20.00 Uhr am Red Street Market.
Die Polizeistation und das Rathaus waren bereits vor zwei Tagen evakuiert worden.
Im Gegensatz zu den Orten, die durch die Schlacht zerstört worden waren und wieder aufgebaut werden mussten, hatte der Red Street Market bereits wieder seine Pforten geöffnet.
Die gesamte Straße war hell erleuchtet, es herrschte reges Treiben und die Menschen bewegten sich. Die rangniedrigsten Bandenmitglieder winkten mit ihren Händen aus den dunklen Gassen, während sie auf Leute warteten. Sie verhandelten eine Weile, bevor sie eilig ein einstöckiges Haus betraten.
Am Eingang eines erstklassigen Clubs warben elegante Hostessen um Kunden aller Art, von alten Säufern bis zu unbeholfenen Jungfrauen, von Menschen aus einflussreichen Familien bis zu übel riechenden Händlern. Mit ihrem blendenden Service und ihren auffälligen, nackten Körpern verschlangen sie die Geldbörsen ihrer Kunden.
Das Beste waren die zahlreichen, adrett gekleideten Kutscher. Ihre unauffälligen Luxuskutschen trugen keine Schilder oder Embleme... Sie hielten an den verschiedenen Clubs an. Ihre Dienerschaft lud dann die Damen, die aus den Clubs kamen, sehr respektvoll in die Kutschen ein und fuhr weit weg. Sie kehrten erst am nächsten Tag zurück. Das waren die wirklich extravaganten und mächtigen Kunden. Ihre verborgenen Identitäten hätten selbst die Chefs der großen Clubs erzittern lassen.
Alles war noch genau so wie vor zwanzig Tagen. Es war, als hätte der Red Street Market den blutigen und beängstigenden Bandenkampf gar nicht erlebt, als hätten die Beschützer der Straße und die Steuereintreiber nicht von der Blood Bottle Gang zur Black Street Brotherhood gewechselt.
Alles, außer dem Red Street Market Centre.
Die Ruinen von einem Dutzend Häusern, die durch eine vom Luftmystiker ausgelöste Explosion zerstört worden waren, lagen dort auf dem pechschwarzen Platz.
An diesem pechschwarzen Ort waren Dutzende von Menschen damit beschäftigt, den Schutt auszugraben. Das Geräusch von Eisen, das sich in die Erde grub, war ununterbrochen zu hören.
Im Mondlicht trug einer der Sechs Mächtigen der Bruderschaft, der Chef des Geheimdienstes, Kobryant Lance das schlaflose Auge, einen scharlachroten Umhang. Er stand in der Mitte der Ruinen. Als er die Dunkelheit um sich herum und die zahlreichen Lichter in der Ferne betrachtete, konnte er nicht anders, als die Stirn zu runzeln.
Es ist zu nahe...', dachte er.
Das Geschäftsfeld dieses Clubs ist zu nahe an unserer Ausgrabungsstätte.
In der Ferne pfiff einer der Schlaflosen. Das war ein Signal. 'Zwei Leute sind vorbeigegangen. Alles ist normal.'
Lance nickte dem anderen Schlaflosen in der Dunkelheit zu.
Er sah jedoch, dass im obersten Stockwerk des Clubs nebenan das Licht anging. Das Licht erreichte die Straße an ihrem Standort und beleuchtete sie. Lance schnaubte.
"Es ist zu nah..."
Hinter ihm machte sich ein Schlafloser sofort auf den Weg und unterhielt sich kurz mit einem anderen Mitglied der Bruderschaft. Letzterer ging dann zügig in Richtung des Clubs.
Wenig später erloschen die Lichter des Clubs, und die Ruinen wurden wieder in Dunkelheit gehüllt.
Lance nickte.
Wir hätten Rick das Verbot der Geschäftszeiten verlängern lassen sollen. Das beeinträchtigt unsere Arbeit zu sehr. Schließlich können wir das nur nachts machen.'
Doch Lance wusste, dass es besser und schneller war, die Adligen einfach einen Teil ihres Territoriums an die Bruderschaft abtreten zu lassen, als dem Red Street Market den Geschäftsbetrieb zu verbieten und die Adligen einen weiteren Tag aushalten zu lassen.
Lance schritt langsam vorwärts.
Es waren zehn Tage und zehn Nächte vergangen. Sie hatten ein ganzes zehn Meter tiefes und zwanzig Meter breites Loch unter dem Schachzimmer gegraben. Doch sie hatten nichts gefunden.
Im Moment können wir uns noch hinter Ausreden wie "Suche nach Spuren des Luftmystikers" oder "Herausfinden der Wahrheit hinter dem Tod der Talon-Geschwister und Moria" verstecken. Wenn wir es aber immer noch nicht finden können, riskieren wir, von bestimmten Leuten entdeckt zu werden", dachte Lance feierlich.
'Keine geheimen Sachen oder Leichen. Nichts ist in der Dunkelheit verborgen, nicht einmal Giftschlangen. Außerdem gehört der Red Street Market jetzt schon der Bruderschaft.
Zum Glück hat der Luftmystiker mit seiner Explosion die Umgebung zerstört. Sonst hätten wir uns den Kopf zerbrechen und mit den einflussreichen Hausbesitzern im Red Street Market sprechen müssen. Dann müssten wir ihnen die Rechte an ihrem Eigentum abnehmen, bevor wir mit den Ausgrabungsarbeiten beginnen können.
Die derzeitige Situation ist aber gar nicht so schlecht. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte es mehr als anderthalb Jahre dauern können, bis die Ausgrabungen überhaupt beginnen können. Aber dieses Mal haben die Ausgrabungen bereits einige Tage nach der Einnahme des Red Street Market begonnen.
Wenn man ohne Grund gräbt, ist es natürlich schwieriger, die Dinge geheim zu halten.
Das heißt, ich muss schneller graben.' Lance konnte nicht anders, als deprimiert zu sein.
In diesem Moment rief eine raue und triumphierende Stimme aus der Ferne: "Ich habe es gefunden!"
Lance konnte nicht anders, als sich zu bewegen. Er winkte einen der Schlaflosen weg und ging zügig weiter.
"Ich habe es gefunden, Kobryant!" Eine große, schlanke Gestalt hielt einen langen Gegenstand in der Hand, der in ein Stück Stoff eingewickelt war, als er auf sie zukam.
Dieser Mann hatte ein langes und schmales Gesicht. Er hatte dunkelblondes, lockiges Haar, das ihm über die Schultern fiel. Unter der rechten und linken Rippe sowie an der Taille trug er schwarze Lederriemen, die seine drei Dolche hielten. Um seine beiden Arme waren dicke Bandagen gewickelt. Der Mann war groß, nur wenig kleiner als der zwei Meter große Cenza. Es war schade, dass sein dünner Körper sein äußeres Erscheinungsbild beeinträchtigte.
Der "Ripper" Anton Lewandowski, einer der Sechs Kraftpakete der Bruderschaft, war der Anführer, der für den Schmuggel strategischer Ressourcen wie das Ewige Öl und das Kristalltropfenerz verantwortlich war. Er hielt den langen, mit Erde bedeckten Gegenstand aufgeregt in seinen Armen, als er sich Lance näherte.
Hinter ihm befand sich eine weitere dicke Gestalt, ebenfalls einer der Sechs Machthaber. Morris, der für den Menschenhandel zuständig war, ging auf die beiden zu und war verärgert.
"Das muss es sein! Ich habe es ein wenig geöffnet, um einen Blick darauf zu werfen... Wow. Es sieht genauso aus wie auf dem Bild..." Antons Stimme klang mit seinem rüpelhaften Akzent besonders durchdringend.
"Man hätte nie gedacht, dass es nach zehn Tagen Graben und fast bis zum Abwasserkanal reichen würde, dass es nicht unter der Erde vergraben ist, sondern in einer Trennwand zwischen dem Kellerboden und dem Erdreich versteckt ist. Wenn ich nicht beim Pinkeln darauf getreten wäre... Hahaha. Ich habe schon einmal gesagt, dass wir uns die Dinge nicht zu sehr verkomplizieren sollten. Du und Morris, ihr habt zehn Tage lang wie Idioten im Boden gegraben... Hahaha..."
Hinter ihm verschränkte Moris die Arme, knirschte mit den Zähnen und sah unglücklich aus.
"Ich bin nur fünf Minuten gekommen und habe daran gedacht, zu pinkeln, bevor ich gehe..."
Lance, der das schon seit mehr als zehn Sekunden ertragen hatte, konnte es nicht mehr ertragen. In den letzten zehn Jahren konnte dieser Nedanese von der östlichen Halbinsel nie aufhören zu schwafeln.
"Halt's Maul, dünner Mensch!" Lance packte den langen Gegenstand von Anton energisch, ungeachtet des Schmutzes darauf. Seine Hand zitterte, als er es öffnete.
Anton wollte noch mehr sagen, aber Morris stieß ihn böswillig von hinten an und brachte ihn ins Straucheln.
"Dickerchen... Vielleicht bist du eifersüchtig, dass ich..."
"Halt die Klappe, Anton!" brüllte Morris wütend.
Lance bedeckte ihn wieder sanft mit dem Tuch.
"Richtig", sagte Lance leise. Doch er konnte die Aufregung in seiner Stimme nicht verbergen. "Das ist es!"
Lance hielt das Objekt, als würde er seine Geliebte sanft streicheln. "Nach so viel harter Arbeit, den Red Street Market zu erobern, ohne den Mystic oder den Geheimdienst zu alarmieren - es hat sich endlich gelohnt!"
"Hey." Anton sah unglücklich aus, als er seine Hände öffnete. "Wer sagt denn, dass wir den Seher nicht gestört haben? Wer, glaubst du, hat diesen Ort in den Ruin getrieben?"
Morris sagte ruhig: "Das Auftauchen des Luftmystikers war nur ein Zufall. Selbst das Schwarze Schwert konnte ihn nicht herauslocken. Allerdings weiß der Mystiker nichts von diesem Objekt. Ich dachte jedoch, dass Asda wissen könnte, worum es sich handelt, weshalb er die Gelegenheit, das Schwarze Schwert zu töten, verstreichen ließ und in die Hauptstadt zurückeilte. Normalerweise mischt er sich in die Kämpfe um die kleinen Territorien ein - vielleicht weiß er, dass wir nach einer Waffe suchen, mit der er fertig werden kann."
"Aber wir haben sie bereits gefunden, direkt vor der Nase des Luftmystikers", sagte Lance, während er sich die Umrisse des Objekts ansah.
Als sie über den Luftmystiker sprachen, wurden die drei für einen Moment still.
"Als ich die Nachricht erhielt, dachte ich, dass du und Cenza auf dem Red Street Market sterben würden". Lance brach das Schweigen und seufzte.
Morris ließ den Kopf hängen. Seine Augen waren in Dunkelheit gehüllt. "Wir hatten Glück. Du hättest Moria und die Talon-Geschwister sehen sollen. Er mag es immer noch, Menschen zu menschlichen Eiern zu zerquetschen."
"Was ist mit ihm geschehen?" Antons Augen zeigten einen überraschten Ausdruck.
Lance hielt das Paket fest und schloss die Augen. "Er ist vermutlich auf seinen Erzfeind gestoßen, aber tot ist er sicherlich nicht."
Anton presste die Zähne hart aufeinander. Gemischte Gefühle aus Angst und Hass quälten ihn. "Es sind nun 12 Jahre vergangen... Und doch traue ich mich nicht zu glauben... Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie das Schwarze Schwert ihn dreimal niedergestreckt hat... dreimal..."
Morris knirschte finster mit den Zähnen. "Dann ist er wieder auferstanden. Innerhalb von zwei Stunden ist er dreimal von den Toten wiedergekehrt."
"Viermal", fügte Lance leise hinzu. "Charleton hat das Geschöpf ein weiteres Mal getötet, nachdem das Königshaus außerhalb der Tore des Kaiserpalastes vergiftet wurde."
Die Stimmung unter den Dreien wurde augenblicklich schwer und düster.
Anton betrachtete den länglichen Gegenstand. Mit Zweifeln und fortwährender Furcht fragte er: "Wir suchen seit über einem Jahrzehnt danach, aber ist dieses Ding wirklich von Nutzen? Dieser Kontinent ist schließlich voller antimystischer Waffen."
Lance zögerte nicht mit seiner Antwort: "Diese Dinge können den Einfluss der mystischen Macht nur geringfügig schwächen. Einzig die legendären antimystischen Waffen des souveränen Staates können es mit einem Mystiker aufnehmen. Das hat Morat mir erzählt, als er noch Teil des Geheimdienstes war."
"Ich bin nicht besonders geneigt, deinem ehemaligen Chef Glauben zu schenken." Antons Gesichtsausdruck wandelte sich, als er sich an etwas zu erinnern schien und er schauderte zusammen. "Dieser alte Mann... sogar sein Speichel ist giftig."
Morris betrachtete ihn besorgt: "Hat der Geheimdienst des Königreichs sich nicht in unsere derzeitige Operation eingemischt? Schließlich handelt es sich hier, deiner Aussage nach, um eine legendäre antimystische Waffe, die nirgendwo verzeichnet ist. Das ist noch ernster als der Besitz einer mystischen Waffe für den Eigenbedarf."
'Mystische Waffen zum Privatbesitz, hmm?' In seinem Herzen drückte Lance verachtend aus.
'Der Besitz einer mystischen Waffe würde nur den Tod bedeuten. Aber eine legendäre, in den Aufzeichnungen nicht vermerkte antimystische Waffe zu verbergen? Pah.'
Doch Lance schüttelte lediglich den Kopf. "Der König ist fast 48 Jahre alt. Die Auswahl der Adligen ist für sie bereits genug des Problems. Zudem hatte ich schon mit Eckstedts Geheimkammer zu tun. Wenn Ramon die ganze Aufmerksamkeit der geheimen Nachrichtenabteilung auf sich zieht, wird Morat unser Ziel nicht entdecken. Ich kenne meinen Lehrer nur zu gut."
"Es ist ein Glück, dass weder der Mystiker der Blutflessenbande noch die geheime Nachrichtenabteilung die Wichtigkeit dieser Sache kennen..." sinnierte Lance, während er das in Stoff eingewickelte Objekt liebkoste.
"Richtig. Sollen wir Cenza, Fischer und Roda nichts von der Wahrheit über dies alles erzählen?" Als Anton von den anderen drei Kraftpaketen sprach, imitierte er die anderen beiden Männer und zog eine nachdenkliche Miene. "Am Ende hat sich der Luftmystiker ja verflüchtigt."
Lance schüttelte feierlich den Kopf und reichte das Paket an Morris weiter. "Nikolaj und Catherine sind ausgezogen, um den Blutmystiker zu suchen. Glaubt mir, ich habe die Aufzeichnungen des Geheimdienstes gesehen. Im Vergleich zu Seiner Hoheit Midier ist Asda mit dem Blutmystiker wesentlich ehrlicher und freundlicher."
"Nur wir drei Kraftpakete sowie das Schwarze Schwert reichen aus, um mit den Mystikern fertig zu werden. Die anderen wären sicherer, wenn sie weniger wüssten." Morris nickte und verpackte den Gegenstand sorgfältig. Dann sagte er mit ernster Stimme: "Für die ehemals Neun Machthaber."
Auch Anton und Lance verkündeten feierlich: "Für die ehemals Neun Machthaber."