und
doch fremd war. Sein Körper schien sich in einer fließenden Harmonie zu
bewegen, jeder Schritt mühelos und präzise, als würde eine uralte Kraft
seine Glieder lenken. Er kam zum Stillstand, keuchend und mit
klopfendem Herzen, und die Energie, die er so plötzlich gespürt hatte,
verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.
Akiro blieb stehen, das Herz rasend in seiner Brust. Was war das? Dieses
Gefühl… Es kam ihm vertraut vor, und doch wusste er, dass er es nie
zuvor bewusst gespürt hatte. Hatte er wirklich gerade etwas entfesselt,
was tief in ihm verborgen lag?
Verwirrt legte er die Hände auf die Knie, atmete schwer und versuchte,
diesen kurzen Moment zu begreifen.
Er stand still, sein Atem ging schwer, und in der kühlen Nachtluft
formten sich kleine Wolken vor seinen Lippen. Ein dumpfes Echo dieses
Moments hallte in seinem Geist nach – nicht nur als Erinnerung an die
Geschwindigkeit, sondern an das seltsame, tiefe Vertrauen, das er in
jenen Sekunden gespürt hatte.
Akiro richtete sich langsam auf und ließ den Blick in die Nacht schweifen.
Er wusste, dass das, was er erlebt hatte, nicht einfach aus ihm selbst
kam. Es fühlte sich an, als hätte ihn eine alte, verborgene Kraft
durchströmt, eine Kraft, die er weder benennen noch völlig begreifen
konnte. Die Frage nagte an ihm: War dies ein Teil von mir? Oder etwas,
das mich gewählt hat?
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In der Ferne schimmerte das schwache Licht seines Zuhauses. Doch der
Gedanke, dorthin zurückzukehren, gab ihm keine Ruhe. Stattdessen hob
er den Blick zum Himmel, zu den Sternen, die wie stille Zeugen über ihn
wachten. Es war seltsam, wie sehr ihn dieser Anblick tröstete, und doch
war da eine Traurigkeit, die an ihm zerrte, als würde eine tiefe,
unbenannte Sehnsucht in ihm widerhallen. Für einen flüchtigen
Augenblick spürte er ein Brennen hinter den Augen, und leise, fast
unhörbar, murmelte er:
„Warum… warum fühle ich mich so verloren, wenn die Sterne mir doch
keine Antworten geben?"
Sein Blick senkte sich allmählich, als würde er die Antworten nicht am
Himmel, sondern in der Erde unter seinen Füßen suchen, in den Wurzeln
der Bäume und den Stimmen der Tiere, die ihn in der Natur stets begleitet
hatten. Doch irgendetwas in ihm schien nach mehr zu rufen, nach etwas,
das über die Welt, wie er sie kannte, hinausging.
Akiro blieb in der Dunkelheit stehen, ließ den letzten Gedanken an sein
Zuhause verblassen und wandte sich stattdessen dem alten Tempel
Tokyos zu. Seine Schritte waren ruhig, fast ehrfürchtig, als würde er
etwas Unausgesprochenem folgen, das ihn dorthin rief. Die vertraute
Stille der Nacht legte sich um ihn, nur unterbrochen vom sanften
Rascheln der Blätter und dem entfernten Ruf einer Eule.
Der Tempel war in das blasse Licht des Mondes getaucht, und die alten
Steinwände erhoben sich wie stumme Wächter vor ihm. Mit jedem
Schritt spürte er die Schwere des Ortes, als würde die Zeit hier stillstehen
und die Jahrhunderte ihm zuflüstern, Geschichten von längst
vergangenen Kämpfen und Hoffnungen, die in den Mauern schlummerten.
Akiro trat durch den Eingang und ließ die Finger sanft über die alten
Inschriften gleiten, die das Leben und die Lehren Tokyos priesen. Er
erinnerte sich daran, wie er als Kind oft hierhergekommen war, um die
Erzählungen der Ältesten zu hören, wie Tokyo den Frieden über das Land
gebracht hatte. Und doch… er spürte nichts von diesem Frieden in sich
selbst, nur ein unbestimmtes, drängendes Gefühl, eine verborgene
Melancholie, die ihn zu übermannen drohte.
Langsam kniete er sich nieder, schloss die Augen und atmete tief ein, ließ
die Stille des Tempels in sich einsickern. Irgendwo in ihm hoffte er auf
eine Antwort – oder wenigstens ein Zeichen, das ihm zeigte, welchen
Weg er gehen sollte.
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Da vernahm Akiro ein leises Zwitschern, kaum mehr als ein Hauch, doch
es hallte in der Stille des Tempels wider wie ein fernes, sehnsüchtiges
Echo. Er öffnete die Augen und sah auf – und da saß sie, ein kleiner,
goldener Vogel, kaum größer als seine Handfläche, mit einem Schimmer,
der warm und sanft den Raum erfüllte. Das Licht war schwach, doch es
leuchtete mit einer Reinheit, die ihm den Atem nahm.
Akiro wusste instinktiv, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Vogel
handelte. Es war Tokyo – die Göttin, deren Geschichten ihn als Kind
begleitet hatten, das Symbol des Lebens und des Friedens. Doch ihr einst
heiliges Glühen war blass, und ihre Flügel zitterten leicht, als ob jeder
Atemzug sie Kraft kosten würde.
Langsam, vorsichtig, kniete er sich vor dem kleinen Wesen nieder,
unfähig, die Augen abzuwenden. Sein Herz schlug schneller, ein
unbestimmtes Gefühl der Trauer stieg in ihm auf, doch er wagte es nicht,
sich zu rühren, aus Angst, dieses letzte Aufleuchten der Göttin könnte
verlöschen. Tokyos kleiner Körper hob und senkte sich schwer, als ob sie
den letzten Funken ihrer Existenz in diesem Raum verströmte.
„Tokyo…" flüsterte Akiro, seine Stimme beinahe erstickend vor Ehrfurcht
und Schmerz.
Das Vögelchen hob den Blick, und für einen Augenblick schien die ganze
Welt den Atem anzuhalten. Mit einer sanften, flüsternden Stimme
erwiderte es: „Hallo, Izara."
In diesem Moment weiteten sich Akiros Augen, ein unsichtbarer Schlag
traf ihn wie ein Sturm, und die Welt um ihn herum begann zu schwanken.
Ein flüchtiges, brennendes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, dass
ihm den Atem raubte. Er spürte, wie sich eine Schwere auf ihn legte, die
ihn unerbittlich in eine tiefe Trance zog Die Umrisse des Tempels, das
Flimmern des heiligen Lichts – all das begann sich aufzulösen und
verschwand in einem Strudel aus Bildern und Gefühle
Das Flüstern des Windes und das Leuchten des kleinen Vogels verblassten,
und stattdessen umgab ihn plötzlich ein anderer Duft, der Klang von
Schlachten, die er nie erlebt, und das Brennen von Wunden, die er nie
gespürt hatte. Akiro war sich sicher, dass dies mehr als eine Erinnerung
war – es war eine Rückkehr. Ohne Kontrolle über seine Bewegungen, als
ob er ein Zuschauer in seinem eigenen Körper wäre, spürte er, wie die
Präsenz einer anderen, uralten Seele die Kontrolle übernahm.
Und so begann er zu sehen, durch die Augen von Izara selbst.