Chapter 3 - Der unsichtbare Garten

Miss Albright weckte die Kinder früh am Morgen mit ihrem gewohnt freundlichen, aber bestimmten Ton. „Aufstehen, ihr beiden. Heute gibt es etwas ganz Besonderes zu entdecken."

Aaliyah und Dean waren noch schläfrig, aber die Aussicht auf ein Abenteuer weckte ihre Neugier. In ihren Mänteln und Schals, um gegen die kühle Morgenluft gewappnet zu sein, folgten sie Miss Albright durch die leeren Straßen von Melbury. Es war eine dieser stillen Stunden, in denen die Welt noch in einer magischen Ruhe lag.

„Wohin gehen wir?" fragte Aaliyah nach einer Weile.

Miss Albright lächelte geheimnisvoll. „Zu einem Ort, den nur wenige jemals sehen dürfen. Ein Ort, der sich nur denen zeigt, die bereit sind, mit offenen Herzen zu schauen."

Sie kamen schließlich zu einer hohen, mit Efeu bewachsenen Steinmauer. Dean runzelte die Stirn. „Das ist doch nur eine alte Ruine."

„Ist sie das?" entgegnete Miss Albright und klopfte mit ihrem Regenschirm dreimal an eine unscheinbare Holztür, die Aaliyah und Dean bisher gar nicht bemerkt hatten. Ein sanftes, goldenes Licht begann durch die Ritzen der Tür zu scheinen, und dann öffnete sie sich langsam, ohne dass jemand sie berührte.

Hinter der Tür lag ein Garten, wie die Kinder ihn sich nur in ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen können. Blumen in Farben, die Aaliyah nie zuvor gesehen hatte – leuchtendes Türkis, schimmerndes Rosa, tiefes Gold – bedeckten den Boden. Die Luft war erfüllt von einem Duft, der gleichzeitig süß und erfrischend war. Schmetterlinge mit durchsichtigen Flügeln, die wie mit Sternenstaub bestäubt schimmerten, schwebten umher.

„Das ist... unglaublich", flüsterte Aaliyah ehrfürchtig.

„Willkommen im Unsichtbaren Garten", sagte Miss Albright. „Nur diejenigen mit einer lebendigen Vorstellungskraft können ihn sehen. Die meisten Menschen laufen daran vorbei und denken, es sei nichts weiter als eine alte Mauer."

Dean rannte los, um die Umgebung zu erkunden, während Aaliyah stehen blieb und alles in sich aufsog. „Warum können wir ihn sehen?" fragte sie.

„Weil ihr die Fähigkeit besitzt, die Schönheit in Dingen zu erkennen, die andere übersehen", antwortete Miss Albright.

Dean rief plötzlich aus der Ferne: „Hier ist ein Bach! Aber das Wasser ist... goldfarben!"

Aaliyah lief zu ihm, und tatsächlich: Ein schmaler Bach schlängelte sich durch den Garten, sein Wasser funkelte wie flüssiges Metall. Sie kniete sich hin, um es zu berühren, und fühlte, wie eine sanfte Wärme durch ihre Fingerspitzen kroch.

„Es fühlt sich... lebendig an", sagte sie.

Miss Albright nickte. „Das Wasser des Gartens trägt die Träume, die die Menschen längst vergessen haben. Wenn ihr ganz still seid, könnt ihr vielleicht sogar ihre Geschichten hören."

Die Kinder hielten den Atem an, und plötzlich hörten sie leise Stimmen, die wie ein Flüstern durch die Luft zogen. Es waren Geschichten von Abenteuern, Freundschaften, verlorenen Welten und Hoffnungen, die wie ein geheimnisvolles Echo in ihren Herzen widerhallten.

Während die Kinder weiter durch den Garten streiften, entdeckten sie einen riesigen Baum, dessen Äste sich wie ein Baldachin über einen kleinen, versteckten Platz spannten. In der Mitte des Platzes stand ein Tisch, gedeckt mit seltsam geformten Früchten und funkelnden Getränken.

„Setzt euch", sagte Miss Albright. „Der Garten belohnt diejenigen, die ihn respektieren, mit einem Fest."

Aaliyah und Dean setzten sich und probierten vorsichtig die Früchte. Sie schmeckten wie eine Mischung aus ihren Lieblingsspeisen und etwas Unbekanntem, das sie nicht benennen konnten, aber das ihnen ein warmes, glückliches Gefühl im Bauch gab.

Plötzlich erschien eine kleine, leuchtende Libelle auf Claras Schulter. „Sie spricht zu mir", flüsterte Aaliyah erstaunt.

Miss Albright nickte. „Die Libellen des Gartens tragen Botschaften. Vielleicht möchte sie dir etwas Wichtiges sagen."

Die Libelle summte sanft, und Aaliyah verstand plötzlich: „Sie sagt, dass der Garten uns zeigen möchte, wer wir wirklich sind."

Miss Albright lächelte. „Der Unsichtbare Garten zeigt jedem etwas anderes. Was habt ihr heute gelernt?"

Aaliyah dachte einen Moment nach. „Ich glaube, ich habe gelernt, dass man die Augen offen halten muss. Es gibt so viele wunderbare Dinge, die man sonst verpassen könnte."

Dean nickte. „Und ich habe gelernt, dass man manchmal einfach ausprobieren muss. Der Bach, die Früchte – nichts davon hätte ich entdeckt, wenn ich nicht neugierig gewesen wäre."

Miss Albright legte ihre Hände auf ihre Schultern. „Genau das ist es. Der Garten belohnt Neugier und einen offenen Geist. Und jetzt, meine Lieben, ist es Zeit, zurückzugehen."

Die Kinder wollten protestieren, doch Miss Albright führte sie sanft zurück zur Tür. „Der Garten ist immer hier, für die, die ihn sehen können", sagte sie.

Als sie die Tür hinter sich schlossen und zurück auf die Straßen von Melbury traten, blieb der Garten unsichtbar. Doch Aaliyah und Dean spürten, dass ein Stück von ihm für immer in ihren Herzen lebte.