"Neriah konnte fühlen, wie ihr Herz beinahe aus der Brust sprang. Ihre Beine zitterten, und ihre Knie hielten sie kaum noch. Ja, sie war darauf vorbereitet zu kämpfen, falls es nötig sein sollte, aber nein, eigentlich war sie nicht darauf vorbereitet! Nicht, wenn der Mann so aussah, als könnte er mit einer einzigen Fingerbewegung ihre Knochen brechen.
Wo kam ein solcher Mann her? Und wie konnte es sein, dass sie seine Schritte nicht gehört hatte? Er war ein großer Mann, mit straffen Muskeln. Sie müsste es hören, wenn er sich bewegte, aber sie tat es nicht.
Und dieser Mann, der fast doppelt so groß wirkte wie sie – nun gut, vielleicht nicht ganz doppelt so groß, aber er war sicherlich nicht kleiner als 1,95 m. Und sie war gerade einmal 1,68 m.
Warum war er nur so unverschämt groß? Er war nur etwa drei Meter von ihr entfernt, und dennoch konnte sie seine dominierende Ausstrahlung spüren.
Und was war mit seinen Augen? Brannten sie? Warum schienen sie in der Nacht zu glühen?
Sie starrte, obwohl sie nicht starren sollte. Sie musste etwas sagen, irgendetwas, oder zumindest um ihr Leben laufen. Aber sie konnte weder ihre Beine, noch ihre Lippen bewegen. Sie stand nur da und starrte den Mann an.
Ah ja, der Mann. Er war in jeder Hinsicht definitiv ein Mann. Und dazu noch ein atemberaubender. Sein lockiges Haar war dunkel, im Mondschein erschien es fast dunkelblau. Es war etwas länger und reichte bis zu seinen Schultern, und einige Strähnen, die in sein Gesicht fielen, gingen bis zum Kinn. Seine Lippen waren voll und fein geschnitten. Seine Nase war spitz. Sein Kiefer war zu perfekt geformt. Ein Grübchen inmitten seines Kinns verstärkte nur noch die fesselnden Züge des Mannes, der vor ihr stand.
Seine kräftigen Arme waren lässig vor seiner Brust gekreuzt.
Was!! Offensichtlich gehörte er zum Drachenvolk. Jene feurigen Augen waren ein klares Kennzeichen. Aber sollten sie nicht eigentlich hässlich und unangenehm anzusehen sein? Immerhin waren es Barbaren.
Warum sah er dann so aus?
Man sagte, ihre dunkle Haut ließe sie aussehen wie Dreck und Mist, doch in diesem Moment konnte Neriah nur sehen, dass die dunkle Haut dieses Mannes seine männliche Schönheit nur noch hervorhob. Wie konnte es sein, dass die Haut eines Menschen so braun war wie eine Walnuss und er dennoch so gut aussah?
Sie konnte nicht länger nur dastehen und ihn anstarren, sie musste etwas sagen, irgendetwas ... Oder um alles in der Welt, sie musste um ihr Leben rennen!
Plötzlich fielen ihr Arias Worte wieder ein, und sie zitterte.
"M_ mein,"
"Sind Sie die zusätzliche Magd, von der man sprach, die heute Prinz Barak bedienen sollte?" Seine Stimme, o ihr Götter, seine Stimme war tief und voll. Ihr Vater hatte eine tiefe Stimme, aber diese berührte sie bis in die tiefsten Regionen ihres Bauches. Ihr Vater musste schon sehr wütend sein, um einen ähnlichen Klang hervorzubringen. Aber dieser Mann schien entspannt und doch war seine Stimme so tief!
"Können Sie nicht sprechen?" fragte er erneut. Sie runzelte die Stirn über seine Frage. Natürlich konnte sie sprechen, sah sie etwa dumm aus? Aber was war nur los mit ihr; sie musste doch etwas sagen!
"Haben Sie sich verirrt? Oder sind Sie die Magd, die gesandt wurde, um Prinz Barak zu dienen?"
"Ja!", fand sie endlich ihre Worte.
"Ja, was?" In seiner Stimme lag eine befehlende Macht. Eine, die deutlich seine Überlegenheit zeigte. Eine, die klar machte, dass er keinen Ungehorsam erwartete.Aber er war eher schlicht gekleidet, eine einfache Tunika, die in die Lederhosen gesteckt war, und kniehohe Stiefel. Ein prächtiges Schwert an seiner Seite. War er ein dekorierter Wächter? Vielleicht.
"Offensichtlich bin ich nicht so dumm, mich zu verlaufen. Ist es nicht offensichtlich, dass ich das Dienstmädchen bin, das Prinz Barak zugeteilt wurde?" Anscheinend hatte er sie nicht dabei beobachtet, wie sie die Mauer erklommen hatte. Wenn er glaubte, sie sei ein Dienstmädchen, würde ihr das leicht Zutritt ins Schloss verschaffen.
Welch angenehmer Zufall! Anscheinend sollte ein Dienstmädchen kommen. Die Göttin war ihr wohlgesonnen, dachte Neriah. Ich werde mich einfach als Dienstmädchen verkleiden, um den Prinzen zu sehen. Sagte sie sich.
"Ich wurde als zusätzliche Hilfe entsandt, um Prinz Barak zu dienen. Du wirkst wie ein Wächter? Bring mich zu ihm", befahl sie.
"Ah, verstehe. Kommen Sie bitte mit." Der unglaublich große Mann wies ihr den Weg. Neriah konnte nicht glauben, dass es funktionierte; sie konnte nicht glauben, dass sie ohne jegliches Hindernis das Schloss betreten würde!
Aber was sie nicht bemerkte, war das Grinsen, das sich auf den Lippen des Mannes abzeichnete, der sie führte.
…
Eigentlich hatte er den Eindringling würgen wollen, in der Annahme, es sei ein Mann. Doch nun hatte sich alles geändert.
Der Mann entpuppte sich nicht nur als Frau, sondern als etwas, das er einfach nicht ganz erfassen konnte. Sie war mehr als alles, was er zuvor gekannt hatte. Und etwas an dem autoritären Ton ihrer Stimme weckte Baraks Neugier.
Aufgrund ihrer Sprechweise schien sie jemand zu sein, der im Stande war, Befehle zu erteilen. Ihre Worte sprach sie aus, als erwartete sie ohne weiteres, dass ihnen Folge geleistet wurde.
Wenn der König von Avelah keinen Spion geschickt hatte, um ihn zu beobachten, wer sonst wäre dann so interessiert an seinem Leben, dass man jemanden zum Ausspionieren schicken würde?
Es kam ihm nur ein Gedanke. Er wusste nicht wieso, doch er hatte das Gefühl, dass wenn das, was er über die Prinzessin gehört hatte, stimmte, sie sehr wohl hinter dieser ganzen Spionageaktion stecken könnte.
Es ergab Sinn, und diese rothaarige Frau war wahrscheinlich die persönliche Zofe der Prinzessin. Das würde erklären, warum sie so bestimmend klang. Sie war vermutlich gewöhnt, den Arbeitern um die Prinzessin herum Befehle zu erteilen, da ihre Position sie über die anderen stellte.
Je mehr er darüber nachdachte, desto interessanter wurde es.
Liebe Braut, bist du so neugierig, das Aussehen deines zukünftigen Ehemannes zu kennen? So sehr, dass du jemanden zum Ausspionieren schickst? grübelte Barak. Wenn seine Braut schon jemanden schicken wollte, um ihn auszuspähen, hätte sie bei der Auswahl des Spions sorgfältiger sein sollen.
Sie hätte jemanden wählen sollen, dem er nicht mal einen Blick gewähren würde.
Aber ihm diese wandelnde und atemraubende Versuchung zu schicken, war wirklich ein törichter Schritt seiner naiven Braut.
Andererseits, war die Versuchung hin und wieder zu erliegen, gar keine so schlechte Idee. Und er hatte vor, sich heute Abend tief in diese Versuchung zu stürzen.
Er plante tatsächlich, in dieser angenehmen Versuchung zu ertrinken. Er würde ihr so tief verfallen, dass sie ihn um Gnade anflehen würde, und dann könne sie der Prinzessin berichten, was diese in der Hochzeitsnacht zu erwarten habe.