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Chapter 14 - Kind des Schattens

Sunny hatte keine andere Wahl, als auf ein letztes, verzweifeltes Spiel zu setzen.

In einem direkten Duell hatte er keine Chance gegen den Feind, zumindest nicht ohne Vorteil. Das Blutfluchgift hätte sein Trumpf sein sollen, stellte sich jedoch als nahezu nutzlos heraus. Auch seine Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, war nicht von großem Nutzen; auf die eine oder andere Weise konnte Hero ihre Umgebung wahrnehmen, sogar ohne Licht.

Ob er dazu seinen Hörsinn oder eine magische Fähigkeit nutzte, wusste Sunny nicht – nicht, dass es jetzt eine Rolle spielte, da sie die Höhle verlassen hatten und unter dem von Mondlicht erhellten Himmel standen.

Jetzt hatte er nur noch einen Vorteil übrig. Die Tatsache, dass er wusste, dass der Tyrann blind war, und Hero dies nicht wusste. Dieses Wissen jedoch in die Tat umzusetzen, war leichter gesagt als getan.

Doch was blieb ihm sonst übrig?

Deshalb versuchte er so leise wie möglich zu sein und läutete die silberne Glocke. Wenn die Beschreibung stimmte, konnte ihr Klingeln meilenweit gehört werden. Sicherlich würde auch der Tyrann es hören.

Nun musste Sunny nur noch schweigen, Zeit gewinnen und hoffen, dass das Ungeheuer auftauchen würde. Während er wartete, verwandelte sich Heros Verwirrung langsam in Zorn.

"Sag es mir jetzt oder du wirst es bereuen."

Seine Stimme klang ziemlich bedrohlich, doch der junge Sklave gab keine Antwort. Er zitterte nur in der Kälte und versuchte, das Stöhnen trotz des pochenden Schmerzes in seiner Brust zu unterdrücken.

"Warum antwortest du nicht?"

Aber Sunny wagte es nicht, zu antworten. Er hielt den Atem an und beobachtete entsetzt, wie die vertraute kolossale Gestalt hinter Hero auftauchte. Seine Lunge brannte und sein Herz pochte wie wild. Es schlug so laut, dass er sogar befürchtete, der blinde Tyrann könnte es hören.

Aber natürlich konnte es nicht lauter sein als Heros Stimme, der ununterbrochen redete und sich damit zur einzigen Geräuschquelle auf diesem Berg machte.

Im letzten Moment flackerte ein Funken Verständnis in den Augen des jungen Soldaten auf. Er begann sich umzudrehen und hob sein Schwert mit blitzartiger Geschwindigkeit.

Aber es war bereits zu spät.

Eine massive Hand tauchte aus der Dunkelheit auf und packte ihn in einen eisernen Griff. Die knochigen Krallen kratzten an seiner Rüstung und rissen sie auseinander. Der Bergkönig zog Hero zurück, ohne auf das Schwert zu achten, das in sein Handgelenk biss. Viskoser Speichel lief aus seinem aufgerissenen Maul.

Vor Angst wie gelähmt, drehte Sunny ihnen langsam den Rücken zu und machte ein paar Schritte den alten, gewundenen Pfad hinauf. Dann rannte er davon, so schnell er konnte.

Hinter ihm zerriss ein verzweifelter Schrei die Stille der Nacht. Dann folgte ein hungriges Brüllen. Es schien, als würde Hero nicht kampflos untergehen, obwohl sein Schicksal bereits besiegelt war.

Aber das war Sunny egal. Er rannte weiter, immer höher hinauf.

"Es tut mir leid, Hero", dachte er. "Ich habe gesagt, dass ich zusehen werde, wie du stirbst ... aber wie du weißt, bin ich ein Lügner. Also stirb alleine..."

***

Ein einsamer dunkler Berg erhob sich trotzig gegen die tobenden Winde.

Schroff und majestätisch überragte er die anderen Gipfel der Bergkette und teilte den Nachthimmel mit seinen scharfen Kanten. Ein strahlender Mond badete seine Hänge in gespenstischem Licht.

Unter diesem Licht erreichte ein junger Mann mit blasser Haut und schwarzem Haar den Gipfel des Berges. Doch sein Aussehen passte nicht zur Pracht der Szene: verwundet und taumelnd wirkte er erbärmlich und schwach.

Der junge Mann sah aus wie ein wandelnder Leichnam.

Seine grobe Tunika und sein Umhang waren zerrissen und blutgetränkt. Seine hohlen Augen waren trüb und leer. Sein Körper war mit Prellungen übersät, geschlagen und aufgeschnitten. Auf seinen Lippen befanden sich Flecken blutigen Schaums.

Er war gebeugt und hielt sich die linke Seite seiner Brust. Jeder Schritt ließ ihn aufstöhnen, sein keuchender Atem entwich nur mühsam durch zusammengebissene Zähne.

Sunny schmerzte der ganze Körper. Aber vor allem war ihm kalt.

So, so kalt.

Er hätte am liebsten im Schnee gelegen und geschlafen.

Aber stattdessen setzte er seinen Weg fort. Denn er glaubte, dass der Albtraum vorbei sein würde, sobald er den Gipfel erreicht hatte.

Ein Schritt. Noch ein Schritt. Und noch einer.

Endlich war er angekommen.

An der höchsten Spitze des Berges erstreckte sich eine weite Fläche flachen Felsens, die mit Schnee bedeckt war. Im Zentrum, vom Mondlicht beleuchtet, stand ein prachtvoller Tempel. Seine gewaltigen Säulen und Wände waren aus schwarzem Marmor geschnitten, mit exquisiten Reliefs, die das düstere Giebelfeld und den breiten Fries schmückten. Er war schön und ehrfurchtgebietend und glich dem Palast eines dunklen Gottes.

Zumindest war er das einst. Jetzt lag der Tempel in Ruinen: Risse und Spalten durchzogen die schwarzen Steine, Teile des Daches waren eingestürzt und ließen Eis und Schnee herein. Die hohen Tore waren zerschlagen, als hätte die Hand eines Riesen sie zerschmettert.

Trotzdem war Sunny zufrieden.

"Ich hab dich gefunden", sagte er mit heiserer Stimme.

Mit letzter Kraft humpelte der junge Sklave in Richtung des zerstörten Tempels. Seine Gedanken waren wirr und durcheinander.

'Siehst du das, Hero?' dachte er, für einen Moment vergessend, dass Hero bereits tot war. 'Ich habe es geschafft. Du warst stark und rücksichtslos, und ich war schwach und ängstlich. Und doch bist du jetzt eine Leiche, und ich lebe noch. Ist das nicht komisch?'

Er stolperte und stöhnte, als er spürte, wie die Kanten seiner gebrochenen Rippen tiefer in seine Lungen schnitten. Blut tropfte aus seinem Mund. Egal, ob tot oder lebendig, Hero hatte ihn mit diesem einen Schlag gut getroffen.

'Im Grunde genommen ist es das nicht. Was wisst ihr schon wirklich über Rücksichtslosigkeit? Arme Narren. In der Welt, aus der ich komme, hatten die Menschen Tausende von Jahren Zeit, Grausamkeit zur Kunst zu erheben. Und als jemand, der ständig diesem Grauen ausgesetzt war ... glaubt ihr nicht, dass ich mehr über Brutalität wissen würde, als ihr es je könntet?'

Er näherte sich dem Tempel.

'Ehrlich gesagt, hattest du nie eine Chance... warte. Worüber habe ich gerade nachgedacht?'

Einen Moment später hatte er es bereits vergessen. Es blieben nur noch der Schmerz, der dunkle Tempel und das überwältigende Bedürfnis zu schlafen.

'Falle nicht darauf herein. Es ist nur die Unterkühlung. Wenn du einschläfst, wirst du sterben.'

Endlich erreichte Sunny die Stufen des schwarzen Tempels. Er begann sie zu erklimmen, ohne die Tausenden von Knochen zu bemerken, die überall verstreut lagen. Diese Knochen gehörten einst sowohl Menschen als auch Monstern. Alle wurden von unsichtbaren Wächtern getötet, die immer noch um den Tempel herumlauerten.

Als Sunny die Stufen hinaufstieg, näherte sich ihm einer der gestaltlosen Wächter. Er war bereit, den schwachen Lebensfunken, der in der Brust des Entweihers glühte, auszulöschen, doch dann hielt er inne, als er einen schwachen, seltsam vertrauten Duft spürte, der von seiner Seele ausging. Der Duft der Göttlichkeit. Traurig und einsam trat der Wächter beiseite und ließ Sunny passieren.

Unwissend betrat er den Tempel.

Sunny fand sich in einer eindrucksvollen Halle wieder. Kaskaden von Mondlicht fielen durch die Löcher in dem halb eingestürzten Dach. Tiefe Schatten umgaben diesen silbernen Lichtkreis, wagten es nicht, ihn zu berühren. Der Boden war mit Schnee und Eis bedeckt.

Am anderen Ende der Halle war ein großer Altar aus einem einzigen Stück schwarzem Marmor geschnitzt. Es war das einzige im Tempel, das nicht vom Schnee berührt wurde. Sunny vergaß, warum er hierher gekommen war, und ging auf den Altar zu.

Er wollte einfach nur schlafen.

Der Altar war trocken, sauber und so breit wie ein Bett. Sunny stieg darauf und legte sich nieder.

Es sah so aus, als würde er sterben.

Damit war er einverstanden.

Sunny versuchte, die Augen zu schließen, wurde aber von einem plötzlichen Geräusch aus Richtung des Tempeltores abgehalten. Er drehte den Kopf, um nachzusehen, ohne auch nur ein bisschen neugierig zu sein. Was er sah, hätte ihm einen Schauer über den Rücken gejagt, wenn er nicht so kalt, müde und gleichgültig gewesen wäre.

Der Bergkönig stand dort und starrte ihn mit seinen fünf blinden Augen an. Er war immer noch massiv, furchteinflößend und abstossend. Unter seiner Haut bewegten sich immer noch wurmähnliche Gestalten wie wild. Er schnüffelte an der Luft und sabberte.

Dann öffnete er sein Maul und bewegte sich vorwärts, auf den Altar zu.

'Was für ein hässlicher Bastard', dachte Sunny und krampfte sich plötzlich zusammen, gequält von einem qualvollen Hustenanfall.

Blutiger Schaum flog aus seinem Mund und fiel auf den Altar. Doch der schwarze Marmor saugte ihn bald auf.

Eine Sekunde später war er wieder so makellos wie zuvor.

Der Tyrann war gerade dabei, Sunny zu erreichen. Er streckte bereits seine Hände aus, um ihn zu greifen.

'Ich nehme an, das ist das Ende', dachte er, sich seinem Schicksal ergeben.

Doch im letzten Moment ertönte plötzlich die Stimme des Spruchs in dem dunklen Tempel.

[Du hast dich den Gottheiten als Opfer angeboten.]

[Die Götter sind tot und können dich nicht hören.]

[Deine Seele trägt das Zeichen der Göttlichkeit.]

[Du bist ein Tempelsklave.]

[Der Schattengott rührt sich in seinem ewigen Schlaf.]

[Er sendet einen Segen aus dem Jenseits.]

[Kind der Schatten, empfange deinen Segen!]

Vor Sunnys erstaunten Augen bewegten sich die Schatten, die die große Halle bevölkerten, plötzlich, als ob sie lebendig geworden wären. Tentakeln aus Dunkelheit schossen hervor und verwickelten die Arme und Beine des Bergkönigs. Der mächtige Tyrann wehrte sich, versuchte sich zu befreien.

Doch wie konnte er der Macht eines Gottes widerstehen?

Die Schatten zerrten den Bergkönig zurück und zogen in verschiedene Richtungen. Der Tyrann