Leon brach mit schmerzverzerrtem Gesicht und eingeknicktem Bein zusammen. Welche Ironie, dass ausgerechnet derjenige, der anderen Hoffnung schenkte, selbst die Hoffnung zu verlieren schien. Ein Widerstand war aufgetreten, der Leon in seinen Bann zog. Sein Blick ruhte düster auf dem eingestürzten Eingang.
Plötzlich spürte Leon einen schnellen Schlag auf seiner linken Wange. Kaiden hatte ihn geohrfeigt. „Hör auf, dich so bemitleidenswert auszuheulen. Ich versuche hier einen Ausweg zu finden, also muss ich mich konzentrieren." In Kaidens Kopf wirbelten Gedanken durcheinander. Konnte man das Hochhaus überhaupt erklimmen? Die ersten Gedanken waren negativ, da Hochhäuser glatte Wände haben, die ohne Ausrüstung nicht zu bewältigen sind. Vielleicht könnten sie durch die Trümmer kriechen und hoffen, dass es nach oben hin Lücken gab. Auch das schien unwahrscheinlich, da das Gebäude einzustürzen drohte. Eine Kletterausrüstung in den Geschäften suchen? Das würde zu lange dauern und Kaiden kannte auch keine Läden in der Nähe.
Plötzlich kam ihm eine Idee, und er strahlte vor Vorfreude. „Was ist es?", fragte Leon neugierig. „Das wirst du gleich sehen." Kaiden präsentierte den Reinigungswagen wie ein Magier sein Kunstwerk. Leon konnte nicht fassen, wie sie damit auf das Hochhaus gelangen sollten. „Damit willst du da hoch?", zweifelte er. „Dieses Ding ist viel zu schäbig und nicht mehr in Betrieb. Siehst du nicht, wie es von diesen Seilen abgetrennt ist? Die Druckwelle hat es von den Stahlseilen gelöst."
Leon war verwirrt, aber bevor er fragen konnte, hatte Kaiden ihn bereits in Richtung des Reinigungswagens gezerrt. Leon wirkte wieder normaler, da er erkannte, dass Kaiden einen Plan hatte. „Was ist es?", fragte Leon. „Du wirst es gleich sehen", sagte Kaiden voller Vorfreude.
Kaiden ergriff das Stahlseil und klammerte sich daran wie ein Neugeborenes an seine Mutter. Er befestigte seine Beine um das Seil und stützte ein Bein auf das andere, wobei das Seil dazwischen war, um sich besser fortzubewegen. Obwohl er nur einen Arm benutzen konnte, schaffte er es irgendwie, sich hochzuziehen. Als er die Höhe erreicht hatte, an der das Gebäude nicht mehr einstürzte, klammerte er seine Oberschenkel um das Seil und hielt sich mit einer Hand knapp über seinem Kopf fest. Er machte sich so klein wie möglich, da der Wind in dieser Höhe extrem stark war.
Kaiden begann, sich am Seil zu schwingen, ähnlich wie auf einer Schaukel. Aber währenddessen führte er leichte Kreisbewegungen aus, um dem Wind entgegenzuwirken. Er schwang und schwang, aber er wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten konnte, da ihm die Kraft fehlte. In Wirklichkeit war er erstaunt darüber, wie gut er sich bis jetzt geschlagen hatte.
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde seine Griffkraft schwächer und schwächer, während all diese Gedanken Kaidens Kopf durchfluteten, schwand seine Griffkraft unaufhaltsam, und er löste sich gegen seinen Willen vom Seil. Er fiel und fiel, doch sein Glück wollte es, dass er genau im richtigen Moment losgelassen hatte. Er stürzte nach vorne in Richtung des offenen Fensters. Hätte er nur eine halbe Sekunde früher oder später losgelassen, wäre er jetzt wohl zu einer Art „Spaghetti Bolognese" geworden.
Kaiden lehnte seinen Kopf leicht aus dem Fenster und blickte zu Leon, der dieselbe riskante Aktion vollführte. Da Leon beide Arme nutzen konnte, war er schneller und hatte bereits die Hälfte des Weges geschafft. Gerade als Kaiden schreien wollte, dass er vorgehen wolle, spürte er einen starken Luftzug. Leon wurde für etwa fünf Sekunden in eine Richtung geschleudert, während Kaiden drohte aus dem Fenster zu fliegen.
Obwohl Kaiden vom Wind erfasst wurde und sich in der Luft befand, schaffte er es gerade noch rechtzeitig zu reagieren. Er klammerte sich mit seiner schon geschwächten Hand an einer etwa zehn Zentimeter dicken Stange fest. Genau wie Leon schien er nun durch die Luft zu fliegen. Währenddessen sah Leon dies und versuchte, sich nur mit den Händen nach oben zu ziehen. Aufgrund des starkem Windes schien es so, als sei Leon schwerelos oder trage weniger Gewicht. So konnte er weiter aufsteigen und schaffte es, fast drei Viertel des Weges weiter nach oben zu klettern.
Der plötzlich starke Windfluss legte sich wieder, und Kaiden änderte seine Position von der waagerechten in eine ruckartige horizontale Form, wodurch das Gewicht mehr auf seinem Arm lastete. Doch er wusste, dass er unter keinen Umständen loslassen durfte, da er sonst in die Tiefe stürzen würde.
Aber zu seiner Verzweiflung schien diesmal nicht seine Griffstärke sein Verhängnis zu sein, sondern die zehn Zentimeter dicke Stange, diese brach, sobald er in die horizontale Position wechselte. Kaiden drohte zu fallen und versuchte ein letztes Mal, die Kante zu greifen. Er hätte es geschafft, wenn der Regen nicht für rutschige Verhältnisse gesorgt hätte und seine Finger abrutschten.
In seiner Verzweiflung rief er um Hilfe und fuchtelte wild mit seinen Händen und Beinen herum. Während die Zeit verging, schien alles in Zeitlupe zu geschehen.
Die extrem schnellen Regentropfen erstarrten scheinbar in der Luft, sein schwingender Freund schien sich nicht mehr zu bewegen, und das zischende Geräusch des Windes verschwand. So fühlte es sich also an, kurz vor dem Tod, entspannend, doch beängstigten Zugleich. Es geschah, der Aufprall und das darauffolgende Nichts, die leere Schwärze.
„Warum tut mein Rücken so verdammt weh?", dachte Kaiden. Verwirrt öffnete er die Augen und stellte fest, dass er immer noch in der Luft schwebte. „Warum bewege ich mich?", fragte er sich. Plötzlich spürte er, dass der Schmerz in seinem Rücken von Leons Bein verursacht wurde.
Leon griff nach Kaiden, umschlang ihn um den Bauch und schwang mit aller Kraft in Richtung des Fensters. Das zusätzliche Gewicht verstärkte den Schwung, und sie schafften es beide sicher ins Gebäude durch das recht große zerbrochene Fenster.
Kaiden lag regungslos und fassungslos auf dem Boden. „Ich dachte, ich sterbe", murmelte er leise vor sich hin. Leon hörte es, lachte und sagte: „Nicht mit mir, Freundchen." Er reichte Kaiden die Hand, die dieser erleichtert annahm und sich hochziehen ließ.
Leon schaute Kaiden an und mahnte zur Eile, da sie bereits viel Zeit verloren hatten. Kaiden stimmte zu, und sie machten sich auf den Weg, das Hochhaus zu besteigen.