Tokyo, der Vogel des Lebens, kreiste über den Heiligen Wald, ihre Flügel
weit ausgestreckt in der Freiheit des Himmels. Die Luft strömte durch ihr
schützendes Gefieder und trug den Duft der Bäume des Lebens zu ihr
hinauf – dem Herz aller Lebewesen, dem Ursprung von Liebe und Frieden.
Tokyo ließ sich in diesem friedvollen Moment treiben, dem stillen
Herzschlag des Waldes, bis ihr Blick über den prächtigen Palast glitt, der
sich in den Wipfeln erhob.
Dort, im Innenhof, fiel ihr Blick auf das gesegnete Kind. Neugierig und
voller leiser Freude senkte sie sich etwas tiefer, um genauer hinzusehen.
Der Junge und ein Mädchen, Seite an Seite, schienen in ein Spiel mit
Holzschwertern vertieft, während das Schlagen der Stöcke in der Luft
widerhallte. „Warum kämpfen sie?" fragte sich Tokyo. „Bin ich nicht hier,
um Frieden zu bringen?" Sanft ließ sie sich herabsinken, bis die Strahlen
der beiden Sonnen, Ra, auf ihren goldenen Gefieder schimmerten und ihr
Kraft spendeten. Sie landete schließlich auf einem Symbol ihrer selbst –
ein goldenes Abbild ihres eigenen Wesens, das in den Boden eingelassen
war.
Von hier aus beobachtete sie die beiden Kinder. Mit einem langsamen
Blinzeln schloss sie ihre allsehenden Augen und ließ nur ihre Gefühle
sehen. Ein Hauch von Unruhe, fast unbemerkt, vibrierte in der Luft; er
war erfüllt von Hass, Neid, Trauer und Leid. Sie spürte, dass das, was sie
sah, weit mehr als ein Spiel war. Beunruhigt und ohne ein weiteres
Zögern stieß sich Tokyo ab und glitt in einem lautlosen Sturzflug über die
beiden hinweg, in Richtung Wald, zurück zu ihrem Reich.
„Hast du das gesehen, Bruder?" rief Nazara, die das Strahlen des Vogels in
der Ferne auffangen konnte.
Izara nickte mit einem Lächeln, seine Augen vor freudiger Erregung
glänzend. „Ja, das war sicher Tokyo. Heute wird ein guter Tag! Ich glaube,
heute wirst du schnell genug sein, um mit mir mitzuhalten."
Die beiden schlossen ihr Training ab und machten sich auf den Weg in
Richtung des Heiligen Waldes, um der Spur des goldenen Vogels zu folgen.
„Wer sie zuerst sieht, ist der wahre Friedenbringer!" rief Izara und rannte
voran. Nazara kicherte und rief ihm nach, „Ich habe gehört, sie soll
Byokos als Haustiere halten, Bruderherz!"
Das Land, das sie umgab, war von atemberaubender Schönheit: Berge
ragten hoch in den Himmel, Flüsse schlängelten sich wie blaue Bänder
durch das üppige Grün, und der Wald selbst schimmerte in einem
lebendigen Spektrum von Farben. Die Luft war erfüllt vom Zwitschern der
Ahnen Tokyos, jene prächtigen, farbenfrohen Vögel, deren lila, blaue und
grüne Schwingen in der Ferne leuchteten und deren goldene Federn das
Licht des Himmels einfingen. Nacht ragen, über die Wälder.
Nazara und Izara, Geschwister im Alter von zehn und vierzehn Jahren,
liefen voller Lebendigkeit jenen Byoko hinterher das sie bereits als Kinder
immer sahen, es war vor kurzem sogar Mutter geworden – einem
bezaubernden, tierischen Wesen, das einem Hund und einer persischen
Kurzhaarkatze glich und die Eleganz eines Jaguars trug. Sein Fell
schimmerte in erdigen Brauntönen mit weißen und goldenen Flecken.
Nazara japste leicht, als sie versuchte, ihrem Bruder zu folgen. „Izara,
Izara, warte auf mich!" rief sie keuchend, während er mit einer
Geschwindigkeit vorauslief, die dem Wind selbst Konkurrenz machte.
Izara war ganz in das Spiel der Jagd vertieft, seine Konzentration so
scharf wie das Rascheln des Windes im Gras. Plötzlich blieb er stehen.
Langsam hob er den Kopf zum Himmel, und in diesem Moment schien
selbst sein Pech-schwarzes Haar, das sonst nie zur Ruhe kam, für einen
Augenblick still zu verweilen.
Nazara erreichte ihn und stellte sich vor ihn. Sie blickte in seine Augen,
doch statt der freudigen Aufregung spiegelte sich darin nur ein tiefes,
trauriges Licht. Tränen glänzten auf seinen Wimpern, und ihre Strahlkraft
war blendend, ein Anblick, der ihr den Atem stocken ließ. „Was ist los?"
flüsterte sie. „Ist alles in Ordnung? Hast du Tokyo gesehen?" fragte sie
voller Hoffnung.
Ohne ein Wort zu sagen oder den Blick abzuwenden, hob Izara zitternd
einen Finger und deutete nach oben. Nazara, die dem Finger folgte, drehte
sich um und blickte gen Himmel.
Doch was sie sah, war kein Zeichen des Friedens. Keine Flügel, die sie
segneten. Es war der Himmel selbst – und er brannte.