Chapter 5 - Umgekehrte Zeit (1)

Adrienne wurde plötzlich von einem stechenden Kopfschmerz übermannt. Sie stöhnte, presste ihre Handfläche gegen ihren Kopf und fragte sich, was vor sich ging. Wie konnte jemand, der den Tod erlebt hatte, wieder unter Kopfschmerzen leiden? Bei diesem Gedanken fuhr sie aus dem Bett hoch, ihre Augen weit aufgerissen, als sie ihre Umgebung betrachtete.

'Wo bin ich?' ging es ihr durch den Kopf, dann bemerkte sie, dass ihr der Raum bekannt vorkam. Sie war schon mehrere Male hier gewesen und konnte den Ort wiedererkennen.

Sie bedauerte ihre plötzliche Bewegung, denn sofort wurde ihr schwindelig. Der starke Geruch von Alkohol stach in ihre Nase. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und Adrienne musste sich mit einer Hand den Mund zuhalten, während sie ins Bad eilte. Sie übergab sich in die Toilette, das Geräusch ihres Würgens durchbrach die Stille der Nacht.

Mondlicht fiel durch das Fenster des Badezimmers und gab Adrienne gerade genug Licht, um einigermaßen sehen zu können. Sie brach in kalten Schweiß aus, als sie auf dem Boden zusammenfiel und darauf wartete, dass das Gefühl des Würgens verging.

Keuchend gab sie sich einen Ruck und zog sich wieder hoch. Die Bitterkeit in ihrem Mund war so intensiv, dass sie sich sicher war, nicht zu träumen.

Sie drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann spülte sie ihren Mund aus. Sich ein wenig besser fühlend, hob sie den Kopf und sah ihr Spiegelbild.

War sie nicht schon tot? Wie konnte es dann sein, dass sie im Spiegel direkt in die Augen ihres jüngeren Ichs blickte?

Es gab keine Augenringe und auch nicht die übliche dicke Schminkschicht, die sie als Teenager immer verwendet hatte. Ihre Haut war immer noch zart, und ihre Haare waren lang, etwas, dem sie seit Jahren keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Adrienne hatte sich selbst vernachlässigt, seit sie geheiratet hatte, und war seitdem auf keinen Fall mehr die Beste.

Als sie ihr Spiegelbild ansah, erschien es, als ob die Zeit wahrhaftig zurückgedreht worden war, und Adrienne hatte noch nicht alles verloren! Gut, sehr gut! Der Himmel schien einer törichten Frau wie ihr Mitleid zu schenken und war bereit, ihr eine weitere Chance zu gewähren.

Adriennes zitternde Hand berührte ungläubig die Seite ihres Gesichts. Wie viel Zeit hatte sie, um die Situation zu ihren Gunsten zu wenden? In welches Jahr war sie zurückversetzt worden?

Sie schleppte sich zurück ins Zimmer und bemerkte, dass es das Zimmer ihrer Mutter war. Sie sah ihre Tasche am Fußende des Bettes, griff danach und durchwühlte ihre Sachen, bis sie ihr Handy fand.

Auf dem Bildschirm stand das Datum, der 28. Mai, der Vorabend ihres achtzehnten Geburtstags. Sie konzentrierte sich, um sich zu erinnern, was zu dieser Zeit geschehen war.Heute hatten sie und Myrtle ihren Geburtstag im Voraus gefeiert. Ihre beste Freundin hatte sie in einen angesagten Club mitgenommen, wo Adrienne zum ersten Mal bewusst Alkohol trank und prompt betrunken wurde. Vor zehn Uhr ging sie nach Hause und schlich sich herein, nur um im verlassenen Zimmer ihrer Mutter zu enden.

Niemand hatte dieses Zimmer seit der Erkrankung ihrer Mutter berührt. Allein Adrienne nahm sich immer die Zeit, alles rein und aufgeräumt zu halten, in der Hoffnung, dass ihre Mutter eines Tages zurückkehren würde. Gedanken an ihre vergangenen Erfahrungen und Sorgen erfüllten sie mit Schmerz.

Adrienne seufzte. Sie warf das Telefon auf das große Bett und setzte sich niedergeschlagen auf den Boden. Es wäre besser gewesen, schon an ihrem fünfzehnten Geburtstag wiedergeboren zu werden, bevor das tragische Autounglück ihrer Mutter geschah.

Mittlerweile hatte ihr Vater erneut geheiratet, und Camilla und Elise lebten seit zwei Jahren bei ihnen. In ihrem vorigen Leben war sie gleich nach ihrem achtzehnten Geburtstag ausgezogen, um allein zu leben, in der Hoffnung, dass sich die Dinge bessern würden. Leider war dem nicht so.

Sie war ständig von anderen belästigt worden, und Gerüchte über sie hatten ihren Ruf ruiniert. Glücklicherweise war sie heute Abend mit Myrtle unterwegs gewesen, sodass die Schläger keinen Zugriff auf sie hatten, die Elise und ihre Mutter angeheuert hatten, um ihr zu schaden.

Adrienne schaute auf die Uhr am Nachttisch. Es war jetzt 23:55 Uhr. Nur noch wenige Minuten, und sie würde volljährig sein. Sie hatte es abgelehnt, ein Geburtstagsbankett auszurichten, als Camilla das vorschlug, denn sie wusste, dass diese Frau die Gelegenheit nutzen würde, allen weiszumachen, dass sie, Adrienne, Camilla als ihre Mutter anerkannt und somit ihren Titel als Madame Jiang gefestigt hatte.

Doch wie konnte Adrienne das zulassen? Sie mochte vielleicht nicht so finster sein wie jene drei, aber sie war sich im Klaren darüber, was sie im Schilde führten. Ihr Vater hatte Camilla trotz der Ablehnung des alten Meister Jiang geheiratet, und ihr Großvater hatte Camilla und ihre Kinder nie als Teil der Familie akzeptiert.

Jetzt, da sie Caydens Identität kannte, verstand Adrienne, warum ihre väterlichen Großeltern ihrem Bruder die kalte Schulter zeigten und sie selbst als nächste Nachfolgerin der Familie sahen. Ihr war sehr wohl bewusst, dass es ihren Großeltern nur um den Ruf der Familie ging. Nach außen gaben sie Camilla zwar eine lauwarme Behandlung, doch was hinter verschlossenen Türen geschah, könnte selbst den wärmsten Sommer erfrieren lassen.

Adrienne wusste auch, dass sie für sie keine Bedeutung hatte. Wäre dies anders, würde sie nicht den Druck der Medien spüren müssen, die ihren Namen bei jeder sich bietenden Gelegenheit verleumdeten. Als älteste junge Frau der Familie Jiang war ihre Identität nichts weiter als ein leerer Titel, über den man sich lustig machte.

Hass blitzte in Adriennes Augen auf. Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die Handflächen, als sie die Fäuste ballte. Es spielte keine Rolle. Sie dachte bei sich, dankbar für diese zweite Chance, die ihr das Leben gegeben hatte, und sie würde sie nicht ungenutzt lassen.

In ihrem früheren Leben hatte sie genug Tränen vergossen, und Adrienne schwor, in diesem nicht einen einzigen Tropfen zu vergeuden. Diesmal würde sie ihr Leben nach ihren eigenen Regeln führen. Sie würde jene, die ihr Unrecht getan hatten, nicht einfach davonkommen lassen und war entschlossen, sie eigenhändig zur Hölle zu schicken.