LUO YAN aß die letzte Portion Brei aus der Schüssel und trank ein Glas warmes Wasser. Er hatte allmählich genug von solch weichen Speisen. Er freute sich darauf, bald wieder Fleisch und Meeresfrüchte, Schokolade, Eiscreme und Kuchen zu genießen. Doch seine Diät war streng. Wenn er schnellstmöglich wieder in Topform kommen wollte, musste er sie befolgen.
„Hast du fertig?", fragte sein älterer Bruder, der neben seinem Krankenhausbett auf einem Stuhl saß.
„Ja, Bruder."
Luo Ren nahm das leere Glas und die Schüssel und stellte sie auf das Tablett am Nachttisch. „Bist du bereit für dein morgendliches Sonnenbad?", fragte er neckisch.
Der Arzt hatte empfohlen, sich jeden Morgen mindestens zehn Minuten in der Morgensonne aufzuhalten. Nach sieben Jahren im Krankenhaus war Luo Yan stark unterversorgt mit Vitamin D, welches er am besten durch Sonnenlicht aufnehmen konnte. Deshalb ging er jeden Morgen in den großen Garten des Krankenhauses, natürlich mit Unterstützung anderer.
Meistens begleitete ihn sein Vater, aber seit dieser Woche konnte sein Vater nur noch jeden zweiten Tag kommen. Luo Yan vermutete ein Problem in der Firma als Grund dafür. Sein Vater schien sehr fähig zu sein; wenn er Luo Yan trotzdem besuchen konnte, war das Problem wahrscheinlich nicht allzu gravierend.
Da sein Vater nur noch eingeschränkt kommen konnte, wechselten sich sein Vater und sein älterer Bruder mit den Besuchen ab. Heute war sein älterer Bruder dran.
Luo Ren hob seinen kleinen Bruder vorsichtig in den Rollstuhl und legte eine dicke Decke über seine Schoß und seine schmalen Schultern. Trotz Frühlingsmitte war es in S City noch kühl.
„Bist du bereit, rauszugehen?", fragte er.
Luo Yan blickte zu ihm auf und lächelte. „Ja."
Sein Bruder schob den Rollstuhl aus dem Krankenzimmer. Luo Yan konnte noch nicht laufen, also war der Rollstuhl unverzichtbar. Ab morgen würde er mit der Physiotherapie beginnen – er konnte es kaum erwarten, wieder zu laufen und seine Muskeln zu bewegen.
Als sie das Krankenzimmer verließen, trafen sie auf Luo Jin, der eine schwarze Windjacke und Jeans trug, kombiniert mit den neuesten Air-Jordan-Schuhen. Luo Yan war überrascht, seinen kleinen Bruder zu sehen; er hatte gedacht, dieser würde ihn nie wieder besuchen. Vielleicht konnte er ihn dieses Mal endlich fragen, ob er ihn wirklich hasste.
„Ah Jin!", rief er aufgeregt.
Luo Jin runzelte die Stirn, als würde er Luo Yans Begrüßung stören, und wandte sich dann an ihren älteren Bruder. „Warum hast du mich hergerufen?"
Offenbar war es die Idee ihres älteren Bruders. Er erinnerte sich wohl an das letzte Mal, als Luo Yan gefragt hatte, ob ihr kleiner Bruder ihn hasse.
„Ich muss heute etwas erledigen, deshalb musst du Yan Yan begleiten", sagte Luo Ren.
„Was?", entfuhr es Luo Jin. „Warum sollte ich das tun müssen?"
„Weil du sein Bruder bist. Aber wenn du Besseres zu tun hast, kannst du gehen, und ich werde eine Krankenschwester bitten, unseren Bruder zu begleiten", entgegnete Luo Ren.
Eine Mischung aus Wut, Frustration und Hilflosigkeit zog über Luo Jins Gesicht. „Gut, ich werde es tun."
„Gut, dann kannst du gleich damit anfangen, Yan Yan in den Garten zu bringen." Luo Ren wandte sich an Luo Yan: „Yan Yan, dein Bruder muss gehen. Komm gut mit Xiao Jin aus, okay?"
„Ja, Bruder." – und ein Daumen hoch, dass er ihn dazu bringt, bei mir zu bleiben.
Luo Ren verabschiedete sich, und Luo Jin übernahm seinen Platz hinter Luo Yans Rollstuhl. Er schob den Rollstuhl grummelnd den ganzen Weg. Im Garten angekommen, platzte Luo Jin den Rollstuhl unter einem Baum, noch innerhalb der Reichweite der Sonne, aber nicht zu stark.
Luo Yan hob eine Augenbraue. Trotz seines mürrischen Aussehens war dieser Junge eigentlich ziemlich aufmerksam. Als er ihn jetzt ansah, beschloss Luo Yan, dass es der richtige Zeitpunkt für seinen ultimativen Niedlichkeitsangriff war."Ah Jin, du kannst gehen. Ich weiß, dass du nicht gerne bei mir bist", sagte er mit betrübtem Gesichtsausdruck.
Luo Jin schaute zu Boden und antwortete: "Ich habe meinem Bruder schon gesagt, dass ich hierbleibe, also werde ich nicht gehen", erwiderte er in seinem üblich gereizten Tonfall.
"Wirklich?" Luo Yans Gesicht hellte sich auf, als wäre er froh über Luo Jins Worte, doch als er sah, dass Luo Jin finster dreinblickte, verflog seine Freude sofort. "Ah Jin, hasst du mich etwa?"
Über diese Frage war Luo Jin bestürzt. Und als Luo Yans klare Augen anfingen zu tränen, geriet er in Panik. "Weine nicht!"
Als hätte er auf ein Zeichen gewartet, begannen dicke Tränen über Luo Yans Wangen zu rinnen. "Ich wusste es, du hasst mich wirklich."
Jetzt war Luo Jin völlig verwirrt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Zum ersten Mal fühlte er sich so hilflos und nutzlos zugleich. Aber er war sich einer Sache sicher, er wollte seinen Bruder nicht weinen sehen. Also hockte er sich vor Luo Yan hin und sah ihm direkt in die Augen. "Ich hasse dich nicht. Bitte weine nicht."
Stimmt, Luo Jin hasste Luo Yan nicht. Wie könnte er auch? Wenn überhaupt, dann hasste er sich selbst. Seit dem Autounfall fragte er sich oft, warum gerade er überlebt hatte? Warum musste ihre Mutter sterben? Warum musste sein liebster Bruder ins Koma fallen und fast keine Chance haben, wieder zu erwachen? Während er selbst nur leichte Verletzungen davontrug.
All diese Fragen stapelten sich auf und machten ihn zu einem Kind voller Zorn - Zorn auf die Welt, Zorn auf die Ungerechtigkeit des Lebens, Zorn auf den Fahrer, der ihren Wagen rammte, und Zorn auf sich selbst. Diesen Zorn ließ er nur auf eine ihm bekannte Weise heraus - durch Kämpfen. Doch egal, wie sehr er sich mit anderen schlug, der Zorn blieb.
Als Luo Jin den Anruf seines älteren Bruders erhielt, der ihm sagte, dass Luo Yan aufgewacht war, war er natürlich glücklich. Überglücklich. Aber er konnte dieses Glücksgefühl nicht richtig zeigen. Also verhielt er sich ruppig, wenn er seinem körperlich geschwächten zweiten Bruder gegenüberstand, besonders wenn er die Folgen des Unfalls bei Luo Yan sah.
Er war so dünn und klein. Sein Kopf reichte wahrscheinlich nicht mal bis zu Luo Jins Schulter. Selbst sein Gedächtnis war weg. Und hier war Luo Jin, kerngesund. Das machte ihn nur noch wütender.
Aber schau, wohin ihn das gebracht hatte. Er hatte seinen zweiten Bruder zum Weinen gebracht. Den Bruder, der gerade aus einem langen Koma erwacht war. Und er hatte ihn verletzt, ohne es zu wollen. Was für ein Idiot er doch war!
Ich hasse dich nicht", wiederholte er.
Du hasst mich wirklich nicht?"
Er wischte zu vorsichtig wie möglich mit seinen Fingern Luo Yans Tränen weg. "Ich will es nicht."
"Dann zeig auch nicht so ein unglückliches Gesicht, wenn du bei mir bist. Das macht mich traurig."
"Das werde ich nicht."
"Und du musst mich auch besuchen, wenn du nicht in der Schule bist."
"Das werde ich."
Luo Yan hob seinen kleinen Finger und blickte Luo Jin mit klaren, erwartungsvollen Augen an. "Schwörst du?"
Angesichts des hoffnungsvollen Gesichts seines Bruders hatte Luo Jin keine andere Wahl, als mit Luo Yans kleinem Finger zu pinkeln. "Versprochen."
"Dann musst du mich 'Bruder' nennen. Vater sagte, ich bin älter als du, also musst du das."
"Nimm dich nicht zu wichtig, Knirps." Als er sich erhob, konnte er das kleine Lächeln nicht unterdrücken, das sich auf seinen Lippen zeigte.
Natürlich sah Luo Yan das auch. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auch auf seinem Gesicht aus. Luo Jin hasste ihn also doch nicht wirklich. Er war einfach ein großer Tsundere.