Am nächsten Tag erhielt Arlan eine geheime Botschaft. Ein Informant bat um eine persönliche Unterredung, um vertrauliche Nachrichten aus dem feindlichen Königreich Thevailes zu überbringen. Offensichtlich hatte der Informant beunruhigende Geheimnisse aus dem feindlichen Königreich entdeckt.
Obwohl Arlan nach Wimark gekommen war, um seinen neugeborenen Neffen zu besuchen, schien es, dass die Pflicht rief. Das Leben eines Kronprinzen war wahrlich mühsam.
Arlan willigte ein, den Informanten an einem bestimmten Ort auf dem Markt von Jerusha zu treffen, der Hauptstadt des Territoriums Wimark. Verkleidet als gewöhnlicher Adliger, gab er dem Herzog und der Herzogin vor, einen entspannten Spaziergang durch die Stadt machen zu wollen, bevor er zu den Ställen ging.
Als er gerade sein weißes Pferd bestieg, trat sein ernster Ritter an ihn heran.
"Eure Hoheit", rief Imbert, "der Hauptmann der Stadtwache war da, während Ihr mit dem Herzog speistet, um Neuigkeiten über den Schurken zu berichten, der Euch attackiert hat."
"Haben sie ihn gefasst?" fragte Arlan.
"Es tut uns leid, Eure Hoheit. Wir haben Euch im Stich gelassen", antwortete der Ritter bedrückt.
Der jüngere Ritter Rafal, der hinter Imbert stand, senkte beschämt den Kopf. Er hatte die Ermittlungen geleitet und mit den Männern des Herzogs zusammengearbeitet.
"Es gab keine Spuren von ihm außer den Pfeilen und dem Bogen, die er hinterließ. Es waren gewöhnliche, von Hand gefertigte Waffen, die in keinem Geschäft oder bei keinem Schmied in der Stadt gekauft wurden, also konnte er darüber nicht ermittelt werden", erklärte Rafal.
Arlan lächelte spöttisch. Er wäre überraschter gewesen, hätten sie ihn tatsächlich gefunden - zumal es kein 'er', sondern eine 'sie' war. Obwohl er ihre Erscheinung beschrieben hatte, wusste außer Arlan niemand, dass der Täter eine Frau war.
"Wimark ist groß. Ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir ihn finden", tröstete der Prinz sie.
Eine halbe Stunde später erreichten Arlan und seine beiden Ritter die Hauptstadt des Wimark-Territoriums.
Jerusha war sowohl eine Handelsstadt als auch eine Festung und diente als bedeutende militärische Basis zur Sicherung der Grenze zwischen Griven und Megaris.
Sie war in der nordöstlichen Region des Königreichs sowohl die wohlhabendste als auch die geschäftigste Stadt. Tausende von Menschen strömten täglich herein und hinaus, und es mangelte nie an Kaufleuten aus anderen Gegenden.
Arlan ging unauffällig in der belebten Menge unter, und obwohl sein außergewöhnliches Aussehen einige Blicke auf sich zog, hatte keiner von ihnen einen ausreichend hohen Stand, um den Kronprinzen von Griven zu erkennen.
Die drei Männer hielten vor dem Seiteneingang eines großen Ladens nahe der Hauptstraße an. Ein Händler mittleren Alters mit vorstehendem Bauch begrüßte sie ganz alleine. Dieser Mann war nicht der Ladenbesitzer, sondern der eigentliche Eigentümer des Geschäfts. Um Arlans Identität geheim zu halten, hatte er es verboten, von seinen Arbeitern oder Dienern begleitet zu werden.
"Willkommen, mein Herr."
Arlan wollte gerade den Laden betreten, als er einen vertrauten Duft wahrnahm – jenes angenehme Aroma, auf das er bei seiner Jagd gestoßen war.
Sein Vertrauen in seine Sinne war unerschütterlich, und er würde nicht an sich zweifeln.
'Kurze' ist in der Nähe?'Er drehte sich um und blickte auf die belebte Straße zurück, in der Hoffnung, die Quelle jenes Duftes ausmachen zu können. Aber es waren zu viele Menschen unterwegs, und keine Frau mit langen rotbraunen Haaren war zu sehen.
"Mein Herr, gibt es ein Problem?", fragte der Händler, als er bemerkte, dass sein Gast abgelenkt war.
Arlan wandte sich ihm zu, sein Gesichtsausdruck war freundlich, doch schwer zu deuten. "Die Lage Ihres Geschäfts ist gar nicht so übel."
Der Händler wirkte verwirrt, antwortete aber schnell: "Mein bescheidener Laden verdient solches Lob nicht, mein Herr."
Imbert und Rafal kannten ihren Herrn gut genug, um zu erkennen, dass seine Worte nur nebenher gesprochen wurden. Seine Aufmerksamkeit war sicherlich von einer Person oder Sache von gewisser Bedeutung abgelenkt worden. War es vielleicht eine unerwartete Bekanntschaft? Oder lauerte in der Nähe eine Bedrohung?
Die beiden Ritter blieben wachsam und musterten die Gesichter der Menge nach potenziell feindseligen Individuen.
Der Händler führte sie durch einen Flur in das Innere seines Ladens, fern der Blicke der Kundschaft, die an der Auslage seine Ware betrachtete.
Im Obergeschoss befand sich ein großes Büro, das so geräumig war wie eine ganze Etage. Es glich allerdings weniger einem Arbeitsraum als viel mehr einer Kunstgalerie, geschmückt mit Antiquitäten von überall aus dem Kontinent, was die Reiselust des Besitzers und seine Sammelleidenschaft für Gegenstände aus unterschiedlichen Kulturen offenbarte.
Der Händler hatte noch kein Wort gesagt, da machte es sich Arlan bereits in dem luxuriösen Hochlehnsessel bequem, über den ein Wolfsfell gelegt war. Er überschlug die Beine und saß da, als gehöre ihm der Ort. Die Ritter standen regungslos hinter ihm.
Der Händler verneigte sich und entfernte sich, nur um kurz darauf mit einem Tablett voller Erfrischungen wiederzukehren. Obgleich er der Besitzer des Geschäfts war, sah er sich doch nichts weiter als eine Ameise im Angesicht Arlans.
Er bediente seine Gäste untertänig mit Getränken und trat dann zur Seite. Es wagte nicht, sich in Anwesenheit des Kronprinzen zu setzen.
"Warum nehmen Sie nicht Platz, Albert?", bat Arlan den Kaufmann. "Es ist doch Ihr Büro."
Albert räusperte sich verlegen. Was wie eine freundliche Aufforderung klang, war tatsächlich ein Befehl des Prinzen.
"Ich danke Eurer Hoheit." Er ließ sich auf dem Sofa gegenüber von Arlan nieder.
Arlans Blick wanderte durch das Büro. Er blieb an dem auffälligsten Objekt auf dem Schreibtisch des Kaufmanns hängen.
"Eine Löwenfigur, geschnitzt aus weißer, geäderten Jade aus den Thevailes-Bergen. Von so hoher Qualität, dass sie wohl nur den hohen Adelsgeschlechtern vorbehalten ist." Arlan betrachtete den Kaufmann mittleren Alters. "Offenbar haben Sie ein einträgliches Geschäft mit jemandem gemacht, der mindestens so hoch gestellt ist wie ein Graf."
Die Art, wie Arlan ihn fixierte, ließ Albert einen kalten Schauer über den Rücken laufen. "Nun, ich bin in erster Linie ein Salzkaufmann, Eure Hoheit. Ich bin allerorts willkommen. Wertvolle Geschenke zwischen Geschäftspartnern sind nichts Ungewöhnliches, um die geschäftlichen Beziehungen zu festigen."
Arlan nickte, als zeigte er sich beeindruckt. "Dieser Geschäftspartner muss sehr zufrieden mit Ihnen sein."
"Obwohl uns das Geschäftliche verbindet, bleibt meine Loyalität gegenüber Griven, dem Land meiner Geburt, unerschütterlich", entgegnete der Kaufmann. Sein Gesichtsausdruck wurde düster.
"Ich möchte Ihre wichtigen Angelegenheiten nicht aufhalten, Eure Hoheit. Deshalb will ich direkt sein: In den nächsten Monaten wird ein weiterer Krieg ausbrechen, und dieses Mal wird es nicht nur die Grenzarmee sein, die kämpft. Alle kampffähigen Männer aus dem gesamten Königreich werden zur Einberufung gezwungen."Der Kronprinz reagierte nicht. Während Arlan gemütlich an seinem Tee nippte, fuhr der Händler fort.
"Unter den hohen Adligen von Thevailes geht das Gerücht um, dass König Samer krank ist, einige gehen sogar so weit zu sagen, dass er verrückt geworden ist. Deshalb will er einen weiteren Krieg gegen Megaris führen, obwohl er im letzten Krieg verloren hat."
Arlan hob eine Augenbraue. "Wie kommt so ein Gerücht zustande, wo der König doch noch so jung ist?"
"Der Königspalast von Thevailes hat heimlich alle Arten von seltenen Heilkräutern angehäuft. Ohne meine Verbindungen hätte ich ihr Verhalten nicht bemerkt, denn sie haben nur kleine Mengen über verschiedene Vasallenfamilien gekauft."
Albert holte eine Schriftrolle hervor, die Imbert entgegennahm, bevor er sie an Arlan weiterreichte.
"Das ist die Liste der Kräuter, die sie gekauft haben, und die Hälfte davon wurde über die Grenzen von Hatha geschmuggelt."
Arlan las schweigend die Namen auf der Schriftrolle.
Alraune, Bilsenkraut, Stechapfel...
Eisenhut, Schierling, Nieswurz...
'Heilkräuter? Mehr als die Hälfte von ihnen ist schon seit Jahrzehnten von der Allianz des Königreichs verboten. Anstatt eine Krankheit zu behandeln, scheint es, als wollten sie den ganzen Kontinent vergiften! Was habt Ihr dieses Mal vor, König von Thevailes?'
Der Händler räusperte sich. "Es kursiert ein anderes Gerücht unter den Adligen. Ich weiß nicht, ob sich Eure Hoheit dafür interessieren werden.
"Dem Hörensagen nach hat sich König Samer einst heimlich mit fremden Leuten getroffen, bevor er diese Kräuter sammeln ließ. Er erlaubte nicht einmal seinen vertrauenswürdigsten Rittern, ihn zu begleiten, wenn er sie traf. Manche sagen, diese Leute seien Ärzte, aber die meisten halten sie für Anhänger der schwarzen Magie.
"Das hat sie zu der Annahme veranlasst, dass König Samer an einer unheilbaren Krankheit leidet und schwarze Magie anwendet, um sein Leben zu verlängern."
'Schwarze Magie?'
Arlan erinnerte sich an sein letztes Gespräch mit seinem Freund, dem König von Megaris, Drayce Ivanov.
Drayce erzählte mir, dass die schwarze Hexe, die es auf seine Frau abgesehen hatte, nach Thevailes geflohen war. Hmm, sie muss der Grund sein.'
Er schaute noch einmal auf die Liste der Kräuter.
Ich sollte mir das von Dray bestätigen lassen, wenn ich ihn in Selve treffe. Wenn ich mich nicht irre, sollten sie für die Herstellung von Hexentränken verwendet werden.
Da der Fürst schwieg, wagte keiner der Anwesenden zu sprechen.
Gerade als der Kaufmann die Spannung nicht mehr ertragen konnte, reichte Arlan die Schriftrolle seinem Ritter, der sie in der Innenseite seines Mantels aufbewahrte.
Ein entspanntes Lächeln breitete sich auf dem hübschen Gesicht des Fürsten aus.
"Das hast du gut gemacht, Albert. Erinnern Sie den Finanzminister daran, Ihre Gewerbesteuer in diesem Jahr um die Hälfte zu senken."
Erfüllt von Dankbarkeit verbeugte sich Albert. Er dachte, Arlan würde gehen, aber der Fürst blieb sitzen und gab Rafal ein Zeichen, die Tür zu öffnen.
"Seit wann haben Sie einen Kräutergeschäft eröffnet, Albert?"
"Wie bitte, Eure Hoheit?"
Die Tür des Büros öffnete sich und der Mann, der dahinter stand, fiel auf den Boden. Bevor er begriff, welches Unglück ihm widerfahren war, drückte Rafal ihn auf den Boden.
"Du Taugenichts!" Albert brach beim Anblick des sich wehrenden Dieners plötzlich in Wut aus. "Habe ich nicht befohlen, dass niemand in die Nähe meines Büros kommen darf?!"
"Albert, du scheinst ein schlechtes Auge für Menschen zu haben", sagte Arlan mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht.
"Ich... ich wollte nur helfen... falls der Meister Hilfe braucht", rief der Diener am Boden. "Verzeihung!"
Albert schämte sich und stammelte eine Entschuldigung in Richtung des Prinzen. "Bitte verzeiht diesem törichten Diener, Eure Hoheit..."
Arlan unterbrach ihn. "Ihr seid so ein guter Mann, dass Ihr Euch für einen Untergebenen einsetzt, der Euch verraten hat."
"Verraten?"
"Dieser Mann stinkt nach Kräutern. Ich frage mich, wo er herkommt, bevor er direkt hierher kommt, um zu lauschen?"
Unter Alberts schockiertem Blick stand Arlan auf. "Da ich gut gelaunt bin, werden meine Ritter dir helfen, dich um diesen undankbaren Kerl zu kümmern. Dieser Besuch war sehr angenehm. Ich freue mich auf unsere zukünftige Zusammenarbeit, Albert."
"Eure Hoheit ..."
Arlan schritt aus dem Büro und befahl Imbert, als er durch die Tür trat. "Betäuben Sie ihn und bringen Sie ihn auf das Anwesen."
"Jawohl, mein Lehnsherr."
Arlan trat aus dem Laden und sah sich mit scharfem Blick auf der Straße um.
Dieser Duft, ich kann ihn immer noch riechen. Das heißt, sie ist noch da. Scheint schlechte Nachrichten für sie zu sein.'