Jin Jiuchi wurde mitten in der Nacht plötzlich wach.
Bevor er seine Augen öffnen konnte, spürte er bereits eine fremde Gegenwart im Raum, die seine Sinne in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Mit einem Ruck öffnete er die Augen und erkannte eine ihm unbekannte Decke über sich. Es dauerte etwa zwei Sekunden, bis ihm klar wurde, wo er war und was er hier tat.
Ach ja, er war spontan in einen gelben Kindergartenbus gestiegen und in dieser gespenstischen Wohnung gelandet…
Eine sanfte Stimme lenkte Jin Jiuchis Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Er wandte den Blick von der Decke ab und schaute zum Fußende des Bettes, woraufhin er abrupt den Atem anhielt.
Eine Frau saß dort, wo eigentlich das Paar Brautschuhe stehen sollte. Sie trug ein leuchtend karmesinrotes Gewand mit weißen Verzierungen; der feine seidene Stoff umspielte ihre schlanke Silhouette und ihre schmale Taille. Ihr üppiges, schwarzes Haar wallte über ihren Rücken und bewegte sich sanft, obwohl kein Lufthauch im Zimmer wehte.
Sie summte ein Lied, das Jin Jiuchi seltsam vertraut vorkam, ihre Stimme hallte nach, als käme sie von weit her.
Die Szenerie vor ihm hätte direkt aus einem Gruselfilm stammen können, doch der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war: 'Es ist aus, es ist vorbei! Die Braut ist gekommen, um ihr Zimmer in Beschlag zu nehmen! Ich habe Nian'er gewarnt, aber er wollte nicht hören!'
Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass die Jade-Puppe immer noch tief und fest schlief. 'Und du wagst es, so behaglich in ihrem Bett zu schlafen!' Jin Jiuchi knirschte mit den Zähnen, richtete sich auf und räusperte sich.
"Entschuldigung... ähm, Fräulein...", stammelte er unbeholfen. "Hier liegt ein gewaltiges Missverständnis vor. Keine Sorge, wir werden bei Tageslicht verschwinden – nein, wir können auch sofort gehen, wenn Sie möchten! Ich hatte keinesfalls die Absicht, Ihr Hochzeitszimmer zu besetzen, Fräulein! Nur wegen der verfluchten Ausgangssperre kam ich nicht aus dem Zimmer!" Frustriert schüttelte er die Jade-Puppe wach. War er etwa der Einzige, dem Anstand und Etikette am Herzen lagen?! "Hey, wach auf, Nian'er! Wir müssen jetzt gehen!"
Nian regte sich im Schlaf, die Augenlider zuckten.
Die Frau hörte auf zu summen und neigte den Kopf zur Seite. "Wann bist du zurückgekommen?", fragte sie sanft, ihre Stimme klang dabei leicht gurgelnd.
"Hm?" Jin Jiuchi zeigte verwirrt auf seine Nase. "Ich? Ich war noch nie zuvor hier..." Hätte die Frau ihn womöglich mit dem Bräutigam verwechselt?
Doch die Frau fragte noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck. "Wann bist du zurückgekommen?"
Jin Jiuchi öffnete den Mund, um zu erklären, dass er nur aus Versehen hier war, bis sein Blick plötzlich auf den Körper der Braut fiel und ihm die Worte im Hals steckenblieben. Karmesinrot breitete sich schnell auf den ehemals weißen Verzierungen des Brautgewandes aus. Nein, das stimmte nicht… das Gewand hätte zu Anfang weiß sein müssen. Jetzt wurde es erst durch das aus dem Körper der Frau strömende Blut karmesinrot.
Und nun tropfte das Blut unentwegt auf die makellos weiße Matratze.
Jin Jiuchi sprang aus dem Bett, als ob er sich verbrüht hätte, und hielt dabei die verschlafene Jade-Puppe in seinen Armen. "Du...", erblickte er zum ersten Mal das Gesicht der Braut. Ihr Antlitz war gespenstisch blass, dunkle Augen nahmen ein Drittel ihres Gesichts ein, ähnlich zwei schwarzen Löchern, die willkürlich auf ein Blatt Papier gekritzelt wurden. Blutlinien verliefen wie Spinnweben über ihre Haut, so als wäre ihr Fleisch zerrissen und dann wieder zusammengesetzt worden.
Sie erhob sich und wandte sich Jin Jiuchi zu, während die Ärmel ihres Gewandes wehten. Das Blut umflutete ihre Füße in einem steten Strom.
Warte mal, ihre Füße...
Jin Jiuchis Augen weiteten sich entsetzt. Sie trug die Brautschuhe, die Nian'er zuvor in der Schublade weggesperrt hatte!
"…Was ist mit dir geschehen?" Jin Jiuchi fand seine Stimme wieder, mit großer Mühe, überwältigt von der Erscheinung der blutüberströmten Braut.In seinen Armen gelang es der Jadepuppe endlich, die Schwere des Schlafs abzuschütteln, die auf seinen Lidern lastete. Sobald er die Augen öffnete, entdeckte er, dass er nicht mehr im Bett lag, sondern vor ihm war...
"Verdammt!" Er zuckte schockiert zurück, ein Fluch entfuhr ihm. "W–Was ist passiert?!" fragte er völlig aufgebracht. Er hatte es nie zugelassen, während des Zyklus in echten Schlaf zu verfallen, aus Furcht, etwas – oder jemand – könnte inmitten der Nacht angreifen, wie es jetzt der Fall war. Ein solcher Vorfall, bei dem er sich seiner Umgebung komplett nicht bewusst war, war noch nie vorgekommen!
Dies war die wichtige erste Nacht im Zyklus, in der er über die Todesbedingungen hätte erfahren sollen, wie war es also möglich, dass er seine Wachsamkeit herabgesetzt und eingeschlafen war?!
Doch Jin Jiuchi verstand offensichtlich die Bedeutung hinter Nians Frage miss. Noch immer geplagt von der Schande, beim Eindringen in fremdes Gebiet erwischt worden zu sein, drückte er die Jadepuppe fest in seine Arme und rüttelte sie in Verzweiflung. "Was ist passiert? Du wagst es noch zu fragen, was passiert ist?! Hast du mir nicht gesagt, ich dürfe den Raum nicht verlassen? Jetzt schau, die wahre Besitzerin ist zurückgekommen! Was sollen wir machen, um es ihr wieder gutzumachen?!"
Nian: "..." Also das ist es, was dich am meisten beunruhigt, was?
Irgendwie schafften es Jin Jiuchis lächerliche Worte, ihm erhebliche Beruhigung zu verschaffen. Doch leider gab ihm die blutige Braut keine Zeit zum Nachdenken. Sie machte einen Schritt nach vorne, woraufhin Jin Jiuchi zur Tür stolperte.
"Oh oh oh!" Er hob eine Hand, um seine friedfertige Absicht zu signalisieren, während die andere Hand noch immer um den Körper der Jadepuppe geschlungen war. "Okay, seien Sie nicht wütend, meine Dame! Wir werden gehen! Wir verlassen jetzt definitiv Ihr Zimmer!"
"Nein!" Nian packte ihn an den Haaren, um ihn am Fortlaufen zu hindern, und entlockte ihm damit einen überraschten Aufschrei. "Was meinst du mit 'gehen'? Hast du die Regeln nicht gehört?! Wir dürfen den Raum unter keinen Umständen verlassen!"
Jin Jiuchi starrte ihn fassungslos an. "...Ich hätte nicht erwartet, dass du noch dreister sein kannst als ich, Nian'er." Auf das Bleiben zu bestehen, obwohl die Braut zurückgekehrt war, das hätte selbst er nicht so unverfroren wagen können!
Nian warf ihm einen wütenden Blick zu. Doch bevor er etwas sagen konnte, teilte die blutige Braut plötzlich ihre Lippen und sang leise, während sie Schritt für Schritt auf sie zukam.
Das einzige Zuhause, das ich kannte, hinter mir lassend
Gehe ich diesen Gang entlang und fühle mich so einsam
Papa an meiner Seite, ich halte mich fest
Jin Jiuchi hörte die Jadepuppe neben seinem Ohr fluchen, aber gerade konnte er es sich nicht leisten, darauf zu achten, was die andere Person vorhatte. Dieses Lied kam ihm sehr bekannt vor... er war sich sicher, dass er es schon einmal irgendwo gehört hatte. Jeder Vers erweckte eine tief in ihm verborgene Erinnerung, und eh er sich versah, öffnete er den Mund und sang mit der Braut,
"Zu diesem Leben, das ich heute Nacht hinter mir lasse..."
Plötzlich wurde die Luft todesstill.
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A/N: Ich weiß, es ist ein gruseliges Kapitel, aber genießt bitte dieses Fanart unserer schönen Jadepuppe von Ying! Schaut im Kommentarbereich vorbei und zeigt dort eure Liebe! Ist er nicht ein echter kleiner Prinz? Ich würde ihm so gerne in die Wange kneifen!! ><