Als Leo den riesigen Raum betrat, erloschen die goldenen Gravuren nach und nach. Das goldene Licht schlängelte sich wie eine Schlange aus den Türen heraus. Ein Strang des goldenen Lichts wand sich durch den Boden in den Raum und folgte ihm, während sich der Rest über den Türen außerhalb des Raumes sammelte. Das Licht ließ sich auf einigen Gravuren nieder und bildete eine Phrase:
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Hier ruht der Arkane Kaiser.
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Er war bereits eingetreten und hatte diesen Satz nicht gesehen. Das goldene Licht hinter ihm teilte sich und überzog die Wände. Der ganze Raum erhellte sich, Boden und Wände waren mit Gravuren versehen, die im goldenen Licht glänzten.
Er war zu fasziniert, um ans Weglaufen zu denken. Sein jugendlicher Verstand gab sich der Neugier und dem Staunen hin. Er folgte dem fließenden goldenen Licht zur Mitte des Raumes, den Blick unverwandt darauf gerichtet. Seine Beine trugen ihn wie von selbst weiter, bis er gegen etwas stieß.
Vor ihm stand ein wunderschönes Podest in Brusthöhe. Darauf lag ein riesiges Buch, das offen und mit goldenen Seiten zu sehen war.
Natürlich versuchte er, das Buch zu heben. Doch es war zu schwer und blieb unbewegt. Er klappte das Buch zu, um den Einband zu betrachten.
Ein grüner Smaragd schmückte das Zentrum des Einbands, umgeben von Obsidianmustern. Der Rest des Buches war aus hartem Gold gefertigt. Der gesamte Foliant wirkte deutlich solider als Papier - wie aus Seide, doch so hart wie ein Diamant. Er war aufwendig verziert und deutete auf seine Verwendung hin.
"Es ist ein Foliant. Ein verdammter Foliant.", murmelte er.
Ein Foliant enthielt die Zaubersprüche und das gesamte magische Wissen eines Magiers. Er galt als legendär, da nur mächtige Magier einen solchen anfertigen konnten. In ihnen steckte ein wenig Magie, um die Weitergabe der Sprüche zu vereinfachen. Sie waren das Erbe alter Familien, und nur die höchsten Adligen - die Könige - bekamen überhaupt die Möglichkeit, einen zu besitzen.
Während er das Buch bewunderte, begann der Kratzer, den er hatte, zu bluten. Das Blut sammelte sich an seinem Ellbogen und tropfte letztendlich auf das Buch. Als er es bemerkte, war es bereits zu spät. Ein Tropfen Blut fiel auf den Einband, genau über den Smaragd.
"Verdammt noch mal!", fluchte er.
Er nahm seine Hände vom Folianten und hob sein Hemd, um das Blut abzuwischen. Doch als er sein Hemd hob, war das Blut bereits auf den Smaragd geflossen. Er beobachtete, wie das Blut in den Smaragd einsickerte.
Er ließ sein Hemd los und berührte das Buch, um sicherzustellen, dass das Blut weg war. Der Smaragd leuchtete grell und blendete ihn teilweise. Plötzlich erhellte ein Blitz das gesamte Zimmer. Er spürte ein Vibrieren in seiner Brust, zusammen mit einem reißenden Schmerz in seinem Herzen. Der Schmerz währte nur einen Augenblick. Aber als er endete, sank er auf die Knie und begann zu keuchen.
Nachdem er sich einen Moment erholt hatte, stand er auf. Er blickte zum Podest, um nach dem Buch zu sehen, aber es war verschwunden. Das Podest war leer. Ein stechender Schmerz in seiner Hand lenkte seinen Blick ab.
Er hatte das Gefühl, als würde seine Hand brennen, und sah auf sein Handgelenk, um die Ursache zu finden. Auf dem Teil seines Handgelenks, der unterhalb seiner Handfläche lag, war eine leuchtende Tätowierung eingraviert. Es war ein Buch. Er erkannte es: Es war dasselbe Buch, das auf dem Podest gelegen hatte. Nun befand es sich auf seinem Handgelenk.
Er sah sich um. Es war viel dunkler als zuvor, alle goldenen Lichter waren erloschen. Das einzige Licht im Raum kam von der Stelle, wo der Foliant gestanden hatte. Plötzlich erschien ein Thron aus dem Nichts. Bei seinem ersten Betreten des Raumes hatte er ihn nicht bemerkt. Auf dem Thron saß ein Skelett.Vor dem Thron stand eine Gedenktafel. Er trat näher, um die Inschrift zu lesen.
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Hier ruht der Arkane Imperator. Erweist eurem Meister die letzte Ehre.
Setzt euer Wissen stets zum Guten ein.
Gebt eure Kenntnisse an einen würdigen Nachfolger weiter.
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Er warf einen Blick auf den Folianten an seinem Handgelenk. Dann drehte er sich zu dem Skelett um. Das Skelett lag da wie ein König. Gedankengänge wirbelten in seinem Kopf, da er versuchte, aus den wenigen vorliegenden Fakten Schlüsse zu ziehen.
Die einzige Schlussfolgerung war, dass der Besitzer des Folianten ihn zu seinem Erben erkoren hatte. Ihm wurde klar, dass dies, sollte es stimmen, das Größte sein könnte, was ihm je passiert war.
Leo verneigte sich vor dem Skelett.
"Ich danke Ihnen für diese Chance, mein Herr. Ich werde diese Gelegenheit schätzen und Ihre Prinzipien bewahren."
Als er wieder aufsah, war der Thron verschwunden. Nichts in dem Raum war noch so, wie es gewesen war, als er eingetreten war. Die Gravuren waren nicht mehr zu sehen. Thron und Podest waren nicht mehr da.
Er drehte sich um und sah genau vor sich den Wasserfall, durch den er eingetreten war. Der Foliant war immer noch in seine Haut eingraviert; das Ereignis war also wirklich geschehen. Aber nun glühte der Foliant nicht mehr und war zu einem schwarzen Tattoo verblasst.
Er bemerkte, dass sein Arm nicht mehr blutete. Als er den ersten Schritt machte, fühlte er sich leichter als zuvor. Im Gegensatz zu früher war er voller Energie. Nach ein paar Dehnübungen und Sprüngen zur Aufwärmung machte er sich auf den Weg.
Eine Gestalt tauchte aus dem Wasser auf und spritzte in den See. Es war Leo, der endlich den Wald verließ.
Er schwamm in Richtung des Ufers, das er vorher verlassen hatte. Er wollte sich nicht erschöpfen und schwamm daher langsam. Doch der Lauf außerhalb des Wassers war weiter als das Schwimmen, daher müsste er schneller sein.
Doch seine Pläne wurden sofort zunichte gemacht. Er spürte ein seltsames Beben in der Nähe seiner Beine und blickte zurück. Ein ähnlicher Schatten jagte ihm nach. Es war dasselbe Krokodil, das ihn zuvor in die Höhle getrieben hatte. Diesmal war es ihm näher als zuvor.
"Warum? Warum ist es immer noch hinter mir her?"