Als Atticus in tiefen Gedanken versunken zu seinem Zimmer zurückkehrte, bemerkte er plötzlich einen Mann, der sich ihm näherte. Der Mann war groß, mit einem weißen Schopf und von Kopf bis Fuß adrett gekleidet. Er versperrte Atticus den Weg und betrachtete ihn mit einem durchdringenden Blick.
"Ah, du musst Atticus sein. Du wirkst schwächlich", sagte der Mann unverhohlen.
Atticus fühlte eine Regung der Einschüchterung beim Anblick des kräftigen Körperbaus des Mannes. Gegen diesen Mann hätte er keine Chance, sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen.
"Was erwartest du von einem Fünfjährigen?" entgegnete Atticus und murmelte leise: "Hält er mich etwa für ein Supergenie?"
"Bald werde ich mit dem Training beginnen", verkündete Atticus und versuchte sicher zu klingen.
Insgeheim hoffte er, dass er vielleicht seinen Mentor gefunden hatte. Ursprünglich wollte er, dass Avalon ihn trainierte, und Anastasia hatte zugestimmt, dass er mit sechs Jahren anfangen könnte. Doch nach allem, was nach Ariels Tod geschehen war, war dieser Plan hinfällig geworden.
Ein leises Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Mannes. "Ah, sehr gut. Und wer wird dein Trainer sein?"
"Ich plane, an den regulären Morgenübungen mit den Wachen teilzunehmen", log Atticus in der Hoffnung, überzeugend zu wirken.
Ein amüsiertes Funkeln zeigte sich in den Augen des Mannes. "Wie wäre es, stattdessen mein Schüler zu werden?"
Atticus spürte einen Schub von Aufregung. 'Jackpot!', dachte er, ließ sich jedoch nichts anmerken. "Ich kenne Sie nicht", sagte er vorsichtshalber.
Der Mann lachte. "Nun, dann lass mich mich vorstellen. Ich bin Sirius Ravenstein, Anführer der Rabenvorhut."
Atticus war dieser Name aus seinem Unterricht bekannt. Er zögerte, als würde er nachdenken, und nickte dann. "In Ordnung."
Sirius lachte laut auf. "Ich hätte ein bisschen mehr Überraschung erwartet."
"Naja, du siehst stark aus, daher nahm ich an, du seist jemand Bedeutendes", antwortete Atticus direkt.
"Ein kluges Kind indeed. Doch selbst wenn ich dich zu meinem Schüler machen möchte, musst du noch beweisen, dass du das Zeug dazu hast", forderte Sirius ihn heraus.
Atticus zögerte keine Sekunde, konzentrierte sich und lenkte sein Mana in seinen Arm. Er holte aus und schlug neben sich gegen die Wand, sodass Steinsplitter durch die Gegend flogen. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
"Ist das Beweis genug für dich?" fragte er spielerisch.
Beim Experimentieren mit seinem Mana hatte Atticus herausgefunden, dass er seine Kraft steigern konnte, wenn er Mana in verschiedene Körperteile lenkte. Es bedurfte einiger Übung, doch er begann, die Methode zu meistern.
Auf Atticus' Kraftdemonstration folgte eine kurze Stille, bevor Sirius begeistert auflachte. 'Natürlich ist auch sein Sohn ein Wunderkind.'
Avalon, Sirius, Lyanna und Nathan waren zusammen auf dem Anwesen Ravenstein aufgewachsen und bildeten ein enges Quartett, bekannt als die 'Vier Sterne von Ravenstein'.
Sirius hatte schon immer Avalons enorme Begabung erkannt. Schon in der Jugend ragte Avalon mit seiner ihm innewohnenden Stärke heraus.
Doch hätte er nicht erahnt, dass sein Sohn sich als noch größeres Wunder erweisen würde. Bereits mit fünf Jahren das Erwachen erlebt!
'Und er kann seinen Körper bereits mit Mana verstärken, ein Kunststück, an dem doppelt so alte Menschen oft scheitern. Er ist ein außergewöhnliches Talent!'
Wieder gefasst nickte Sirius Atticus respektvoll zu: "Okay, du hast deine Fähigkeiten deutlich gemacht, Atticus.""Also, wann beginnen wir?" fragte Atticus, eifrig und doch vorsichtig.
Er wusste, wie sehr Anastasia seinen Manakern überwachte, um Anzeichen ungewöhnlicher Veränderungen zu entdecken. Er musste seine Fähigkeiten geschickt verbergen, um sich zu schützen.
Da Sirius als Anführer der Rabenvorhut durch einen strengen Mana-Vertrag ans Leben gebunden war, fühlte sich Atticus sicherer, seine erwachten Fähigkeiten zu zeigen.
"Jetzt", sagte Sirius unvermittelt und schlug schnell zu, traf Atticus' Magen. Der Schlag warf ihn zurück gegen die Wand, und er keuchte nach Luft.
"Regel Nummer eins", sagte Sirius schmunzelnd, "niemals die Wachsamkeit verlieren."
Arya trat hervor, ihre Miene eisig und drohend. "Was machst du da?"
"Ich trainiere meinen neuen Schüler", erwiderte Sirius gelassen, immer noch lächelnd.
Aryas Blick hätte Feuer zum Gefrieren bringen können.
"Wenn du ihm Schmerzen zufügst..."
"Es ist in Ordnung, Arya", unterbrach Atticus und richtete sich mit ihrer Hilfe auf. "Ich habe zugestimmt."
Bei Atticus' Worten milderter Aryas Miene, und Sorge war in ihren Zügen erkennbar. "Junger Herr..."
Sirius entfernte sich, rief noch über seine Schulter: "Morgen um 6 Uhr auf dem Trainingsplatz."
Atticus humpelte zurück in Richtung Zimmer, Arya stützte ihn. Als sie endlich sein Zimmer erreichten, wandte sich Arya an ihn und konnte nicht anders, als zu fragen:
"Junger Herr, warum sind Sie so entschlossen, stärker zu werden? Sie nehmen täglich Mana auf. Es ist ein Glück, dass ich Lady Anastasia nichts davon erzählt habe. Wüsste sie davon, würde sie Sie nie mehr von ihrer Seite lassen."
Anfangs glaubte Arya, Atticus würde unbewusst Mana absorbieren, aber als seine Übungen intensiver wurden, wurde ihr bewusst, dass ihr junger Meister etwas Besonderes war.
Sie hatte viel Mühe darauf verwendet herauszufinden, woher er dieses Wissen hatte, gab die Suche aber schließlich auf, da sie keinen Nachteil darin sah.
"Stalkerin", lachte Atticus und neckte sie. Er hatte anfangs nicht bemerkt, dass Arya ihn beobachtete. Das merkte er erst später.
Natürlich geriet er in Panik, als ihm das klar wurde, aber er beruhigte sich rasch, als er sah, dass Arya still blieb und nichts an Anastasia verriet. Da er nichts an der Lage ändern konnte, entschied er, mit dem Training so fortzufahren, als wäre nichts geschehen.
Arya errötete vor Empörung. "Ich wollte Sie nur beschützen!"
Atticus lachte herzhaft. "Ich danke Ihnen, Arya. Dafür, dass Sie auf mich aufgepasst haben und Mum nichts gesagt haben."
Aryas Herz erwärmte sich bei seiner Dankbarkeit. "Selbstverständlich, junger Herr."
Als Atticus sich auf sein Bett legte, blickte er zu Arya auf. "Ich brauche Stärke, denn das ist der einzige Weg, um zu überleben."
Aryas Augen glänzten entschlossen. "Aber ich werde Sie beschützen."
Atticus hielt ihrem Blick stand, seine Stimme fest. "Hat nicht auch jemand Ariel beschützt? Und trotzdem ist er gestorben. In dieser Welt zählt nur Deine Stärke, Arya."
Aryas Gesicht wurde weicher, in ihren Augen lag eine Mischung aus Entschlossenheit und Verständnis. Sie nickte langsam. "Gut, junger Meister. Dann werde ich an Ihrer Seite stehen, wenn Sie diese Stärke suchen."