Das war nicht Dahmers gewöhnliche Art und Weise, doch heute hatte er seinen Grenzwert erreicht. Er konnte das dunkle Verlangen, das unter der Oberfläche brodelte, nicht länger verleugnen – ein Verlangen, das er bisher wegen Esme, seiner „vermeintlichen" Schwester, unterdrückt hatte.
Er hatte es nie akzeptiert, doch als er sah, wie sie im Wagen des Königs aufgeregt wurde, konnte er die aufkommende Irritation nur schwer verbergen. Er ertrug den Gedanken nicht, die Kontrolle über sie zu verlieren, und ihre mögliche Allianz mit dem König drohte seine Autorität zu untergraben. Wäre es nicht der König gewesen, hätte er es ohne zu zögern abgelehnt.
In seiner verdrehten Vorstellung war Esme sein Anspruch, sein Besitz, und er würde nichts unversucht lassen, um sie in seiner Kontrolle zu behalten.
Er hatte eine Ausrede erfunden, um dem König und Leonardo zu entkommen, um seinen Anspruch auf Esme erneut zu bekräftigen. Er musste sie daran erinnern, dass sie ihm gehörte, und nur ihm. Zudem war er neugierig auf die vermeintlichen Vorteile der Intimität mit einer Montague-Frau. Würde es ihm und seiner Wölfin wirklich zugutekommen, mit ihr zu schlafen? Das wollte er herausfinden, indem er ihren Körper erforschte, um die verborgenen Vorteile aufzudecken.
„Du zitterst wie Espenlaub", spottete Dahmer, während sie zitternd auf dem Bett lag. Seine gnadenlosen Augen fixierten Esme, die ihn erschrocken ansah. „Sei nicht so nervös. Wir sind keine Blutsverwandten und du siehst mich nicht als Bruder an, so wie du es bei Finnian tust, oder?", stichelte er.
Esme versuchte sich aufzusetzen, aber ihr Körper fühlte sich bleiern an. Mit einem leisen Aufschrei sank sie zurück auf das Bett, ihre Kräfte entwichen ihr. In ihren blauen Augen mischten sich Unsicherheit, Angst und Verwirrung. Doch als Dahmer sich neben sie hockte, zuckte sie unwillkürlich zurück und ihre Augen schlossen sich vor Verzweiflung. Seine sanfte Geste, ihr Haar hinter das Ohr zu streichen, ließ sie sich nur noch gefangener und verletzlicher fühlen.
Sie hasste dieses Gefühl.
„Was lässt dich denken, dass der König sich um dich schert?", höhnte Dahmer, seine Stimme triefte vor Herablassung. „Benutze deinen Kopf, Esme. Er nutzt dich nur für seine eigenen Zwecke. Ich bin der einzige, der dich schützen kann, hast du das vergessen? Wäre ich nicht gewesen, wärst du das Spielzeug der Tyrannen geworden, die dich in die Finger kriegen wollten. Aber du bist zu blind, um meine Großzügigkeit zu würdigen, nicht wahr?", er packte ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
Esmes Tränen rannen über ihr Gesicht, ihre Lippen bebten, als sie flüsterte: „Bitte, tu das nicht." Doch Dahmer wischte ihre Tränen mit falscher Zärtlichkeit weg. Seine kühlen Lippen streiften ihre Stirn in einem spöttischen Kuss, und Esmes Finger krallten sich in das Bettlaken, ihr Herz drohte, ihren Mund zu verlassen, doch sie kämpfte darum, ihren Verstand zu bewahren.
Gerade als Dahmer versuchte, ihre Lippen zu küssen, unterbrach ein plötzliches Klopfen an der Tür die Spannung. Leonardos Stimme drang durch, und er klopfte erneut.
„Alpha Dahmer", rief er, was den Alpha auf der Stelle erstarren ließ. Esme wollte sprechen, doch Dahmers Hand legte sich über ihren Mund und brachte sie zum Schweigen. Seine Augen offenbarten die andauernde Drohung von zuvor, sollte sie versuchen zu sprechen, und der Gedanke an Vivienne zwang sie, stumm zu bleiben.
„Alpha Dahmer?"
„Was gibt es?", antwortete Dahmer schließlich, und es herrschte Stille. Dann kam Leonardos Stimme erneut durch. „Ich dachte schon, du wärst hier, da du nicht in deinem zugewiesenen Zimmer warst. Du warst vorhin offensichtlich zu erschöpft, hast dich aber auf wundersame Weise erholt, um davonzuschleichen und... was auch immer du hier tust, zu genießen. Es ist etwas aufgetreten, der König möchte, dass du bei der Versammlung anwesend bist." Er überbrachte die Worte des Königs, sein Tonfall war ernst, was Dahmer zu einem frustrierten Seufzen veranlasste.
„Ich bin bald da",antwortete er knapp, „lass uns allein.""Ich fürchte, es ist dringend, Alpha." Leonardos Stimme klang wieder, diesmal eindringlicher. "Lassen Sie Seine Majestät nicht warten. Er war so großzügig, die Sitzung aufzuschieben, damit wir gemeinsam beginnen können. Wenn Sie nicht binnen zwei Minuten erscheinen, wird sie ohne Sie starten, und das käme einer Missachtung des königlichen Befehls gleich." Damit war er weg.
Seine sich entfernenden Schritte hallten nach, bis sie nicht mehr zu hören waren, und Dahmer erhob sich in seiner ganzen Größe. Es war die Dreistigkeit des winzigen Beraters des Königs, die ihn reizte. Das frühere Gerede über sein heimliches Entschwinden hatte Dahmer misstrauisch gemacht.
Dieser winzige Berater konnte unmöglich seine Absichten kennen. Es wäre irrelevant, wenn er es täte, aber fortan musste er klüger vorgehen, da dieser Berater in Zukunft ein großes Hindernis darstellen könnte.
Als er sich umdrehte, um Esme anzusehen, breitete sich ein verschlagenes Lächeln über sein Gesicht aus, während ihm eine Idee in den Sinn kam. Für den Fall, dass dieses Vorhaben scheiterte, hatte er bereits einen alternativen Plan im Hinterkopf, und er war mit sich selbst zufrieden, für Eventualitäten vorgesorgt zu haben. Aus seiner Tasche zog er zwei schlanke Stäbchen hervor, die an Weihrauch erinnerten, und legte sie auf ihren Tisch. Nachdem er ein Streichholz gefunden hatte, entzündete er die Stäbchen und füllte den Raum mit einem schwachen, aber stechenden Rauch. Dann schloss er das Fenster und sperrte die nebelartige Atmosphäre ein.
"Ich komme wieder", sagte er mit tiefer und knapper Stimme, richtete seinen Gürtel und verließ ihr Zimmer. Die Tür schloss sich hinter ihm.
Esmes Blick fiel auf das glimmende Stäbchen, und mit jeder Sekunde wuchs ihr Unbehagen. Der Duft, der von ihnen ausging, war seltsam anziehend, doch beruhigte dies ihr rasendes Herz kaum. Mit enormer Anstrengung versuchte sie, sich aufzurichten, doch ihr Körper wehrte sich dagegen.
Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und zeugten von ihrem unerbittlichen Ringen, doch am Ende lag sie atemlos auf dem Bett. Ein einziger, verzweifelter Gedanke kreiste in ihrem Kopf: Wenn sie nur die Tür erreichen und Hilfe finden könnte, oder sie so verriegeln könnte, dass Dahmer nicht herein könnte.
Zwanzig Minuten vergingen, und Esmes Kehle war ausgetrocknet, sie sehnte sich nach Wasser. Eine Welle unnatürlicher Hitze überrollte ihren Körper und ließ sie atemlos und keuchend zurück. Sie wandte ihren Kopf hin und her, auf der Suche nach einer Linderung, doch es gab keine. Ihr Körper stand in Flammen, strahlte eine intensive, quälende Hitze aus, die sie in Frustration wimmern ließ.
"..!!!!.."
Ihre Fingernägel krallten sich in das Bettlaken, als wollte sie dem quälenden Gefühl entfliehen, das durch ihre Adern floss. Sie fühlte sich wie eine Omega im Hitzezyklus, doch hatte sie keinen Wolf – wie konnte sie dieses Gefühl erklären? Was hatte Dahmer mit ihrem Körper gemacht? Die Pille, zu deren Einnahme er sie gezwungen hatte, schien einen urtümlichen, unaufhaltsamen Hunger in ihr geweckt zu haben und ließ sie völlig konfus und hilflos zurück.
'Was soll ich nur tun?' Sie geriet in Panik.
"Jemand...", versuchte sie zu sprechen, irgendjemanden zu rufen, doch sie konnte nicht. Ihre Sicht verschwamm mehr und mehr, und sie kämpfte darum, ihre Augen offen zu halten. Ihr Blick blieb an der Tür haften, als wollte sie jemanden herbeisehnen. Ihre Augenlider flatterten, wurden mit jedem Moment schwerer. Gerade als sie sich der Dunkelheit hingeben wollte, die ihre Sicht verschleierte, öffnete sich die Tür plötzlich mit einem Knarren.
Die herannahenden Schritte einer Person hallten durch den Raum, und das Geräusch schwerer Stiefel kündigte die Ankunft einer unbekannten Präsenz an.