Eltanin konnte die ganze Nacht kein Auge zumachen und gerade, als er endlich einnickte, riss ihn ein lautes Klopfen an der Tür aus dem Schlaf. "Verschwinde!", knurrte er und zog sich das Kissen über den Kopf. Doch wie bittet man seinen besten Freund zu gehen, wenn dieser gerade auf dem Absprung ist? Rigel öffnete die Tür und lugte hinein.
Mit Schwung schleuderte Eltanin das Kissen quer durch das Zimmer, doch Rigel fing es geschickt auf. Nicht einmal die Wachen draußen konnten ihn davon abhalten, sein Zimmer zu betreten. Über die Jahre hinweg hatten sich alle an diese Eigenheit ihrer Freundschaft gewöhnt.
"Steh auf!", rief Rigel. Neben seinem Vater war er die einzige Person, die ohne Erlaubnis der Wachen sein Zimmer betrat.
Eltanin grummelte, bevor er ein Auge öffnete und hinauf zu Rigel blickte, der erhaben über ihm aufragte. "Aufstehen, oder was?" Es war noch dunkel draußen, kurz vor der Morgendämmerung, als die letzten Schatten der Nacht am Himmel verharrten. Noch waren nicht einmal die Vögel erwacht.
"Hast du vergessen, dass ich und der Hohepriester abreisen?", fragte Rigel, dessen Stimme vor Verzweiflung bebte.
"Zum Teufel mit dir und dem Priester!", entgegnete Eltanin und richtete sich auf, während ein dumpfer Kopfschmerz einzusetzen begann. Mit Hilfe seiner Wachen hatte er es letzte Nacht noch bis in seine Gemächer geschafft und war dann aufs Bett gefallen. Als sein Körper sich schließlich ergab, schloss er die Augen und schlief. Seine Träume waren erfüllt von weißem Chiffon, Felis, goldenen Masken und silbernem Haar.
Er stand auf, mit schweren Lidern, verwirrtem Geist und den Sinn noch immer gefangen von einem Duft, der gar nicht da war. Er rieb sich das Gesicht und atmete tief aus. Aus dem Wasserkrug auf dem Nachttisch trank er, um seine trockene Kehle zu beruhigen. Dann ging er ins Bad, während Rigel weiter über Verspätungen und alles Mögliche schwadronierte.
Als er wieder herauskam, griff er sich die Tunika, die Rigel ihm hingeschleudert hatte, und zog sie über. Er bemühte sich nicht einmal, den Verschluss seiner Reithosen zu schließen. Während er sich den Bart vom Vortag rieb, murmelte er: "Das hat besser Hand und Fuß, sonst bringe ich noch den Schreiber um!" Wahrhaftig, er hatte keine Lust, einem alten schrumpeligen Schreiber in langen weißen Gewändern zu begegnen, die alle so aussahen, als seien sie aus einem Guss. Doch dass der Hohepriester seinen Schreiber begleitete, war reichlich faszinierend. Er hatte eher einen Lakaien des Klosters Cetus erwartet. Seine Abneigung gegen den Priester schwoll in seiner Brust an. Er musste sich räuspern, um die aufkeimende Verachtung loszuwerden. Menkar war ein verschlagener Bastard.
"Mensch, ich verschwinde gleich, nachdem du den Schreiber getroffen hast. Du warst doch derjenige, der vorschlug, diese Angelegenheit geheim zu halten", entgegnete Rigel und seine Stimme klang verärgert über Eltanins ungebührliche Ungeduld. Er öffnete die Tür und sofort umringten die Wachen sie beide. Sie gingen durch den langen Korridor bis sie eine Rundtreppe erreichten, die in ein großes Foyer mündete, das auf eine Passage hinausführte. Eltanin stöhnte, als die kühle Morgenbrise sein Haar zerzauste, das nach Salz und Fisch roch, als der Morgennebel vom Jademeer herüberzog. Die Sonne begann bereits, das letzte Dunkel des Himmels zu vertreiben, und alles in ihm sehnte sich danach, ins Bett zurückzugehen und noch ein wenig Schlaf nachzuholen. Fackeln säumten die Säulen und warfen einen sanften Schein auf die rosa Steine, sodass es schien, als würden sie erröten.
"Du siehst beschissen aus!", kommentierte Rigel und warf ihm einen Blick zu. "Hast du etwa letzte Nacht nicht geschlafen?"
"Nein", antwortete er, während sich ein finsterer Ausdruck auf seinem Gesicht abzeichnete.
Eltanin steckte die Hände in die Taschen, während die Wachen eine Ecke umrundeten und den Ostflügel des Palastes erreichten. Die ganze Zeit über war es gespenstisch still. Sie kamen bei der Bibliothek an, wo sie den Hohen Priester treffen sollten. Ungeduldig und ohne auf die Wachen zu warten, riss Eltanin die Türen auf. Als sie aufschwangen, stellte er fest, dass niemand drinnen war. "Was zum Teufel?", zischte er. "Wo zum Teufel ist dieser verfluchte Priester?"
"Beruhig dich!", sagte Rigel. "Der Priester ist unterwegs. Die Wachen erledigen ihre Arbeit, indem sie nach ihm und dem Schreiber sehen." Rigel hatte seine vertrauensvollen Wachen beauftragt, die vorgeschriebenen Kontrollen durchzuführen, bevor sie die beiden zum König brachten.
Eltanin presste die Kiefer zusammen und setzte sich in den großen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch, der unter seinem Gewicht ächzte. "Das hat besser Hand und Fuß", murmelte er, während er versuchte, sein Gemüt zu zügeln.Rigel ließ sich auf das Sofa fallen und sagte: "Das wird nur klappen, wenn der Schreiber den alten Text der dunklen Arkana lesen kann. Wenn nicht, dann schick ihn fort."
"Bis heute Nachmittag werde ich das tun, wenn ich keine Fortschritte sehe!" Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Armlehne, während er von Sekunde zu Sekunde unruhiger wurde. Er wollte den Schreiber tatsächlich fortschicken, noch bevor er ihn überhaupt getroffen hatte. "Ich werde ihm ein Buch geben, um es zu testen und—" Die Tür schwang auf und er erblickte Menkar, der den Blick auf die Person verdeckte, die direkt hinter ihm stand.
Sofort erfasste ihn der vertraute Duft.
Hinter Menkar lugte ein Mädchen hervor, als er sich vor dem König verneigte.
Eltanins ganzer Körper spannte sich an, als der Schock ihn in der Magengegend traf. Er richtete sich ruckartig auf und klammerte sich an die Kante des Tisches. Seine Augenlider wurden schwer, als er ihren exquisiten Duft einatmete. Gefühle überwältigten ihn. Schauerwellen durchfuhren ihn.
MEINE.
Das Mädchen, auf das er fünfhundert Jahre, sein ganzes Leben lang gewartet hatte.
Anspruch erheben.
Er war stumm vor Staunen und schwankte unter der Wirkung.
Beschützen.
Wie versteinert starrte Eltanin auf das außergewöhnlich schöne, zierliche Mädchen, das er je gesehen hatte. Mit ihren geschwollenen, rosigen Lippen war sie genauso exquisit wie ihr Duft. Die Erkenntnis überrollte ihn. Also war sie diejenige, die ihm entwischt war und doch jeden seiner Gedanken beanspruchte; die weggelaufen war und ihn verlassen hatte, was ihn in den Wahnsinn trieb. Warum hatte er sie damals nicht als seine Gefährtin erkennen können?
Seine Fae.
Sein Wolf...