Barak ruhte sich unter einem Baum aus, einige Meter entfernt von dem Zaun, der die Hauptburg von der kleineren Burg trennte; letztere war vom Königreich Avelah für ihre regelmäßigen Besuche bereitgestellt worden.
Die Nacht war kühl und still. Sogar die Grillen schienen bereits eingeschlafen zu sein. Er liebte die stille, ruhige Nacht. Sein in der Scheide steckendes Schwert lag neben ihm im Gras.
Dort lag er mit geschlossenen Augen, als er plötzlich ein Rascheln im Gebüsch hinter sich hörte. Alarmiert griff er, noch bevor er seine Augen öffnete, nach der Schwertscheide.
Der Baum, unter dem er saß, war breit und dicht; seine Blätter und Äste bildeten einen Schirm, der beinahe den Boden streifte, weshalb das Licht des fast vollen Mondes kaum bis zu ihm vordringen konnte.
Er erhob sich und seine Füße bewegten sich leicht und behutsam. Vorsichtig schob er ein paar Blätter und Zweige beiseite, um besser sehen zu können. Sein Griff um die Schwertscheide verstärkte sich, als er eine Gestalt in der Dunkelheit ausmachte.
Seine Stirn runzelte sich, während er die Augen zusammenkniff. Er beobachtete die Gestalt, die sich schnell, wenn auch ungeschickt, bewegte. Sie war auf dem Weg zur kleineren Burg, in der er und seine Männer untergebracht waren.
Er zog die Stirn kraus bei dem Gedanken, dass König Gerald II. möglicherweise einen Spion geschickt hatte, was ihm ein flaues Gefühl im Magen verursachte. Er wusste, dass Vertrauen nicht einfach erwartet werden konnte, selbst wenn beide Königreiche seit langem in Frieden lebten. Aber dies, dies war eine Beleidigung! Wenn der König von Avelah kein Vertrauen in sie hatte, so erwartete Barak, dass der Mann ihm das persönlich sagen würde, anstatt einen Spion zu schicken, der sie überwachte! Das war einer der Gründe, warum er Elfen nicht leiden konnte. Sie waren einfach nicht vertrauenswürdig!
"Verflucht seien sie!" zischte Barak. "Sie wollen spielen, dann sollen die Spiele beginnen."
...
Nachdem sie überlegt hatten, dass jemand zurückbleiben musste, um zu gewährleisten, dass niemand bemerkte, dass die Prinzessin fort war, kamen Neriah und Aria zu dem Schluss, dass Aria diejenige sein sollte, die zurückblieb.
Zudem war Aria außer sich vor Angst; es wäre schwierig gewesen, die Mauern hinaufzuklettern, wenn man vor Furcht zitterte.
Leise und behände näherte sie sich den Burgmauern und mied dabei sorgsam die Patrouillen der Wachen.
Vielleicht hätte sie das vorher bedenken sollen, aber als sie vor den Mauern stand, wurde ihr bewusst...
Ja, sie war eine exzellente Schwertkämpferin und ja, sie war eine brillante Bogenschützin, und ihre Schläge und Tritte waren kraftvoll, aber keins dieser Talente half ihr dabei, einen Zaun zu überklettern! Sie war keine Zaunkletterin.
"Du bist schon so weit gekommen; du schaffst es auch weiter", sagte sie sich. Mit diesen Worten platzierte sie ihren rechten Fuß, dann ihre rechte Hand. Ihr linker Fuß und ihre linke Hand folgten, aber welcher Teil ihrer Gliedmaßen als Nächstes bewegt werden sollte, wusste sie nicht.
...Barak stand in einiger Entfernung und beobachtete die Szene – ein wenig amüsiert, ein wenig verwirrt und leicht verärgert. Der König von Avelah hatte nicht nur einen Spion geschickt, sondern auch noch einen äußerst unfähigen!
Was hielt dieser Mann von den Menschen im Königreich Trago, wenn er einen Spion aussandte, der nicht einmal über einen Zaun klettern konnte?
Er war schon von Natur aus klein und unauffällig – vielleicht war das eigentlich ein Vorteil. Die geringe Körpergröße erlaubte es dem neugierigen Kletterer, sich unbemerkt bewegen zu können. Wäre er nur nicht so ungeschickt gewesen.
In jenem Moment fiel der tollpatschige Kletterer auf den Hintern, sein Mantel rutschte von den Schultern und gab den Blick auf langes, seidig glänzendes Haar frei, das dunkel und rot wie Blut herabfiel und den staubigen, trockenen Boden berührte.
Dieser unfähige Spion war überhaupt kein Mann. Es war eine Frau. Eine Frau mit makellosem, langem rotem Haar. Ein neuer Amüsementsmoment durchströmte ihn, als er sah, wie sie vor Schmerz zusammenzuckte.
Er hörte, wie sie einige vulgäre Flüche flüsterte und etwas über ihn sagte. War sie hier, um ihn auszuspionieren? Nun fragte er sich, ob der König von Avelah tatsächlich jemanden wie sie aussenden würde, um sie zu bespitzeln. Und dann auch noch eine Frau.
Nicht das er etwas dagegen hätte, dass Frauen derartige Aufgaben wahrnehmen. In seinem Königreich gab es schließlich auch Kriegerinnen. Doch bekanntermaßen behandeln elfische Stämme und Königreiche ihre Frauen wie zerbrechliches Glas. Eine weibliche elfische Spionin war deshalb eine echte Überraschung.
Er musste sich also fragen, wenn sie nicht vom König geschickt worden war, wer dann um alles in der Welt diese fluchende, rothaarige Frau sein mochte.
Er beobachtete, wie sie sich abstaubte und erneut auf die Beine kam, bereit, einen weiteren sinnlosen Versuch zu starten, die Mauer zu erklimmen.
Langsam selbst ungeduldig geworden brummte er einige Flüche und ging auf sie zu.
"Hey!", rief sie erschrocken und drehte sich zu ihm um, worauf er verharrte. In diesem Augenblick schien der Mond noch mehr zu erstrahlen. Der Ort wurde heller, der Wind schien langsamer zu wehen, alles bewegte sich langsamer als gewöhnlich.
Und für einen Moment starrte er nur.
Überzogen mit Staub von Kopf bis Fuß und dennoch konnte er schwören, dass er noch nie ein Geschöpf in Schmutz und Schweiß strahlender gesehen hatte. Sie leuchtete. Vielleicht war es Elfenmagie, aber sie strahlte und ihm wurde schnell klar, dass nicht der Mond heller wurde, sondern dass sie ihr eigenes Licht ausstrahlte.
Sie war eine kleine und wunderschöne Frau. Ihr Gesicht war ein perfektes Oval, umgeben von den prächtigen Locken ihres roten Haares. Ihre Nase war klein und spitz, ihre Lippen leicht geöffnet. Im Mondschatten wirkten sie violett, aber er konnte schwören, dass diese Lippen bei Tageslicht rosarot sein würden.
Wer in aller Welt war diese Frau, die versuchte, die Mauern zu erklimmen?