"Können Sie genau beschreiben, was beim Einsturz der Mine passiert ist?" fragte Roland.
Anna nickte und begann zu erzählen.
Roland war überrascht, denn er hatte erwartet, dass sie schweigen oder ihn wütend beschimpfen würde, aber sie beantwortete alle seine Fragen kooperativ.
Es war keine komplizierte Geschichte. Annas Vater war Bergmann und arbeitete, als das Bergwerk einstürzte. Unmittelbar nachdem sie von dem Unglück erfahren hatten, machten sich Anna und die Familien der anderen Bergleute auf den Weg, um ihre Angehörigen zu retten. Es hieß, das Gebiet der North Slope Mine sei eine verlassene Monsterhöhle mit vielen verzweigten Gängen, die in alle Richtungen führten. Da die Freiwilligen alle auf eigene Faust handelten, trennten sie sich am Eingang der Mine, und nur Annas Nachbarn Susan und Ansgar waren an ihrer Seite, als sie ihren Vater fand.
Das Bein ihres Vaters war unter einem mit Erz gefüllten Karren zerquetscht worden, so dass er bewegungsunfähig war, aber an seiner Seite war ein anderer Bergmann, der ihn nach Geld abtastete. Als der Plünderer die beiden sah, stürzte er sich mit einer Spitzhacke auf Ansgar und schlug ihn zu Boden, aber als er sie schlagen wollte, tötete Anna ihn zuerst.
Annas Nachbarn schworen, ihr Geheimnis zu wahren, und halfen Anna, ihren Vater zu retten. Doch am nächsten Morgen ging Annas Vater auf seinen Krücken hinaus und berichtete den patrouillierenden Wächtern, dass seine Tochter eine Hexe sei.
"Warum?" konnte Roland nicht anders als zu fragen.
Barov seufzte und antwortete: "Wahrscheinlich könnte er eine Belohnung bekommen. Wenn man eine Hexe entdeckt und anzeigt, kann man 25 Goldkönige bekommen. Für einen Mann mit einem verkrüppelten Bein würden 25 Goldtaler für den Rest seines Lebens reichen."
Nach einem Moment des Schweigens fragte Roland: "Dein Gegner war ein starker, erwachsener Mann, wie konntest du ihn also töten?"
Anna lachte, und die Flammen der Fackeln begannen zu zittern wie Wellen auf einer Seeoberfläche.
"Genau wie du denkst, habe ich die Macht des Teufels benutzt", sagte Anna.
"Halt den Mund! Abscheuliche Zauberin!", rief der Gefängnisdirektor, aber jeder konnte hören, wie seine Stimme zitterte.
"Ist das wahr? Ich will es sehen", sagte Prinz Roland unerschütterlich,
"Eure Hoheit, das ist nicht zum Lachen!" Der Oberste Ritter warf ein, während er die Stirn runzelte.
Roland trat hinter seinem Ritter hervor und ging auf die Zelle zu. "Wenn jemand Angst vor ihr hat, werde ich ihn nicht bitten, hier zu bleiben."
"Keine Panik, sie hat ein 'Gottes Medaillon der Vergeltung' um den Hals!", rief Barov, um alle zu beruhigen, aber wahrscheinlich hauptsächlich sich selbst. "Egal wie mächtig der Teufel ist, er kann den Schutz Gottes nicht überwinden."
Roland stand vor den Gitterstäben der Zelle, eine Armlänge von Anna entfernt, und konnte ihr staubiges und zerschrammtes Gesicht deutlich sehen. Ihre weichen Gesichtszüge verrieten, dass sie noch minderjährig war, aber ihr Ausdruck enthielt keine Spur von kindlicher Unschuld. Es lag nicht einmal Wut in ihrem Gesicht, was ihr ein beunruhigendes Gefühl gab, das Roland nur aus dem Fernsehen kannte. Es war das Gesicht eines umherziehenden Waisenkindes, das unter Armut und Hunger gelitten hatte, aber es war auch nicht genau dasselbe. Diese Kinder standen immer mit einem verkrümmten und gebrochenen Körper und einem gesenkten Kopf vor den Kameras, aber Anna nicht.
Bis jetzt hatte sie versucht, mit erhobenem Blick gerade zu stehen und dem Prinzen ruhig in die Augen zu schauen. "Sie hat keine Angst vor dem Tod", erkannte Roland, "und sie wartet auf den Tod."
"Ist es das erste Mal, dass Ihr eine Hexe seht, mein Herr? Eure Neugierde könnte Euch den Tod bringen", sagte Anna.
"Wenn du wirklich die Macht des Teufels hättest, könntest du mit einem Blick töten", erwiderte Roland. "Wenn das wahr wäre, müsste nicht ich den Tod fürchten, sondern dein Vater."
Die Fackeln des Gefängnisses erloschen plötzlich, was definitiv keine Illusion war, denn die Flammen schienen in kleinen Funken zu ersticken. Roland hörte das Keuchen und die Gebete der Männer hinter sich sowie die Stöße von Menschen, die beim Versuch, wegzulaufen, gestolpert waren.
Rolands Herzschlag beschleunigte sich und er spürte, dass er sich an der Grenze zwischen zwei Welten befand. Auf der einen Seite befand sich die Welt des gesunden Menschenverstandes, die genau mit den Gesetzen und Konstanten übereinstimmte, die er kannte. Auf der anderen Seite befand sich eine unglaubliche neue Welt, die voller Geheimnisse und Unbekanntem war. Er stand vor dieser Welt.
"War das Ding um ihren Hals Gottes Medaillon der Vergeltung? Was für ein einfaches und plumpes Medaillon", dachte Roland. Es war eine rote Eisenkette mit einem funkelnden und durchsichtigen Anhänger, der leicht zu zerstören schien, wenn die Hexe nicht gefesselt gewesen wäre.
Roland warf einen Blick auf die Menge hinter ihm, die immer noch panisch Gebete sprach. Schnell griff er in die Zelle, schnappte sich den Anhänger, zerrte an dem Medaillon und ließ die Kette reißen - selbst Anna erschrak.
"Komm schon." flüsterte Roland.
"Bist du eigentlich ein Lügner, eine Art Alchimist oder eine echte Hexe? Wenn du Flaschen und Gläser rausholst und anfängst, Säuren zu mischen, werde ich enttäuscht sein", dachte Roland.
Dann hörte Roland ein knisterndes Geräusch, das Geräusch von Wasserdampf, der sich in der Hitze ausdehnte. Die Umgebung begann sich schnell zu erhitzen, und das Wasser auf dem Boden verwandelte sich in Dampf.
Roland sah eine lodernde Flamme unter Anna aufsteigen, und der Boden, auf dem sie stand, wurde in Brand gesetzt. Die Fackeln hinter ihnen explodierten auf einmal, als hätten sie reinen Sauerstoff erhalten, und gaben ein blendendes Licht ab. In diesem Moment war die ganze Zelle taghell erleuchtet, was die Schaulustigen zu entsetzten Schreien veranlasste.
Als die Hexe sich vorwärts bewegte, bewegten sich die Flammen um sie herum mit ihr. Als sie den Rand ihrer Zelle erreichte, wurden die Eisenstangen, die die Wand bildeten, zu Feuersäulen.
Roland wich instinktiv vor der beißenden und schmerzhaften Hitze zurück. In wenigen Sekunden fühlte er sich in den Sommer zurückversetzt, aber es war eine andere Art von Hitze, die nur von einer Flamme erzeugt wurde und nicht von einer einhüllenden Sommerhitze. Eine Seite seines Körpers war der Hitze der Flamme ausgesetzt, die andere Seite war noch kühl. Roland spürte sogar, wie ihm der kalte Schweiß den Rücken hinunterlief.
"Sie hat wirklich keine Angst vor Feuer", dachte Roland.
Roland erinnerte sich an die Worte des stellvertretenden Ministers. Erst jetzt verstand er wirklich, was er meinte.
Wenn sie eine echte Flamme ist, wie könnte sie sich dann fürchten?
Bald färbten sich die Eisenstangen von purpurrot zu hellgelb und begannen zu schmelzen. Das bedeutete, dass sie auf über 1.500 Grad Celsius erhitzt wurden, eine Temperatur, die für Roland ohne Isoliermaßnahmen praktisch unmöglich zu erreichen schien. Wie die anderen wich er von der Zelle zurück und hielt sich an der äußersten Wand fest.
Hätte er das nicht getan, hätte die Hitze des schmelzenden Eisens seine Kleidung auch ohne direkten Kontakt verbrannt - selbst Annas Kleidung wurde zu Asche und durch einen Flammenball ersetzt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit verschwanden die Flammen.
Alles, was übrig blieb, waren ein paar Fackeln, die leise an der Wand brannten, als ob nichts geschehen wäre, aber Annas verbrannte Kleidung, die heiße Luft und die verbogenen Gefängnisgitter bewiesen, dass es sich nicht um eine Illusion handelte.
Außer Roland und dem Obersten Ritter waren alle anderen Männer zu Boden gesunken, und der Gefängnisdirektor hatte sich vor Angst in die Hose gemacht. Anna stand nun nackt vor der Zelle, und ihre Armfesseln waren verschwunden. Sie verbarg ihren nackten Körper nicht, ihre Hände hingen ganz natürlich an ihrer Seite und ihre blauen Augen wirkten so friedlich wie zuvor.
"Da ich nun Eure Neugierde befriedigt habe, mein Herr", sagte sie, "könnt Ihr mich jetzt töten?"
"Nein." Roland trat vor, wickelte seinen Mantel um sie und sagte mit gezwungen sanftem Ton: "Fräulein Anna, ich möchte Sie einstellen."