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Chapter 21 - Der Weiße Wolf

Aila rannte tief in den Wald hinein, ihre Lungen und Beine brannten, doch sie trieb sich unermüdlich vorwärts, während sie an den Bäumen vorbeischoss. Das beglückende Gefühl, ihre Pfoten in die Erde zu graben und sämtliche Details der Natur aufzusaugen, hielt den Schmerz in Schach. Sie fühlte sich immer noch ein wenig schwach von dem Wolfsbann, aber es war nichts, was sie nicht bewältigen konnte.

Ihre Ohren zuckten, sie drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch donnernder Pfoten kam. Ihr Körper spannte sich an, als ihr Blick auf einen schlanken schwarzen Panther fiel.

"Aila, warte auf uns! Du hast dich so schnell verwandelt. Damit haben wir nicht gerechnet!" Finn stellte eine Gedankenverbindung her. Seine früheren Bedenken waren offenbar vergessen, denn seine Stimme klang aufgeregt.

Aila fixierte den sich nähernden braun-grauen Wolf, von dem sie annahm, dass es Finn war. Es war seltsam, sie schien sogar ein wenig größer als er zu sein, obwohl er in menschlicher Form über ihr aufragte. Der Panther an seiner Seite stieß ein lautes, furchterregendes Brüllen aus, wie es nur diese majestätischen Tiere vermögen. Das Geräusch erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Ajax' Augen funkelten in der Sonne, bevor er an ihr vorbeisprintete. Malia übernahm sofort die Führung und jagte ihm spielerisch nach.

Als sie tiefer in den Wald vordrangen, konnte Aila nicht umhin, Ajax' Lauf in Panthergestalt zu bewundern. Er wechselte blitzschnell die Richtung, seine Hüften wirbelten von einer Seite zur anderen und zeigten seine Beweglichkeit. Um mit ihm Schritt zu halten, wäre sie beinahe gegen einen Baum gelaufen. Doch als der Wald sich zu einer Lichtung öffnete, sprintete sie an ihm vorbei, die Kraft in ihren Beinen trieb sie so schnell sie konnte.

Den ganzen Tag liefen, spielten und jagten die drei in den umliegenden Wäldern. Aila und Finn überließen ihren Wölfen das Kommando, ließen sie zusammen spielen und einander kennenlernen, während Ajax in der Nähe weiter Hirsche jagte. Nach einigen Stunden verschmolz Malia wieder mit ihrem Geist und überließ Aila erneut die Kontrolle. Sie trabte gemeinsam mit Finn zu einem See, in dem sich die Berge dahinter spiegelten.

Sie ließen sich vor dem See nieder und genossen die Aussicht. Kurze Zeit später erschien Ajax, der sich langsam näherte; sein Maul war bedeckt mit frischem Blut, das er bald im See abwusch. Er ließ sich neben ihnen nieder und genoss die Stille.

Aila sah, wie sehr sie die freie Natur genossen; das Einatmen frischer Luft schien fast wie ein Rausch für Süchtige. Kein Wunder – Ajax war fünf Jahre lang gefangen gewesen, Finn sogar acht, soweit sie sich an seine Erzählungen aus ihren gemeinsamen Gefangenschaftstagen erinnern konnte. Aila legte ihren Kopf auf ihre Pfoten und blickte zu Finn hoch, der die Luft schnupperte und die Augen zusammenkniff.

Ihre Gedanken wanderten zurück zum Beginn ihrer Entführung. Es schien, als lägen Jahre zurück und gleichzeitig, als wäre es erst gestern gewesen. Sie wusste, dass seit ihrer Flucht einige Tage vergangen waren, aber die veränderte Landschaft und die Tatsache, dass sie jetzt buchstäblich ein Wolf war, überwältigten sie.

"Finn, hast du gewusst, dass ich Adel bin, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind?" Sie stellte eine Gedankenverbindung zu ihm her. Ihre Frage überraschte ihn, als er seinen Kopf zu ihr drehte.

"Wieso fragst du?" antwortete er mit einer Gegenfrage, seine Stimme klang nachdenklich.

"Nun, du bist ja auf die Knie gegangen..." Sie brach ab und erinnerte sich lebhaft an jenen Moment, von dem wahnsinnigen Mann, der sie am Hals festhielt, bis zu ihrer Unterwerfung am Boden.

"Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe nie zuvor einen Adeligen getroffen. Ich kannte sie nur vom Hörensagen, aber ich spürte eine gewisse Macht, die von dir ausging, als wir uns kennenlernten. Ich wusste sofort, dass du jemand bist, dem ich folgen und den ich beschützen würde." Finn legte seinen Kopf auf seine Pfoten, sodass die beiden einander auf dem Boden anblicken konnten. Aila wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Stattdessen machte sie einen Scherz: "Nun sind also nur noch du, ich und Ajax übrig im Gefangenenzirkel."

"Ja, und du bist die Luna", scherzte Finn über die Gedankenverbindung."Hmm, das ist eine Menge Druck. Finn..." Sie lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, nachdem er begonnen hatte, die Umgebung zu mustern, "Hast du nicht vor, zu deiner Familie zurückzukehren?"

Seine Wolfsohren flachten ab und ein leises Wimmern entwich seinem Maul: "Sie sind tot. Die Jäger... sie haben mein Rudel dezimiert, meine Familie getötet. Ich war der Einzige, der überlebte. Sie beschlossen, mich zu verschonen und nicht in das Feuer zu werfen, das sie für die Leichen entfacht hatten. Und der Rest ist Ihnen bekannt. Acht lange Jahre später sind wir nun hier." Seine Stimme erfüllte sich mit Trauer, während er in die Ferne blickte.

Aila zog scharf die Luft ein, schockiert von dem, was Finn durchmachen musste: "Das tut mir so leid. Sie zerstören wirklich Leben."

Ihr Gespräch endete dort, beide waren von ihren eigenen Gedanken gefangen. Keiner von ihnen fühlte sich unbehaglich in der Stille, die sie in ihrem gemeinsamen Gedenken an die Menschen, die sie verloren hatten, umgab.

"Aila," kam Kanes Stimme über die Gedankenverbindung, "es wird gleich Sperrstunde. Alpha Damon wird nicht erfreut sein, wenn du im Dunkeln noch im Wald bist."

"Was zum Teufel? Ausgangssperre?" Malia spottete über seine Worte. Sie war still geworden, nachdem sie im Hintergrund eingeschlafen war.

"Ich schätze, wir sollten zurückkehren. Die ganze Rennerrei mit Eisenhut in meinem System hat mich müde gemacht." Aila seufzte und richtete sich wieder auf alle Viere. Malia wollte entgegnen, aber gab Ailas Aussage recht. Sie hatten viel erreicht, immerhin war sie zwei Tage ans Bett gefesselt gewesen; sie mussten sich erholen.

"Scheinbar gibt es eine Ausgangssperre", teilt Aila Finn über die Gedankenverbindung mit, nachdem sie aufgestanden war. Er richtete sich sofort auf, seine Ohren spitzten sich, während seine Augen etwas Ungekonnntes in der Ferne fixierten.

Er war nicht aufgestanden, weil sie sich anschickte zu gehen, sondern weil etwas seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Aila drehte sich um als sie in der Ferne ein Knacken von Zweigen hörte. Ihr Pelz sträubte sich und ihre Ohren spitzten sich; alle drei waren nun aufmerksam. Ajax schlich herum und gab kleine Zirpgeräusche von sich. Er war unruhig, sein Blick in die Ferne gerichtet.

"Wenn er nur mit uns reden könnte, uns sagen, was los ist. Ich wette, die Stille ist für ihn unerträglich", sagte Aila, während sie den schwarzen Panther und die Bäume vor sich beobachtete.

Finn schnaubte: "Er wird mir ein Ohr abkaufen, wenn wir uns zurückverwandeln. Aber seine Körpersprache sollte dir zeigen, dass er einen Weg hat, mit uns zu kommunizieren. Er kann etwas draußen spüren, genauso wie wir."

Ailas Anspannung wuchs, als ihr Blick auf einen goldbraunen Wolf fiel, der zusammen mit anderen in den Bäumen erschien; doch der goldbraune Wolf ging gemächlich auf sie zu, scheinbar in Führung. Ajax duckte sich vor, bereit, sich auf die Neuankömmlinge zu stürzen, aber Finn sprang vor ihn und hinderte ihn am Angriff.

"Aila", der goldbraune Wolf trat vor, während Kanes Stimme sich durch die Gedankenverbindung übermittelte, "wir werden dich zurückbegleiten."

"Begleiten? Wir finden unseren eigenen Weg zurück. Danke", erwiderte Aila mit diplomatischer Stimme."Befehle des Alphas", knurrte Kane, seine Ungeduld nicht mehr verbergend, während sein innerer Wolf sich unruhig zeigte.

Aila machte einen instinktiven Schritt nach vorn, als Malia aus den Tiefen ihres Geistes hervortrat und die Kontrolle übernahm. Keine von ihnen mochte es, Befehle zu folgen, und nun verstand Aila, warum. Es war nicht ihre Bestimmung, Befehlen zu gehorchen; es lag in ihrem Blut, Anführer zu sein.

"Aila-", warnte Kane. Ihre Augen begannen zu leuchten und ihre Aufsässigkeit trat deutlich zutage. Doch anstatt auf ihn loszugehen, gewann sie die Kontrolle über sich zurück und drehte sich um, lief in die entgegengesetzte Richtung davon. Ein deutliches Zeichen: Sie griff ihn nicht an, würde jedoch weder seinen noch des Alphas Befehlen Folge leisten.

Zehn Wölfe tauchten augenblicklich aus den umliegenden Bäumen auf. Sie knurrten nicht, aber die Präsenz einer solchen Gruppe sollte jeden einschüchtern, der ihnen über den Weg lief. Aila fletschte die Zähne, eine Warnung an sie, sich zurückzuhalten, ihre Augen funkelten noch immer. Einige unterwarfen sich sofort, legten sich demütig zu Boden, während andere zögerten und langsam auf sie zutraten, die Ohren angelegt, im Kampf gegen die Warnung, die hinter ihrem Gebiss lag.

Plötzlich ertönte ein Heulen in der Ferne, es brachte Aila zum Innehalten und sie schaute in die Richtung des Geräusches. Ein weiterer Ruf durchbrach die Stille und die Erde schien unter der tiefen Stimme des Wolfs zu beben. Die Wölfe in ihrer Nähe antworteten mit ihrem eigenen Geheul.

Ein weiteres Heulen strich über das Land und durchbohrte ihr Herz, das heftig zu schlagen begann, ihr Atem wurde schnell und sie schoss vor Adrenalin; sie war aufgeregt. Fast sofort nach einem weiteren Heulen überkam sie ein animalischer Trieb; ein langes Heulen brach aus ihrer Brust hervor, während sie ihren Kopf in den Nacken warf und ihre Stimme durch den Wald schickte.

Weitere Wölfe traten aus dem Wald hervor und sprangen aufgeregt um sie herum. Als sie ihren Kopf senkte, um die Wölfe um sie herum zu mustern, spürte sie plötzlich einen Ruck und eine Flut von Stimmen hallte in ihrem Kopf wider. Alle waren aufgeregt oder stritten untereinander; sie erkannte, dass sie sich in einer Art 'Rudel-Geist-Verbindung' befand. Doch einige Worte stachen heraus.

"Der weiße Wolf ist zurückgekehrt."

"...die Cross-Prinzessin."

"Sie ist nicht meine Luna..."

Ihr Heulen war ein Zeichen, dass die verlorene Prinzessin des Cross-Clans zurückgekehrt war, um ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen. Doch obwohl das Rudel sowohl aufgeregt war als auch scheinbar wütend auf ihre Erscheinung reagierte, waren ihre Gedanken anderswo. Der heulende Wolf, der zu ihrem Instinkt-Heulen Anlass gab, war verstummt.

Der Wolf, den sie nicht sehen konnte, fühlte sich an wie ein Teil von ihr, wie das fehlende Puzzleteil. Seine Stimme rief sie, als wenn er verführerische Worte direkt an ihr Ohr flüsterte. Während das Rudel weiterhin miteinander sprach oder sie offen anstarrte, rannte sie direkt auf den bewaldeten Schutz zu. Nur ein Gedanke beherrschte ihren Geist: diesen Wolf zu finden.

Aila konnte nicht erklären, warum sie das unwiderstehliche Bedürfnis verspürte, ihm zu begegnen. Doch bei dem Gedanken, ihn zu finden, war sie aufgeregt und nervös.

"Er ist unser Gefährte", rief Malia aus, begeistert bei dem Gedanken, den geheimnisvollen Wolf zu treffen.Was hat das zu bedeuten?" fragte Aila und schlug mit ihren großen Pfoten auf den Boden.

"Ich glaube, das bedeutet, dass er der Richtige ist, unser Seelenverwandter", versuchte Malia zu erklären, aber auch sie war sich der genauen Bedeutung nicht völlig sicher. Wie Aila wurde auch sie fernab von den anderen Werwölfen großgezogen, ohne deren Erziehung zu erfahren.

"Aila, warte", ertönte Finns Stimme in ihrem Kopf. Sie war so aufgeregt, dass sie nicht bemerkte, wie Ajax und Finn ihr folgten, allerdings mit gehörigem Abstand. Trotz des Wolfbanns in ihrem Körper schien sie immer noch schneller laufen zu können als sie.

Aila sprintete weiter, als würde ihr Leben davon abhängen; irgendetwas in ihr zog sie magisch zu dem Wolf hin. Sie schnupperte die Luft und nahm einen unverwechselbaren Duft wahr – frischer Regen auf Erde und Sandelholz, gemischt mit einem Parfüm, das ihr bekannt vorkam. Malia wurde immer wilder; sie keuchte bei dem Gedanken, ihren Gefährten zu treffen.

Der Duft wurde intensiver, als sie einen Hügel erklomm und ein felsiges Terrain erreichte, das einen weiten Blick über das Land bot, einschließlich des Herrenhauses und des dazugehörigen ausgedehnten Anwesens. Malia jaulte enttäuscht, der andere Wolf war nicht da, aber sein Geruch war unübersehbar stark; sie hatten ihn vielleicht gerade verpasst. Aila wollte weitergehen, doch Kanes Wolf sprang ihr entgegen.

"Es ist finster. Du solltest zurückgehen, wo du sicher bist", knurrte er durch die Gedankenverbindung. Aila hielt inne; sie wollte ihre Suche fortsetzen, doch etwas in Kanes Stimme veranlasste sie, einzulenken und umzukehren. Er folgte ihr den Hügel hinunter. Zwei weitere Wölfe schützten ihre Flanken, während Ajax und Finn ihr folgten.

Als das Herrenhaus hinter den Bäumen sichtbar wurde, sprangen die Wächterwölfe zur Seite und verwandelten sich zurück in Menschen, sprangen nackt voraus ins Haus. Kane entblößte dabei seine gebräunte Haut, die gut zu seinem schmutzigen Blond passte und ihm fast ein Surfer-Aussehen verlieh. Aila kam abrupt zum Stehen, noch verdeckt von einigen Bäumen.

Sie wurde sich bewusst, dass ihre Kleidung bei der Verwandlung zuvor zerstört worden war und sie nun nicht nackt herumlaufen konnte. Anders als die anderen, die anscheinend an Nacktheit gewöhnt waren, war sie es aus nachvollziehbaren Gründen nicht.

"Aila, komm schon. Wir werden nicht hinschauen", verband sich Finn gedanklich mit ihr, als er in Sicht kam. Aila schaute dabei zu, wie Ajax voranstürmte und in seine Menschengestalt wechselte; sofort wandte sie sich ab und hörte sein Gelächter.

"Du musst mir etwas zum Anziehen bringen. Ich werde mich nicht vor euch verwandeln", bestand Aila darauf, ihre Privatsphäre zu wahren. Im Gegensatz zu den anderen Werwölfen und Gestaltwandlern war sie nicht so aufgewachsen. Sie wartete lieber auf Kleidung und würde sich dann verwandeln, wenn sie bereit war. Finn lief los und verschwand durch die offenen Terrassentüren. Aila blieb zurück und wartete hinter den Bäumen, ihre Augen durchforsteten ihre Umgebung.

Finn kehrte vollständig bekleidet zurück und brachte ihr einen schwarzen Kapuzenpullover und eine kurze Hose – Kleidungsstücke, die man schnell anlegen konnte. Nachdem er gegangen war, verwandelte sie sich. Diesmal ging es schneller und viel einfacher. Innerhalb von Sekunden stand sie barfuß und nackt in der kühlen Nachtluft da.

Aila griff nach den Klamotten und musterte die Shorts – es war ein Paar in ihrer Größe. Sie fragte sich, ob sie ihr gehörten, denn Alpha Damon hatte ihr schon einmal einen Schlafanzug gebracht, der nun leider in Fetzen lag.

Als sie die Shorts anziehen wollte, hielt sie plötzlich inne. Ein erdiger, waldiger Duft strömte hinter ihr durch die Luft. Eine mächtige Präsenz gab sich zu erkennen, ihre Energie ließ die Haare in ihrem Nacken zu Berge stehen, während der himmlische Duft sie umschlang wie ein Kokon. Sie verspürte ein Verlangen in ihrem Innersten, das fast übermächtig war. Aila brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Alpha Damon hinter ihr stand.