Ravina beschloss, den Gefangenen eine Woche lang zu ignorieren, bevor sie wieder mit ihm sprach, selbst wenn das bedeutete, mit der Suche nach ihrer Schwester zu warten. Es gab keine andere Wahl. Eine Woche war schließlich nicht lang im Vergleich zu der Zeit, die sie bereits auf der Suche nach ihrer Schwester verbracht hatte. Aber unabhängig davon, was sie sich selbst einredete, fiel es ihr schwer, einfach nur zu warten. Also widmete sie sich intensiv ihren Erfindungen.
Jedes Mal ging sie nach draußen, um ihre neuesten Entwicklungen zu testen. Und war sie nicht zufrieden, kehrte sie zurück, um es noch einmal zu versuchen.
"Eure Hoheit, das ist der weiteste Speerwurf, den es je gegeben hat. Großartig." sagte der Soldat.
"Das ist es nicht", widersprach sie ruhig und ging zurück, um eine weitere Verbesserung vorzunehmen. Wieder draußen bat sie denselben Soldaten, es erneut zu versuchen, damit er selbst sehen konnte, ob es einen Unterschied gab und verstehen sollte, was sie zu erreichen suchte.
"Oh", sagte er und beobachtete, wie der Speer in die Luft schoss. "Er besitzt jetzt mehr Wucht."
Gut. Dann war sie auf dem richtigen Weg.
"Es muss genug Kraft sein, damit er, wenn er den Drachen trifft, nicht von deren Haut abprallt. Sie fliegen und bewegen sich, das beeinflusst auch den Aufprall."
Der Soldat nickte nachdenklich und lächelte sie dann an. "Danke für Ihre harte Arbeit, Ihre Hoheit. Dank Ihrer Entwicklungen sind viel weniger von uns gefallen."
Sie starrte ihn nur an. Diese Art von Situationen bereitete ihr Unbehagen. Sie nickte ihm knapp zu und ging davon.
"Ravina!" Plötzlich trat ihr Onkel zu ihr in das Waffenlager. Vermutlich würde er sie wieder wegen des Essens nerven.
"Hast du schon gegessen?"
"Nein."
"Komm. Ich bin spät dran, also esse ich jetzt auch. Gesell dich zu mir, wir müssen etwas besprechen."
Ravina nickte und setzte sich mit ihm zum Essen hin. Ihr Onkel hatte sich um den neuen Gefangenen gekümmert, während sie diesen ignorierte, aber es gelang ihm immer noch nicht, ihn zum Reden zu bringen. Welche Methoden er auch anwendete, Ravina wollte es gar nicht wissen. Seit dem Tod ihres Vaters sah sie, wie kalt und grausam ihr Onkel wurde. Nun ärgerte er sich, keine Informationen aus seinem neuen Gefangenen herauslocken zu können.
Ravina hatte ihm geraten, es gar nicht erst zu versuchen. Bei diesem Gefangenen müssten sie neue Taktiken anwenden. Auch hegte sie den Verdacht, dass der Gefangene sich womöglich absichtlich hatte fangen lassen. Ihr Onkel teilte diesen Verdacht und er war ihr schon einen Schritt voraus. König Malachi könnte dies tun, um einen Krieg zu provozieren. Die Drachen würden nicht schweigen, wenn ihr König gefangen gehalten würde, daher hatte ihr Onkel die ganze Woche damit verbracht, das Schloss noch besser zu befestigen.
"Ich habe Lord Steele eingeladen, am großen Abendmahl teilzunehmen." begann ihr Onkel.
"Danke", sagte Ravina.
Sie wollte nicht heiraten, aber sie wusste, dass sie es müsste, um sicher zu sein. In dieser gefährlichen Welt konnte ihr Onkel jederzeit sterben, und sie benötigte einen männlichen Beschützer. Ein Mann so abenteuerlustig und selbstbewusst wie Lord Steele würde ihr mehr Freiheiten gewähren als jeder andere.
"Du klingst nicht glücklich." bemerkte er. "Willst du nicht heiraten?"
"Doch", erwiderte sie.
"Ravina, sprich mit mir. Ich wünsche mir, dass du glücklich bist."
Sie hob ihren Blick vom Teller. Ihr Onkel sah sie flehend an. Glücklich sein? Was war das überhaupt? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal wirklich gelächelt oder gelacht hatte. Ihr Leben war nicht darauf ausgerichtet, glücklich zu sein.
"Ich habe das Gefühl, ich habe dich im Stich gelassen, als ich dich in all dies hineingezogen habe. Ich weiß, du willst unsere Feinde bekämpfen, und deine Erfindungen waren überaus nützlich. Du warst eine große Stütze, aber ich kann es nicht zulassen, dass du dich selbst opferst, nur damit ich von deinen Erfindungen profitieren kann."
"Du opferst mich nicht. Ich will dies, und mein Glück ist nicht wichtiger als das Leben der Menschen, die sterben."
"Dein Vater und ich haben uns versprochen, auf die Kinder des jeweils anderen aufzupassen, sollte einem von uns etwas zustoßen. Ich glaube, dein Vater wäre enttäuscht von mir, wenn er dich jetzt sehen könnte. Ich denke nicht, dass das sein Wunsch für dich war."
Ravina begann, ihre Nagelhaut unter dem Tisch zu pulen. Das tat sie immer, wenn sie ihre Gefühle zurückhielt.
"Ich wünsche mir, dass du und deine Schwester, wenn ihr gefunden werdet, fernab von all dem lebt und eure eigenen Familien gründet, in denen ihr glücklich seid."
Sie schwieg weiter und blickte auf ihre Hände, während sie ihre Nagelhaut aggressiv bearbeitete und fast zum Bluten brachte.
"Außerdem…" Er senkte seine Stimme. "Ich finde, Lord Steele ist eine hervorragende Wahl. Er ist mächtig genug, um dich zu beschützen."
Ravina sah ihn beunruhigt an. Was deutete er damit an?
Er zwang sich zu einem Lächeln. "Jederzeit könnte mir etwas zustoßen. Ich möchte, dass du das Schloss verlässt, bevor etwas passiert."
Er wusste, dass sein Sohn ihr Schaden zufügen würde.
"Nun, ich möchte, dass du länger am Leben bleibst, als du vielleicht vorhast."
Er kicherte, während er kaute, doch der Klang war irgendwie melancholisch. "Ich kann kaum glauben, dass ich so lange überlebt habe", sagte er, und sein Blick wurde abwesend. Ihr Onkel, genau wie sie, erlaubte sich nur selten, emotional zu werden. "Ich war der Draufgänger, und dein Vater war der Kluge. Unsere Eltern haben immer geglaubt, ich würde zuerst sterben." Er widmete sich wieder dem Zerschneiden des Fleisches auf seinem Teller, um sich abzulenken. Dann nahm er einen Bissen und kaute langsam.'Ravina war sich des Schmerzes bewusst, den er fühlte. Ihr Vater und ihr Onkel waren Zwillinge, einst unzertrennlich, bis sie auseinandergeführt wurden. Ihr Vater, der Erfinder, und ihr Onkel, der Prüfer. Der Kluge und der Unbesonnene, hatte er immer gesagt. Sie kannte das Leeregefühl, das er ohne seinen Bruder empfand – seine andere Hälfte. Sie war erleichtert, dass er den Tod ihres Vaters zumindest nicht miterleben musste, doch ihr einst lebensfroher Onkel war verbittert geworden.
"Aber egal", räusperte er sich, "ich habe Vermögen für dich angespart und Land gekauft. Sollte Lord Steele etwas zustoßen, will ich, dass du sicher bist."
Er plante so vorausschauend, als ob er morgen sterben müsste.
"Geht hier etẉas vor, das ich nicht weiß?" fragte sie.
"Nein, Ravina. Ich bereite mich nur auf die Zukunft vor. Wir sollten immer vorbereitet sein."
Sie nickte und kehrte zurück, um ihr Essen zuende zu essen. Dies war deprimierend und sie fühlte sich ohnehin schon niedergeschlagen. Ihren Onkel tot zu sehen, wollte sie nicht. Es wäre, als müsste sie den Tod ihres Vaters erneut erleben. Allein sein Gesicht gab ihr manchmal die Kraft zum Leben. Es sah genau so aus wie das ihres Vaters. Hätten sie sich nicht so unterschiedlich verhalten, hätte sie keiner auseinanderhalten können, genau wie sie und Corinna.
Den Rest des Tages widmete sich Ravina weiter ihren Erfindungen. Bram führte seine üblichen Experimente durch. "Hast du etwas herausgefunden?" fragte sie ihn.
"Sedativa sind zwecklos. Ich habe verschiedene ausprobiert, starke sogar. Sie wirken nur kurze Zeit, weil die Erholung so schnell erfolgt."
"Lassen wir den Unsterblichmacher beiseite", sagte sie. "Was ist mit Obsidian?"
"Es funktioniert. Seine Majestät nutzt es zur Folter, aber er lässt sich nicht so leicht beugen."
"Glaubst du, dass sie es waren, die unseren Vater getötet haben?" fragte sie unumwunden.
"Ich weiß, die Drachen waren schwarz", sagte Bram.
Ja, sie erinnerte sich. Der schwarze Drache, der ihren Vater getötet hatte, tat dies nicht in Notwehr. Es wirkte, als hätte er ihr gezielt nachgestellt, um sie dann auf möglichst brutale Weise zu ermorden.
Die Azar-Drachen waren die schwarzen Drachen. Es gab auch rote, blaue, grüne und weiße Drachen. Durch Kreuzungen entstanden sogar Hybride mit anderen Farben.
Die schwarzen Drachen galten als überlegen, als die stärkeren, doch die Forschungen ihres Vaters hatten gezeigt, dass die Farbe des Drachens irrelevant war. Es war das Blut, und die schwarzen Drachen hielten ihr Blut meist rein. Sie vermutete dahinter eine Frage der Zucht. Vielleicht war es darum, dass Malachi und sein Clan nicht "einige" waren, die die Menschen als Zuchtmaterial verwendeten. Das würde sie schwächen – und sie waren immer machtbesessen.
Sie lachte spöttisch, und Bram sah von der Flüssigkeit auf, die er gerade untersuchte. "Was ist los?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich habe darüber nachgedacht, wie Zuchtgefährten geehrt und respektiert werden können."
Bram lächelte. "Sie haben eine andere Kultur. Wenn die Fortpflanzung nicht so schnell vorangeht wie bei Menschen, dann werden Zuchtgefährten wohl gesucht und verehrt."
Er verließ den Tisch und holte eines seiner alten Notizbücher heraus. Er blätterte durch die Seiten, und sie wartete, denn sie wusste, er wollte ihr etwas zeigen.
"Ah, hier", sagte er, als er eine bestimmte Seite fand. "Ein Zuchtgefährte ist ein starker Drache, männlich oder weiblich, mit reinem Blut, auserwählt, um starke Nachkommen hervorzubringen."
"Auserwählt von wem?"
"Oft wählen die Ältesten eines Clans einen Zuchtgefährten aus, um die meisten Nachkommen zu zeugen. Oft zusammen mit einem anderen Zuchtgefährten."
"Das klingt grausam", sagte sie. "Und die anderen sollen weniger Nachkommen zeugen?"
"Das sind die Informationen, die wir anfangs hatten, aber während der Forschung mit deinem Vater haben wir herausgefunden, dass Drachen ihren Partner wie die meisten Tiere über den Duft aussuchen. Der Duft gibt ihnen Auskunft über die Gesundheit, die Blutkompatibilität und den richtigen Zeitpunkt zur Paarung. So erkennen sie, welcher Partner der richtige ist, um die gesündesten Nachkommen zu zeugen, und das ist es, was sie einen Zuchtgefährten nennen."
"Ah, das sind zwei völlig verschiedene Konzepte."
"Genau."
"Es geht also vor allem um die Gesundheit. Was ist mit der Reinhaltung des Blutes?"
"Die Kompatibilität des Blutes bedeutet oft, dass das stärkste Blut überlebt oder die stärksten Eigenschaften beider Blutlinien weitergegeben werden. Deshalb ist die Erzeugung gesunder Nachkommen gleichzusetzen mit der Zucht von starken Nachkommen, anders als die- meisten Drachen ursprünglich annahmen. Sie versuchten, das Blut rein zu halten, um sich selbst stark zu machen, und zwangen daher zur Paarung unter reinblütigen Drachen, die oft eng verwandt waren, was ihnen aber nicht zu Gute kam. Es hatte den gegenteiligen Effekt."
Ravina nickte.
"Die schwarzen Drachen scheinen das herausgefunden zu haben. Ihnen wird die längste Lebensspanne aller Drachen nachgesagt, was ihren Clan größer und somit stärker macht. Und es sorgt dafür, dass die guten Eigenschaften des Blutes weitergegeben werden."
Es hätte sie nicht überraschen sollen. Der neue Gefangene war raffiniert, verließ sich nicht bloß auf Kraft. Sie mochte es nicht zu wissen, dass sein Clan dies herausgefunden hatte und nun aufblühte. Diejenigen, die ihren Vater getötet hatten.
Sie würde ihn leiden lassen, doch zuerst das Wichtigste: Er würde ihr helfen, ihre Schwester zu finden.
Taktvoll ignorierte Ravina ihn noch drei weitere Tage. Als dann zehn Tage seit seiner Ankunft verstrichen waren, entschied sie, ihn zu besuchen. Nach all den Qualen der letzten Tage musste er sich in einem schlechten Zustand befinden.