Nachdem er in sein Zimmer zurückgekehrt war, schaltete Su Chen nicht das Licht ein. Stattdessen setzte er sich im Schneidersitz auf das Bett, schloss die Augen und begann in aller Stille, seine Kultivierungstechnik zu zirkulieren.
Eine Stunde später öffnete Su Chen seine Augen und seufzte hilflos:
"Es bringt immer noch nichts, mein zerbrochenes Dantian zeigt keine Anzeichen der Heilung. Es ist schon ein Jahr vergangen; es scheint wirklich keine Hoffnung zu geben."
Entmutigt lag Su Chen auf dem Bett und starrte an die Decke. Das ganze Jahr über hatte er mehrmals täglich seine Kultivierungstechnik zirkulieren lassen, um zu überprüfen, ob sich sein Dantian veränderte. Doch nach den wiederholten Enttäuschungen fühlte er sich teilnahmslos.
Bei dem Gedanken an sein zerbrochenes Dantian musste Su Chen an jenen Vorfall denken.
Obwohl ein Jahr vergangen war, konnte er immer noch nicht verstehen, warum sein Waffenbruder, mit dem er einst Leben und Tod geteilt hatte, ihn verraten hatte, sodass er in die Belagerung von fünf bis sechs Qi-Verfeinerungsgipfeln und einigen Spätkultivierern geriet.
Dieser Vorfall zerstörte nicht nur sein Dantian, sondern reduzierte auch seine Kraft von einer fast unschlagbaren Stärke am Rande der Meridianausdehnung zu der eines Behinderten. Die erste Organisation der dunklen Welt, der Niedere Tempel, den er gegründet hatte, wurde ihm ebenfalls von eben diesem "Bruder" genommen.
Hätte er nicht in einen tausend Meter tiefen Abgrund gestürzt, wodurch alle glaubten, er hätte keine Überlebenschance, würde er jetzt vielleicht nicht so friedlich leben.
"Tang Gang! Warum?"
Su Chen ballte die Fäuste so fest, dass Blut von seinen Handflächen auf das Bett tropfte, was ihm nicht auffiel.
Noch schlimmer als die Zerstörung seiner Kultivierung und der Verlust des Tempels war für Su Chen der Verrat durch jemanden, den er einst als Bruder fürs Leben angesehen hatte.
Deswegen fühlte sich Su Chen entmutigt und hatte sogar mehrmals Selbstmordgedanken.
Wäre da nicht eine unerledigte wichtige Angelegenheit, wäre Su Chen vielleicht tatsächlich in jenem Abgrund geblieben.
Es war dieser schwache Gedanke, der es ihm ermöglichte, seinen vernarbten Körper zum Fuß des Kunlun-Gebirges zu schleifen. Sein alter Geist von einem Meister lebte in einer mit Stroh gedeckten Hütte auf halber Höhe der Kunlun-Berge.
Der Gedanke, der Su Chen am Leben hielt, betraf die wahren Umstände des Todes seiner Eltern. Obwohl Su Chen selbst aus diesen Reihen stammte, hatte ihn die Familie Su nach dem Tod seiner Eltern verstoßen, als er gerade mal sechs Jahre alt war.
Natürlich war der heutige Su Chen nicht ganz ohne Macht, schließlich war er einst der unbestrittene König der dunklen Welt des Westens gewesen.
Jedoch wurden diese Kräfte im Schatten gehalten und stellten die wahre Kernkraft des Niedertempels dar, die nicht so einfach preisgegeben werden sollte, wenn es nicht zwingend notwendig war.
Der Vorfall vor einem Jahr ereignete sich zu plötzlich;
er hatte keine Zeit, diese Kräfte zu mobilisieren, sonst wäre er nicht in solche Gefahr geraten.
Außerdem hatte Su Chen seit diesem Vorfall seinen früheren Ehrgeiz, die Welt zu beherrschen, verloren; jetzt wollte er, abgesehen von der Aufdeckung der wahren Ursache für den Tod seiner Eltern, ein gewöhnliches, ruhiges Leben führen.
Um jedoch die Wahrheit über den Tod seiner Eltern herauszufinden, musste er sich zwangsläufig mit den mächtigsten Familien in Yanjing auseinandersetzen, deren Macht so unergründlich war wie der Ozean.
"Es scheint, um zu verstehen, was damals mit der Familie Su geschah, reicht es nicht aus, nur diese verborgenen Kräfte zu besitzen; ich muss auch eine gewaltige persönliche Macht haben."
murmelte Su Chen vor sich hin. Doch als er auf sein Dantian blickte, verfinsterte sich sein Blick erneut.
"Richtig, da die konventionellen Methoden völlig nutzlos waren, warum nicht diese Methode ausprobieren?"
Plötzlich leuchteten die Augen von Su Chen auf. Schnell sprang er vom Bett herunter, kramte aufgeregt darunter herum und zog schließlich eine alte Holztruhe aus einer Ecke hervor.
Die Truhe war von Staub bedeckt und offensichtlich seit langem nicht mehr benutzt worden. Su Chen holte einen kleinen Schlüssel aus der Schublade und öffnete die Truhe.
Niemand würde erwarten, dass sich in dieser unscheinbaren Truhe verschiedene unvergleichliche Schätze befanden, die in der Welt der Sammler für Aufsehen sorgen könnten, wenn sie herausgeholt würden.Su Chen warf keinen Blick auf die Schätze, die er grob beiseite schob, ohne sich darum zu kümmern, dass sie beschädigt werden könnten. Als sein Blick auf eine Schriftrolle aus Schafsleder am Boden der Kiste fiel, lächelte Su Chen erleichtert. Er hob die abgenutzte und vergilbte Schriftrolle vorsichtig an, sein Herz klopfte dabei "thud thud".
Denn diese Schriftrolle war seine letzte Hoffnung, die Kultivierung wieder aufzunehmen! Der Ursprung dieser Schriftrolle war ihm unklar; er wusste nur, dass er sie schon bei sich hatte, als er im Alter von fünf Jahren aus dem Haus der Familie Su vertrieben wurde. Die Schriftrolle dokumentierte eine Kultivierungstechnik namens "Neun-Yang-Göttliche Technik".
Um die Neun-Yang-Göttliche Technik zu kultivieren, musste man zuerst das Dantian zerbrechen und neu formen! Der Grund, warum Su Chen diese mächtig erscheinende Kultivierungstechnik nicht praktiziert hatte, lag darin, dass kein Kampfkünstler es wagte, sein eigenes Dantian zu zerstören, das die Grundlage eines Kultivierenden ist. Außerdem war die göttliche Technik der Neun Yang zu eigenartig und unterschied sich stark von den Kultivierungsmethoden der Kampfkünste, die Su Chen kannte.
Der alte Geistermeister hatte einmal gesagt, dass die Kultivierung dieser Technik zwar unglaublich schnell und mächtig sei, aber unweigerlich drei große Prüfungen mit sich bringe. Jede dieser Prüfungen war eine Tortur auf Leben und Tod, und jeder, der alle drei Prüfungen überlebte, war sicherlich ein Wunder unter den Wundern! Trotzdem beschloss Su Chen, es zu versuchen, denn er hatte keine andere Wahl! Zudem war sein Dantian bereits zerstört, was eine Fügung des Schicksals gewesen sein könnte.
Natürlich gab es einen ungenannten Grund, warum Su Chen sich für diese Kultivierungsmethode entschied: Jedes Mal, wenn er die Schafsrolle berührte, verspürte er ein vertrautes Gefühl, so wie auch in diesem Augenblick. Seine Hand strich sanft über die Schriftrolle und spürte sofort eine alte und weitreichende Blutlinienverbindung, die scheinbar mit der trostlosen Antike verbunden war...
Su Chen sammelte seine Gedanken und setzte sich im Schneidersitz zurück ins Bett. Er begann, die alte Schriftrolle, die auf seinen Oberschenkeln lag, genau zu betrachten und schloss dann wieder die Augen, um zu üben, wobei er dem Inhalt des ersten Abschnitts folgte. Anfangs fühlte er sich etwas unbeholfen, da diese Technik sehr von den üblichen Kultivierungsmethoden abwich. Glücklicherweise war sein Talent außergewöhnlich, und nach einer Stunde der Erkundung fand Su Chen allmählich den Schlüssel.
Nachdem er einen vollen Kreis durchlaufen hatte, wie in der Schriftrolle gezeigt, erbebte plötzlich das Herz von Su Chen, denn er bemerkte eine leichte Bewegung in seinem zuvor stillen Dantian. Su Chen unterdrückte die Euphorie in seinem Herzen und übte weiter die Neun-Yang-Göttliche Technik. Mit der Zeit begannen sich die Ruinen des zerbrochenen Dantians allmählich zu verlagern.
Su Chen wusste, dass dies nur der erste Schritt der Reinigungsarbeit war. Es war noch ein langer Weg bis zur Wiederherstellung des Dantian, aber er war schon sehr zufrieden, denn er sah endlich einen Hoffnungsschimmer. Es war jetzt nach vier Uhr morgens, Su Chen war schweißgebadet, sein T-Shirt und seine Shorts waren völlig durchnässt, aber er zirkulierte den ersten Teil der göttlichen Technik der Neun Yang weiter in einem Rausch.
Erst als die ersten Strahlen des Morgenlichts durch das Fenster in den Raum drangen, hörte Su Chen auf zu üben. Vorsichtig tastete er sein Dantian ab und stellte fest, dass das Dantian, das ein Jahr lang zertrümmert gewesen war, nun Anzeichen einer Neugestaltung aufwies, wenn auch nur leicht. Su Chen unterdrückte den Drang, in Gelächter auszubrechen, stieg aus dem Bett, öffnete das Fenster und blickte in das helle Sonnenlicht, das ihn mit Zuversicht erfüllte!
Er glaubte, dass sein zerbrochenes Dantian in Kürze erfolgreich neu geformt sein würde! Diesmal könnte er sogar noch weiter gehen als zuvor!