Chapter 9 - Paper Dolls

Jin Jiuchis Blick auf die Welt war bereits durch den Anblick eines Blutparasiten, der aus dem Mund des Leichenbeamten gekrochen kam, erheblich aufgefrischt worden. Deshalb überraschte es ihn auch nicht mehr, als er wieder auf etwas Bizarres stieß...

...zumindest glaubte er das.

Er hatte schon früh bemerkt, dass seine Sinne überdurchschnittlich waren. Seine Augen hatten auch im Dunkeln eine perfekte Sicht, seine Nase konnte Düfte aufspüren, und seine Ohren konnten Geräusche aus mehreren Metern Entfernung wahrnehmen, wenn er sich darauf konzentrierte. Es war also nicht schwierig für ihn, die seltsamen Geräusche wahrzunehmen, die aus dem unteren Stockwerk - direkt unter ihnen - drangen. Zuerst war es ein Rascheln von Papieren - von vielen, vielen Papieren - das übereinander lag. Dann erklangen ein leises Gong- und Trompetenspiel, deren Melodie fröhlich und schwungvoll war.

'Als ob sie etwas feierten', dachte er.

"Die Hochzeit?" fragte er laut und verwundert. "Die Geisterhochzeit ist—"

"Sssh!" Nian mahnte ihn leise, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. "Sei still!"

Jin Jiuchi hob belustigt die Braue. Je mehr ihm jemand sagte, er solle etwas nicht tun, desto mehr wollte er es aus rebellischen Antrieb heraus gerade tun. Nun, in diesem Fall wollte er Nian eigentlich nur ärgern, weil ihre Augen auf diese Weise am schönsten aussahen...

"Oh?" Er grinste spöttisch. "Und was passiert, wenn ich das nicht tue? Hm?"

Nian drehte den Kopf zu ihm, die Augen drohend verengt. Jin Jiuchi erwiderte ihren Blick mit einem sorglosen Lächeln auf den Lippen, unbeeindruckt von der brodelnden Tötungsabsicht, die vom kleinen Körper der Jadepuppe ausging. Draußen näherte sich die beschwingte Musik immer mehr, vermutlich bewegten sie sich die Treppe hinauf, nachdem sie eine Runde im zweiten Stockwerk gedreht hatten.

Im nächsten Augenblick sprang Nian auf ihn zu wie ein kleiner Gepard.

Jin Jiuchis Rücken knallte mit einem dumpfen Geräusch gegen das Fenster, als die Jadepuppe sich an ihm festklammerte, die Beine um seine Mitte geschlungen und die rechte Hand hoch erhoben. In diesem Sekundenbruchteil meinte Jin Jiuchi etwas zu erkennen, was wie das Glitzern von Nadeln zwischen Nians zarten Fingern aussah, bevor sein Instinkt einsetzte und er ihr Handgelenk packte. Als Nian ihre linke Hand bewegte, fing Jin Jiuchi auch diese.

"Ah ah", tadelte er mit einem leisen Lachen in der Stimme. "Gewalt als erste Wahl, hm? Tsk, warum bist du so jähzornig, Nian'er?" Als er seinen Blick bewegte, um nachzuprüfen, ob es tatsächlich Nadeln waren, sah er nur die entzückende kleine Faust der Jadepuppe, die bereit war, ihn zu schlagen.

Nians Augen weiteten sich kurz, als hätten sie nicht erwartet, dass Jin Jiuchi so schnell reagieren und ihren Angriff in letzter Sekunde abwehren würde.Jetzt befanden sich die beiden in einer Sackgasse. Nian konnte sich nicht bewegen, da beide Hände von Jin Jiuchis Griff gefangen waren und ihre Beine zwischen dem Fenster und Jin Jiuchis Rücken eingeklemmt waren. Anstatt sich zu bewegen und die Jadepuppe loszulassen, weigerte sich Jin Jiuchi, sich zu rühren, und machte es sich am Fenster gemütlich, seine silbernen Augen glänzten vor Lachen, während er auf Nians Reaktion wartete.

Draußen hatte die lebendige, doch unheimliche Musik den dritten Stock erreicht und kam schnell auf ihre Tür zu.

Jin Jiuchi traf den Blick der Jadepuppe, lächelte und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen.

Aber es schien, als könne Nian vorausahnen, was Jin Jiuchi vorhatte. Noch bevor er einen Ton von sich geben konnte, riss Nian seine Hand mit gewaltiger Kraft aus seinem Griff und presste ihm die Hand auf den Mund. Die Warnung in ihren Augen war unverkennbar. Nian nutzte die Gelegenheit, beugte sich vor, schob den Vorhang ein wenig zur Seite und spähte über Jin Jiuchis Kopf hinweg nach draußen.

Was auch immer sie erblickten, es ließ Nians Körper jäh erstarren.

Neugierig neigte Jin Jiuchi seinen Körper etwas vor, um Nians Blick zu folgen – seine andere Hand, die Nians Handgelenk nicht hielt, legte sich um den Körper des Kindes, um es am Fallen zu hindern – und als er endlich sah, was draußen geschah, weiteten sich seine Augen überrascht.

Nun wusste er, woher das laute Rascheln des Papiers kam. Es waren Menschen – genauer gesagt, Papierpuppen –, die diese Geräusche verursachten. Draußen waren sie zu Dutzenden und drehten und wirbelten in einem Festtanz. Alt und jung, Männer und Frauen, alle in leuchtend bunte Gewänder gekleidet mit riesigen Lächeln und gekniffenen Augen auf ihre papierernen Gesichter gemalt. Die Kinder warfen Papiergeld in die Luft, während die Erwachsenen Papiergongs und -trompeten in den Händen hielten.

Wäre es jemand anderes als Jin Jiuchi oder die mutige Jadepuppe gewesen, der eine so groteske Versammlung von Papierpuppen in dem stockdunklen Korridor eines verfallenen Wohnhauses sah, hätten sie vielleicht laut geschrien oder wären sofort in Ohnmacht gefallen.

Jin Jiuchi aber schnappte nach Luft und bereute es fast sofort, als ein widerlicher Geruch durch den spaltbreiten Fensteröffnung in seine Nase drang.

Sofort traten ihm die Tränen in die Augen, seine Kehle verkrampfte sich und er hätte sich fast übergeben, wenn nicht Nians Hand fest seinen Mund verschlossen hätte. Es roch intensiv nach Asche – er war sich sicher, dass es keine Räucherstäbchenasche oder Zigarettenrauch war –, gemischt mit dem furchtbaren Gestank von verfaultem Fleisch, etwas Verbranntem und einem erdrückenden Geruch des Todes. Nie zuvor hatte er etwas so Abscheuliches gerochen!

Er versuchte umgehend, sich so weit wie möglich von der Geruchsquelle zu entfernen, aber Nian hatte andere Vorstellungen. Sie lehnte ihr gesamtes Gewicht gegen Jin Jiuchi, der am Fenster gedrückt wurde. Jin Jiuchi war sich nicht sicher, ob er sich das nur einbildete, aber die Jadepuppe schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden, als würde er einen ausgewachsenen Menschen in einer Hand halten. Um Himmels willen, wie konnte Nian'er nur so schwer sein? Er konnte fast nicht mehr atmen!

Ohne es zu wollen, ließ Jin Jiuchi einen gedämpften Protestlaut aus seiner Kehle. „Mmph–!!"

Dann, als hätte jemand eine Pause-Taste gedrückt, endete die geisterhafte Musik abrupt und ein Dutzend Papierpuppen kam zum Stillstand. Langsam drehten sie ihre Köpfe und blickten mit ihren tintengezeichneten Augen und breiten unheimlichen Lächeln zum Fenster.