MOND
Seraph entfernte Zinas Augenbinde, und ihre weiß, gestaltlosen Augen starrten die Dienerin an. Fast sofort fiel sie zitternd wie ein Espenblatt auf die Knie.
Zina war über diese Bewegung bestürzt. Noch verwirrter machten sie Seraphs nächste Worte: "Du bist diejenige, die von den Göttern auserwählt wurde!", rief sie ehrfürchtig aus.
Zina lächelte bitter: "Ich glaube nicht, dass ich auserwählt bin." Zina kannte vielleicht die Farbe ihrer Augen nicht, aber sie war sich der Reaktionen, die sie auslösten, sehr wohl bewusst, und diese glichen keineswegs der Unterwürfigkeit, die Seraph ihr entgegenbrachte. Weit gefehlt.
"Wenn dem so ist, dann versprich mir, große Seherin", fuhr Seraph mit einer Stimme fort, die zitterte wie die einer Person, die den Geist eines lang vermissten, verstorbenen Geliebten gesehen hatte, "versprich mir, dass ich dir an dem Tag deines Aufstiegs zur Seite stehen darf. Bitte, versprich es mir."
Zinas bitteres Lächeln wurde zu einer noch hässlicheren Grimasse. Sie sah keinen Grund, den Unsinn, den das Mädchen von sich gab, zu entkräften: "Tu, was du für richtig hältst. Ich glaube allerdings, es wäre ein Wunder, sollte ich diese Nacht lebend hier herauskommen", murmelte sie den letzten Teil eher zu sich selbst als zu dem Mädchen.
Das Mädchen schwieg, während es damit beschäftigt war, Zinas Augenlider zu reinigen. Trotz Zinas desinteressierter Haltung bewegte Seraphs Zärtlichkeit gegenüber einem Teil von ihr, den sie für verflucht hielt, ihr Herz auf seltsame Weise.
Was genau sah ein Mädchen, das fast vier Jahre jünger war als sie, in ihr, was sie selbst nicht erkennen konnte? So sehr sie sich auch bemühte, Zina fand keine Antwort auf ihre Frage.
Zina trug ein weißes, fließendes Kleid, ihr weißes Haar ordentlich gebürstet, sodass es in Wellen über ihre Schultern fiel. "Fräulein, es ist Zeit, sich auf den Weg zum Arktischen Palast zu machen. Unten wartet die Kutsche", verkündete Seraph, nachdem sich Zina etwa eine Stunde lang angekleidet hatte.
"Es ist bereits so weit?" fragte Zina mit einer Stimme, die totenstill war und ihre Entschlossenheit vermittelte, das zu tun, was sie in dieser Nacht vorhatte.
"In der Tat", erwiderte Seraph freudig, "heute Nacht zeigt sich der Vollmond. Heute Abend werden die Arktischen Wölfe tanzen und sich im Mondlicht sonnen."
Zina lächelte; sie hatte den Mond noch nie gesehen, aber sie spürte seine Wirkung.
Der Mond brachte Gefühle wie Freude, Hoffnung, Glauben, Liebe, Macht und Zerstörung mit sich. Es hieß, dass in jener Nacht, als ihr Rudel sie erwählte, der Mondsichel schief am Nachthimmel hing.
Seraph führte sie aus dem Gasthaus die Treppe hinunter und in das, was wohl ihre zweite Todeskarosse sein mochte. Es schien, als würde Zina es zur Gewohnheit machen, in Kutschen einzusteigen, die in das Totenreich führten.
"Du führst mich zum Palast?" fragte Zina Seraph, hauptsächlich weil sie überrascht war. Sie mochte nicht viel über die Traditionen des Palastes wissen, aber Seraph schien einen zu niedrigen Rang zu haben, um den mächtigen Arktischen Palast zu betreten, von dem sie gehört hatte.
"In der Tat, Fräulein. Eigentlich war meine Vorgesetzte für Sie verantwortlich, aber da es ihr nicht gut geht, wurde die Aufgabe an mich übertragen", schloss Seraph mit einer schwachen Stimme, die Zina allzu gut kannte.
Zina ergriff Seraphs Hände und zog das Mädchen zu sich heran. Das Mädchen schrie vor Schmerz auf, obwohl die Ursache ihres Schmerzes nicht Zinas Griff war, sondern etwas ganz anderes. Zina runzelte die Stirn, was dazu führte, dass ihre Augenbinde sich faltete, während Bilder ihre Sinne überwältigten.
Szenen eines zierlichen Mädchens, sie stellte sich Seraph vor, das mit einem berüchtigten, mit winzigen Dornen besetzten Rohrstock geschlagen und gepeitscht wurde, die sich in das Fleisch bohrten. Seraphs Peinigerin war eine stämmige Frau mit dicken Armen, die immer spuckte, wenn sie sprach. Diese kräftigen Arme peitschten Seraph mit aller Kraft, rissen ihr Fleisch auf. Dann benetzte sie mit dicken Lippen den Stock mit Wasser, um die Peitschenschläge noch schmerzhafter zu machen.
Es schien so, als hätte Seraphs Vorgesetzte ihre ganz eigene Methode, Seraph zur Unterwerfung zu zwingen.
Als die Kutsche schließlich zum Stehen kam, ließ Zina Seraphs Arm los. "Wenn du mir dienen sollst, wird dich kein Mensch wie ein Tier auspeitschen."Seraph keuchte auf und schlug ihre Hände vor den Mund, als könne sie nicht fassen, auf welche Weise Zina an die Information gekommen war. "Du bist wahrhaftig eine große Seherin", sagte sie erstaunt, während sie Zina aus der Kutsche half.
Zina hielt sich immer noch an ihrem Stab fest und konzentrierte ihre Sinne auf ihre Umgebung. Sie hörte die schweren Schritte der Epsilons, die mit marschierenden Bewegungen offenbar den Arktischen Palast bewachten.
Als ob Seraph ihre Gedanken erraten hätte, sagte sie: "Hier stehen wir vor dem größten Palast des Nordens. Der Arktische Palast ist aus Blöcken errichtet, die an Gletschereis erinnern. Er schimmert fast und lässt an einen Gletscher denken, doch er hat etwas Überirdisches an sich."
Zina nickte. Sie spürte das Überirdische, das Serah ansprach. Es stak wie ein aufdringlicher Fremdkörper in ihr, flüsterte ihr verbotene Worte zu, während Seraph sie weiterführte. Ihre Umwelt kam ihr fremd und fehl am Platz vor. Nur der Stab, den sie umklammerte, wirkte vertraut.
Normalerweise hätte sie ihren Stab nicht gebraucht, wenn sie in vertrauter Umgebung gewesen wäre, aber aus ihr unerklärlichen Gründen schien es ihr zur Gewohnheit geworden zu sein, den Stab überall mit hinzunehmen. Er erinnerte sie an vieles, das sie sich geschworen hatte, niemals zu vergessen.
Das Gefühl einer Vorahnung und Schuld kehrte zurück und diesmal war es stärker denn je. Eines wurde ihr überdeutlich: Wenn sie dies durchziehen würde, wäre sie nie wieder dieselbe.
Seraph, die sich in der Umgebung nicht auskannte, war dankbar für den Epsilon, der sie zum großen Saal für den Geburtstag des Alphakönigs führte. Selbst als sie Zina tiefer in den Palast geleitete, war sie überwältigt von der Pracht des Arktischen Palastes, dessen Aufschwung sie sich so niemals vorgestellt hatte.
Der Epsilon ging zu schnell für sie und in Kombination mit Zina waren sie deutlich zu langsam. Seraph versuchte, den Epsilon zu bitten, ihretwegen langsamer zu gehen, da der Gang, in dem sie sich befanden, von zu den Festlichkeiten eilenden Menschen gefüllt war und sie sich leicht hätten verlaufen können. Doch der ungeduldige Wächter war nun zu weit entfernt, um Seraphs Bitte zu hören.
Das Dienstmädchen knirschte erbost mit den Zähnen über seine Unverschämtheit und Zina betrachtete amüsiert die Irritation, die sie ausstrahlte. Wahrlich, wie Seraph befürchtet hatte, erreichten sie eine Gabelung des Korridors, aus dem die Menschen strömten. Zina klammerte sich fester an ihren Stab, gerade als ihr Körper mit etwas kollidierte, das einer Wand gleichte.
Seraph wurde zur Seite geschleudert und Zina begann zu stürzen, als eine Hand sich um ihre Taille legte und ihr weniger als anmutigen Sturz stoppte. Jeder Atemzug wurde ihr geraubt, als die Hand in ihren Stoff sich einbrannte und ihr Fleisch versengte wie ein aufdringlicher Fremdkörper.
Zina keuchte, ihre andere, freie Hand schnellte instinktiv hoch, um sich um den Hals des Unbekannten zu winden, und ihre Hand mit dem Stab strich die Brust des Gegenübers empor. Wie eine Szene aus einem Déjà-vu, stürmten die Sinne Zinas von dem Mann, der ihre Visionen beinahe jede Nacht heimsuchte.
Dunkles, vom Wind zerzaustes Haar. Anmutig und doch in den Kleidern eines einfachen Mannes. Tiefgründige Augen, die in ihre Seele blicken konnten. Das Gebaren eines Königs.
Diesmal jedoch stand der Mann aus ihren Visionen nicht mehr aufrecht da, wie er es stets in ihren Visionen getan hatte. Er trug auch nicht die Kleider eines einfachen Mannes. Vielmehr sah sie in ihren Visionen eine jüngere Version seiner selbst.
Diese jüngere Version war in königliche Gewänder gehüllt, auf seinem Haupt thronte eine goldene Krone. Der Mann selbst jedoch lag am Boden, spie Blut und der Gott des Todes klopfte an die Tür seines dahinscheidenden Ichs. Entsetzen überkam Zina bei dem Gedanken, dass der Mann ihrer Visionen viel früher den Tod finden würde als sein würdevolles, in Lumpen gekleidetes Selbst, das Zina aus ihren Visionen kannte.
Doch warum kamen diese Visionen gerade in dem Moment zu ihr, als sie die Wand vor sich berührte?
Könnte es sein…?
Nein, das konnte doch eigentlich nicht sein…?
Als wollte es ihr Entsetzen bestätigen, sprach eilig die Stimme des Epsilons, der sie anführte, zu dem Mann, der ihre Taille umfasste… zu dem Mann, der das Objekt ihrer Visionen sein könnte. "Lord Daemon, ich bitte um Verzeihung für das Missgeschick."
Der grausame Scherz raubte ihr den Atem und sie spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Bei den Göttern... das konnte ihr nicht wirklich passieren? Das konnte doch nicht wahr sein... oder?