Die Türen des Ahnenschreins waren geschlossen.
Die Unruhe des Butlers, die ihm bis zum Hals gestiegen war, legte sich langsam.
Er sah Bai Lian an, sein Blick war ebenso komplex.
Xiangcheng, die abgelegenste und zugleich am weitesten von Jiangjing entfernte Stadt an der Grenze zu Beicheng.
Schmutzig, chaotisch, ein Zufluchtsort für Gauner und Verbrecher, der korrupteste Ort des Landes, in dem es nicht einmal einen Hochgeschwindigkeits-Bahnhof gab.
Bai Lian wirkte nachdenklich, als sie die Ahnentafeln der Familie Bai betrachtete, die nur eine Geschichte von zweihundert Jahren hatten.
Mit komplexen Emotionen fragte sie den Butler: "Existiert 'Weiße Kleidung' noch?"
'Weiße Kleidung' ist eine der zehn berühmtesten alten Melodien, die Hymne der Jiangjing Universität, bekannt bei jedem Schulkind, so dass der Butler dachte, sie mache einfach Konversation und antwortete: "Fräulein, warum müssen Sie so ein Spektakel veranstalten? Das Schicksal eines Menschen ist von Geburt an festgelegt. Deshalb können einige ihr Schicksal trotz Widrigkeiten wenden, während andere, obwohl sie unter den besten Bedingungen aufwachsen, ihr Potenzial nur vergeuden..."
Der älteste junge Meister war unter harten Bedingungen aufgewachsen, hatte es jedoch zum besten Studenten der Stadt geschafft und war an die Jiangjing-Universität gegangen, hatte sogar einen Doktorvater, der von der Jiangjing-Familie unterstützt wurde. Der Status der Bai-Familie in Beicheng wurde immer stabiler und jedem war klar, dass der älteste junge Meister zu Großem bestimmt war.
Bai Qiming wartete darauf, dass Bai Shaoke und seine Schwester der Familie Ruhm einbrachten, an der Jiangjing eingeschrieben wurden und hoffentlich sogar Erwähnungen in den Annalen der Provinz oder der Stadt erhielten.
Ganz im Gegensatz zu Bai Lian...
"Was dir nicht gehört, wird nie dir gehören, und was die zweite Miss heute erreicht hat, verdankt sie ihren eigenen Fähigkeiten", sagte der Butler schließlich und empfand es dann als unnötig, weitere Zeit mit ihr zu verschwenden, und drehte sich um.
Er musste sofort das Einführungsschreiben der zweiten Miss überreichen.
Kaum hatte sich der Butler umgedreht, sprach Bai Lian mit leiser Stimme: "Wohin bringen Sie meine Sachen?"
Der Butler war verdutzt: "Ich..."
Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, als plötzlich-
Bai Lian griff nach dem Kragen seines Hemds, ihre schlanken, hellen Fingerspitzen übten nur ein wenig Kraft aus.
Ein deutliches Gefühl des Erdrosselns durchströmte seinen Hals und zwang den Butler, sich unwillkürlich zu beugen, sein Herz fühlte sich wie eingeklemmt an, und er war gezwungen, in ihre dunklen Augen zu sehen!
Er erinnerte sich vage daran, dass Bai Lians Mutter, Ji Mulan, einst eine Schönheit gewesen war, die ganz Beicheng in Aufruhr versetzt hatte.
Es schien jedem, dass Bai Lian nicht die feinen Eigenschaften von Bai Qiming oder Ji Mulan geerbt hatte, und das hatte er auch gedacht.
Aber in diesem Moment war er sich nicht mehr sicher.
Bai Lian schien sich eine Weile daran zu erfreuen, dann lächelte sie plötzlich wieder. Sie drückte ihn fester an sich und fragte langsam und bedächtig: "Wissen Sie, was mit der letzten Person passiert ist, die mich provoziert hat?"
Das Gesicht des Butlers rötete sich schnell durch den Sauerstoffmangel.
Sie ließ seine Kehle los, immer noch gelassen, und richtete ihm den Kragen zurecht, ihre Stimme sanft und behutsam: "Sehen Sie, ich habe nur einen kleinen Scherz gemacht, wovor haben Sie Angst?"Die Bewegung des Butlers könnte als sanft beschrieben werden, doch innerlich standen ihm die Haare zu Berge und die Alarmglocken in seinem Kopf schrillten alarmierend.
Er hielt seine Hand an den Hals und hustete unaufhörlich.
Sein Blick richtete sich erneut ängstlich auf Bai Lian.
Sie stieß ihn von sich und ihr Lächeln verebbte jäh - wie kochendes Wasser, das plötzlich gefriert.
Mit zwei Fingern nahm sie träge das Empfehlungsschreiben aus seiner Hand, blies gleichgültig den nicht vorhandenen Staub von der Visitenkarte und sagte mit unbestimmtem Unterton: "Machen Sie Vorbereitungen. Ich fahre nach Xiangcheng."
**Zwei Tage später in Xiangcheng**:
Die entlegenste Grenzstadt des Landes, unberührt von dreijährigen Bemühungen zur Armutsbekämpfung.
Hier gab es keine entwickelten Verkehrssysteme, geschweige denn viele hohe Gebäude.
Bai Lian stand unterhalb der Stadtmauer, schlug die Kapuze ihres Sweatshirts zurück und blickte empor.
Die antiken Mauern, über Jahrtausende verwittert, stürzten ein, und Moos gedieh in den schattigen Bereichen, flankiert von Reihen träger Banyanbäume, durch deren Lücken Licht und Schatten flirrten und tanzten.
In ihrer einen Hand hielt sie einen schwarzen Rucksack, und unter ihren Füßen brannten fünf Räucherstäbchen, deren Rauch in den klaren Himmel aufstieg.
Ein kleiner Junge, der auf dem Boden kauerte und auf ein großes Wasserrad starrte, warf zwei Blicke auf sie. Da sie sich jedoch nicht weiterbewegte, starrte er weiter auf das Wasserrad.
Ein Klingeln des Handys riss Bai Lian aus ihren Gedanken.
"Alian, bist du noch nicht da?" Es war die vorsichtige Stimme ihrer Tante mütterlicherseits in Xiangcheng.
Bai Lian griff nach ihrem Rucksack und schwang ihn auf ihren Rücken. "Ich bin gleich da."
In der Ferne fiel ein Wassertropfen und verschmolz mit dem Staub.
Sie sah zu, wie die Räucherstäbchen bis auf die Stummel niederbrannten, bevor sie die Kapuze ihres Sweatshirts über ihren Kopf zog und sich in Richtung Bushaltestelle aufmachte.
Außerhalb von Xiangcheng verlief ein Graben, der sich teilte und in die Stadt mündete. Vor den Toren der Stadt thronte eine große hölzerne Windmühle über dem Wasser, die sich in gemächlichem Tempo drehte.
Der kleine Junge Yu Guang, der ihren Aufbruch bemerkte, entschloss sich schließlich, ihr zur Bushaltestelle zu folgen.
Bai Lian stand im Schatten der Bäume und blickte auf ihren kleinen Begleiter herab, der ihr kaum bis zur Taille reichte. Ihre schlanken Fingerspitzen ruhten auf ihrem Telefon, während sie lässig tippte.
Dieser kleine Freund hatte ihr gefolgt, seit sie gemeinsam am Bahnhof in den Bus gestiegen waren.