Elias wusste bereits, wo sich die Ratte versteckt hielt. Ohne zu zögern, machte er sich auf den Weg zu Adelines Zimmer. In der nächtlichen Stille, als sogar die Vampire sich zurückzogen, huschte er lautlos durch die Korridore. Seine Schritte hallten wider, begleitet von einer geisterhaften Melodie aus Verschwiegenheit und Zorn.
Er hatte nicht vor, die Ratte lebend entkommen zu lassen.
Elias griff nach Adelines Türklinke und drückte sie herunter, nur um ein leises „Klick" zu vernehmen – sie hatte abgeschlossen. Hohnvolles, schlaues Lachen tanzte durch die stillen Gänge. Sie hatte also ihre Lektion gelernt. Gut so. Schließlich besaß er die Schlüssel; es war sein Anwesen, seine Domäne, sein Schlachtfeld.
Elias schnippte mit der Zunge. Die Tür aufzuschließen oder ihre Privatsphäre zu wahren? Er entschied sich dafür, zurückzutreten. Elias kehrte auf dem Absatz um und ging direkt zu seinem Zimmer, nur ein kurzer Gang entfernt. Er betrat leise den Raum und durchstreifte die Finsternis.
"Wie töricht."
Elias lehnte sich mit einer Schulter an eines der riesigen Fenster, verschränkte die Arme und blickte hinab. Tatsächlich, seine Männer waren wachsam und auf den Beinen. Doch in der Dunkelheit erblickte er ein unerfreuliches Paar weinrotbrauner Augen.
Elias' Sehkraft war weit überlegen gegenüber jener der draußen stationierten Vampirwachen. Er konnte kilometerweit in den Wald hinter dem Anwesen blicken und erkennen, welches Insekt gerade über einen Zweig kroch.
Der lästige Leibwächter war also doch nicht so nutzlos, wie Elias angenommen hatte. Zumindest hatte dieser Narr sein Leben riskiert, um Adeline zu retten. Schade nur, dass all die Mühen vergeblich waren.
"Du warst ganz schön umtriebig, während ich fort war", verspottete Elias lautstark. Er drehte seinen Kopf nach links, dort, wo die Wand zu Adelines Zimmer angrenzte. Seine Lippen verzogen sich zu einem zynischen Grinsen.
Wenn der Nektar zu süß ist, zieht er jedes Ungeziefer an – Elias eingeschlossen.
Jetzt, da Adeline ihn, Elias, hatte, war kein Leibwächter mehr nötig. Er würde für ihre Sicherheit in diesem riesigen Schloss sorgen, geschützt durch Tausende schwer bewaffneter Soldaten und unsichtbarer magischer Schranken.
Elias beobachtete weiterhin das versteckte Augenpaar im Gebüsch. Er neigte den Kopf und grübelte darüber, ob er nicht einfach die Exekution des Mannes anordnen sollte. Doch dann würde sein süßes kleines Adeline traurig sein, mit wackelnden Lippen, die Tränen zurückhaltend.
In all den Jahren, in denen er Adeline kannte, hatte sie nie vor ihm geweint. Einige behaupteten sogar, sie habe nicht einmal bei der Beerdigung ihrer Eltern geweint. Sie war stark, auf ihre eigene, kleine Weise.
"Wie unterhaltsam wäre es, ihm dabei zuzusehen, wie er unter ihrer Liebe für mich leidet?", sinnierte Elias laut und sein Lächeln wurde finsterer. Das würde diesem niederen Geschöpf seinen angestammten Platz in dieser Welt weisen.
Ein Diener sollte seiner Herrin dienen, nicht ihr Bett teilen.
Elias war der Meinung, dass die unsterbliche Loyalität einer Jugendfreundschaft viel zu interessant war, um sie zu übergehen.
"Sei froh, du Ratte, denn ich habe soeben dein Leben verschont."
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Elias fand, der Leibwächter sei zu schwach, um tätig zu werden. Was plante er zu tun? Die ganze Nacht im Gebüsch zu kampieren und darauf zu warten, dass Adeline erwachte? Er verhöhnte diesen Gedanken. Von wegen.
Das erste Gesicht, das Adeline beim Erwachen sehen würde, wäre stets das von Elias, und das letzte, das sie sehen würde, wäre ebenfalls das von Elias. Nichts anderes käme für ihn infrage. Wenn sie so tun würden, als wären sie Mann und Frau, dann wollte er, dass sie ihre Rollen zur Perfektion spielten.
"Und dann nahm er sie gefangen in einem brutalen, strafenden Kuss...", las er leise vor.
Mit einem Buch in der Hand lag Elias träge auf der weichen, samtigen Couch in der Farbe frischen Weins und schüttelte langsam den Kopf, während er die Seite umblätterte.
Natürlich, sie las keine Erotik. Doch dieses Geschichtsbuch, "The Rise of Xueyue", las sich angesichts seiner detaillierten Bibliografie fast so.Elias musste schmunzeln, als er sich an ihre Reaktion erinnerte. Sie errötete sofort, entsetzt darüber, dass ihr Geheimnis aufgedeckt worden sein könnte.
Mit geschickter Hand schlug Elias das Buch zu. Jetzt kannte er ihren Geschmack. Er plante, dieses Wissen zu seinem Vorteil zu nutzen.
"Sie wird allen Schlaf gebrauchen können, den sie bekommen kann", sagte er, als er sich von der Couch erhob. Er stellte das gebundene Buch zurück ins Regal. Zwischen den vielen Büchern waren manche, die man nicht einmal öffnen durfte, und andere, die einfach dazu gehörten.
Nun, da er darüber nachdachte, Adeline musste vor Langeweile fast umgekommen sein. Schon als Kind waren Bücher ihre Zuflucht gewesen, und nichts hatte ihr so sehr beim Einschlafen geholfen.
"Aber keine erotischen Bücher mehr für sie." Elias trat vom Bücherregal zurück und warf einen Blick aus dem Fenster.
Die Ratte hatte sich noch immer nicht in die Falle gewagt.
"Wozu lesen, wenn sie das Echte mit einem noch besseren Körper erleben kann?" Durchaus bewusst seines guten Aussehens, zuckte Elias nur mit den Schultern.
Elias ging zügig in den Keller und holte eine Flasche gekühlten Wein. Weniger als eine Minute später war er zurück. Wer ihn sah, würde an nichts anderes denken als an einen Schatten in schwarzer Kleidung und den Wind, der an den Haaren vorbeistrich.
"Wenn ich schon in völliger Langeweile auf den Sonnenaufgang warten muss, will ich es mir wenigstens gemütlich machen."
Er ahnte, dass er Geduld brauchen würde – zumal sie nur durch eine hauchdünne Wand von ihm getrennt war.
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Im Traumland gefangen, ertrank Adeline erneut in einem Albtraum.
Sie war wieder in den dunklen, zerstörten Korridoren. Sie trug ein langes, fließendes weißes Kleid mit gefalteten, durchsichtigen Ebenen, die den Boden streiften und sich zu einer kurzen Schleppe hinter ihr aufspannten. Das Kleid war schmutzig, wie auch ihr Arm, der mit Kratzern und Schnitten übersät war.
Derselbe Korridor, dasselbe Kleid, dieselben zerzausten Haare. Sie raffte die Seiten ihres Kleides und stampfte rückwärts, da sie wusste, dass Vorwärtsgehen zwecklos war.
"H-Hallo, ist da jemand?", rief sie, wohl wissend, dass niemand reagieren würde.
Sie musterte ihre Umgebung. Ihr Kleid raschelte leise, als sie sich umwandte, barfuß inmitten des eleganten Gangs aus modernem Stein und Marmor. Plötzlich begann der Boden zu beben. Sie presste aus Angst die Augen zu.
Es fühlte sich an, als würde der Boden sich unter ihren Füßen bewegen. Bald war anstelle des zerbrochenen und rissigen Bodens ein plüschiger Teppich zu sehen.
Sie blinzelte überrascht und öffnete die Augen.
"Wo…" Adeline atmete aus.
Plötzlich waren die Trümmer des zerstörten Korridors verschwunden. Die Schnitte auf ihrer Haut waren geheilt, das Kleid nicht mehr schmutzig, und ihr Haar war kein Vogelnest mehr. Im Spiegelbild des Fensters sah sie frisch und sauber aus.
"Ich kenne diesen Ort." Adeline drehte sich um und erkannte sofort, wo sie war. Sie hatte diesen Gang erst vor kurzem beschritten.
Adelines Traumland hatte sie zu Elias' Schloss geführt. Das ließ sie fragen, ob der zerstörte Korridor einst zu seinem Schloss gehört hatte. So viele unbeantwortete Fragen schossen ihr durch den Kopf.
Die Menschen ließen sie immer im Dunkeln, in dem Glauben, es sei zu ihrem eigenen Besten.
"Wüssten sie nur, dass es mich zu dummen und gefährlichen Dingen treibt, nur um Antworten zu finden", murmelte sie wütend vor sich hin.
"Was machst du außerhalb des Bettes?", forderte eine angenehme, doch bestimmte Stimme.Adeline hob augenblicklich den Kopf. Ihre Augen weiteten sich und ihre Lippen teilten sich.
Vor ihr stand ein vertrauter Mann. Sie blinzelte ungläubig und hielt ihn für Elias, nur viel jünger. Er schien ein Teenager zu sein, vielleicht etwas älter als siebzehn oder achtzehn Jahre. Er hatte dieselbe Größe und Statur, doch sein Gesicht wirkte merklich jünger.
"Das ist nun schon das zweite Mal, dass du vorgibst einzuschlafen, du verzogene Prinzessin."
Das zweite Mal...?
Adeline öffnete den Mund, um zu antworten, zögerte aber. Etwas stimmte nicht. Aus irgendeinem Grund musste sie zu ihm aufblicken, als sei er der größte Mensch der Welt.
Adeline drehte ihren Kopf zurück zum Fenster. Sie war viel kleiner und sah aus wie eine Neunjährige.
"Dein Vater wäre nicht erfreut, wenn er mitbekäme, dass ich dich weiter verziehe, indem ich dich nach dem Schlafengehen durch das Schloss streifen lasse."
Adeline presste ihre Lippen zusammen. Warum tauchte Elias in ihrem Traum auf? Er hatte gesagt, er kenne sie aus Kindertagen, doch sie hatte gedacht, er hätte sie damals nur flüchtig gesehen. So, wie Verwandte immer fragen: 'Erinnerst du dich an mich? Ich habe dir als Baby die Windeln gewechselt!'
"Ab mit dir ins Bett", sagte er streng.
Adeline wollte etwas erwidern, aber es kam nichts heraus. Elias' Gesichtsausdruck war ernst. Kein Anflug von Lächeln oder Amüsement. Es schien nicht so, als hätte er Spaß daran, sie zu necken, wie er es sonst tat.
Plötzlich seufzte er. "Zwing mich nicht, dich zu tragen."
Adeline runzelte die Stirn. Er stellte sie als verzogenes Mädchen dar.
"Also gut", zischte er.
Elias' große Schritte brachten ihn mühelos näher.
Adeline saß wie festgewachsen am Boden. Sie wollte sich bewegen und etwas sagen, aber sie war wie gelähmt.
Noch nie hatte Elias eine Rolle in ihren Träumen gespielt. Warum erschien er jetzt plötzlich?
Plötzlich erklang eine vertraute Stimme aus ihrem Mund. "Trag mich."
Adeline erkannte, dass sie es gesagt hatte. Doch das war unmöglich! Sie hatte nicht beabsichtigt, diese Worte auszusprechen. Es fühlte sich an, als wäre ihr Körper nicht ihr eigener.
Bevor Adeline sich versah, hob sie ihre Arme.
Elias kniff die Augen zusammen. "Deine Eltern verhätscheln dich viel zu sehr."
Trotz seiner harten Worte bückte er sich und hob sie in seine Arme. Er trug sie mit einem Arm, doch sie fühlte sich sicher an seinem Körper. Ihre winzigen Beine baumelten an seiner Brust.
Adeline wusste, dass sie langsamer als ihre Altersgenossen wuchs. Mit ihren neun Jahren war sie immer noch recht klein. Deshalb machte ihr Vater gerne Scherze darüber.
"Jetzt ist es also besser?", sagte er gereizt, als könne er nicht fassen, dass er sie tragen musste.
Adeline schmollte. Ihre Unterlippe stand trotzig hervor. Bevor sie reagieren konnte, schlangen sich Adelines Arme um seinen Hals und sie vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter. Sie hörte sein lautes, genervtes Seufzen.
Unerwartet tätschelte er ihren winzigen Rücken, während er sie den Flur entlangtrug.
"Eli, Eli", murmelte sie an sein weißes Hemd.
"Was gibt's?", fragte er, jedoch in einem sanfteren Tonfall.
"Ich habe Hunger."
Elias schüttelte langsam den Kopf. "Ich habe dir bereits zwei Tassen warme Milch mit Honig gegeben. Mehr bekommst du nicht."
Wütend trat sie gegen seine Brust. Endlich lachte er. Es war ein sanftes, warmes Lachen, das ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
"Benimm dich", tadelte er sie.
"Eli, Eli", beschwerte sie sich.
Elias hob eine Augenbraue. "Was gibt's?"
"Ich muss dir ein Geheimnis anvertrauen."
Elias war neugierig. Welches Geheimnis ihrer Eltern wollte sie jetzt ausgeplaudern? Sie lauschte immer den Gesprächen ihrer Eltern, eine schlechte Angewohnheit, die aber von den in Diskussionen vertieften Roses nicht bemerkt wurde.
"Ich habe gehört, wie Mommy und Daddy sich gestritten haben", flüsterte sie und zog den Kopf zurück.
"Und?"
"Daddy war wütend… er sagte, Mommy sollte mich nicht anlügen."
Elias nickte, bereit mehr zu erfahren. Er wanderte schweigend durch den Korridor, entfernte sich von seinem eigenen Trakt im Palast.
Elias hatte den Palast eigens für sie gestaltet.
So sehr er es auch leugnen mochte, Elias würde ihr alles geben, was sie verlangte. Ihre Eltern verhätschelten sie, aber Elias tat es umso mehr.
Da sie still blieb, ergriff er die Initiative.
"Und worüber hat deine Mutter gelogen?", fragte Elias.
"Über meinen Geburtstag…"
Elias nickte langsam. Sprachen sie über die Ereignisse ihrer Geburtstagsfeier? Sie würde morgen zehn werden und er hatte ein großartiges Geschenk für sie vorbereitet. Er war sich sicher, dass es ihr gefallen würde.
"Mommy sagt, es ist falsch, meinen Geburtstag an Halloween zu feiern", beklagte sie sich leise.
"Und warum denkt Addison das?"
"Mommy meinte, ich sei eigentlich eine Minute nach Halloween geboren worden."
Elias' Lächeln verschwand. Hatte er sie richtig verstanden?