Der Tod seines Bruders und seines ersten Sohnes? Ron fragte sich. Könnten das Zedekiels Vater und Bruder sein? Diejenigen, von denen die Königinmutter ihm erzählte?
"Ich war kein Verräter, Ron", fuhr Kayziel fort. "Ich habe mein eigenes Volk nie verraten. Ich wollte nur Frieden, doch diese schmutzigen Ashenmore haben mich ausgenutzt. Sie haben mich hereingelegt und meinen Bruder, seinen Sohn und alle Wachen, die sie begleitet haben, in eine Falle geführt."
Seine Stimme war nun von so viel Zorn und Resentiment erfüllt, dass Ron unwillkürlich vor Angst erschauerte. Unbewusst bewegte er sich von dem Elfengeist weg.
"Wir hätten in Frieden leben sollen. Mein Bruder vertraute darauf, dass ich alle Angelegenheiten regeln würde. König Rafael von Ashenmore hatte den Vertrag unterschrieben und einen Friedenseid zwischen unseren Spezies geleistet, aber ich konnte nicht ahnen, dass sie uns verraten würden."
Ron war schockiert. König Rafael? Das war sein Ur-Ur-Ur-Großvater! Der härteste König, den Ashenmore je hatte. Er hatte so viel über seinen Ur-Ur-Ur-Großvater gehört, aber nie etwas darüber, dass er einen Krieg mit den Elfen geführt hatte. Tatsächlich wusste er nicht, dass zwischen Elfen und Menschen eine so schlechte Geschichte bestand.
Plötzlich sah ihn Kayziel an und schenkte ihm ein gespenstisches Lächeln. Es ließ Rons Herz vor Furcht klopfen. "Ob es dir gefällt oder nicht, Rafaels Blut fließt noch immer in dir", sagte er. "Warum zeige ich dir nicht die abscheulichen, unmoralischen Dinge, die dein eigenes Volk uns angetan hat? Lass mich dir zeigen, wie sehr wir gelitten haben und wie ich hierher gekommen bin!"
Ein grelles Licht flammte auf und Ron wurde ohnmächtig.
Als Ron aufwachte, saß er auf einem Pferd, so schwarz wie Kohle. Er trug marineblaue Roben mit hellblauen, fast weißen Wirbelmustern. Ron war verwirrt. Hatte er nicht eben noch mit einem Geist gesprochen? Wo war er?
"Eure Hoheit, König Rafael ist hier", sagte ein Mann neben Ron.
Ron nickte. "Lass uns gehen." Er stieg vom Pferd und ging zusammen mit dem Mann auf ein Gebäude zu. Er wollte es nicht, aber er tat es. Sein eigener Körper bewegte sich von selbst.
Moment mal ... König Rafael?!!! Was zum Teufel!!! Er war dabei, seinen eigenen Ur-Ur-Ur-Großvater zu treffen!!!
Er wollte fragen, wo er war und warum er dort war, doch sein Körper kooperierte nicht. Plötzlich bemerkte er, dass sein Körper größer und älter aussah. Er hatte viele Muskeln. Sein Haar war auch silbern und schulterlang. Wie hatte sich sein Körper verändert?!
Er warf einen Blick auf den Mann neben sich und bemerkte, dass dieser einfache schwarze Roben trug. Er hatte blondes Haar und ebenfalls spitze Ohren. Rons Ohr zuckte. Er hatte das Gefühl, seine Ohren waren ebenso spitz. Er war ein Elf!Ron war verwirrt. Hatte er etwa eine andere Zeitebene betreten? Doch wenn das der Fall war, sollte er dann nicht die Kontrolle über seinen eigenen Körper haben? Was geschah hier nur?
Bald erreichten sie das Gebäude und betraten es. Ron staunte, wie groß das Innere war. Es war beinahe so groß wie die Halle in Netheridge und angenehm kühl. Die Vorhänge waren in Grün und Gold gehalten, und der Boden wirkte, als wäre er aus Eis, war jedoch angenehm zu begehen.
„Prinz Kayziel", hörte Ron jemanden rufen. Er reagierte darauf und in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich im Körper von Kayziel befand. Ron begriff, dass er die Geschichte durch Kayziels Augen erlebte! Er würde erfahren, was Zedekiels Vater und Bruder passiert war. Er würde herausfinden, was seine eigenen Vorfahren den Elfen angetan hatten. Er wollte die wahre Geschichte erfahren, nicht das, was man ihnen erzählt hatte oder was sie gelesen hatten.
Deswegen konnte er, egal was er versuchte, Kayziels Körper oder seine Worte nicht kontrollieren. Er war lediglich ein Beobachter. Alles verlief so, wie es früher geschehen war.
„König Rafael", sagte Ron und stand seinem eigenen Urururgroßvater gegenüber. Er verneigte sich tief und richtete sich wieder auf. „Es tut mir Leid. Mein Bruder, der König, konnte heute nicht kommen. Er musste zurückbleiben, um wichtige Hofgeschäfte zu erledigen. Er hat mich in seinem Namen gesandt."
Ron stellte fest, dass er seinem Urururgroßvater sehr ähnelte. Die Haare hatten denselben natürlichen Rotton. König Rafaels Haar war jedoch länger und reichte ihm bis zu den Schultern, was ihm ein reifes Aussehen verlieh, während Rons lockiges Haar ihn niedlich und jugendlich wirken ließ. Ron hatte leuchtend smaragdgrüne Augen, König Rafaels Augen waren hingegen ein tiefes Grün, so dunkel, dass man sie fast für schwarz halten könnte.
König Rafael war offensichtlich nicht erfreut und versuchte nicht, dies zu verbergen. „Was könnte derart wichtig sein, dass er dich nicht damit betrauen konnte? Wie kann er einen einfachen Prinzen schicken, um Friedensangelegenheiten mit mir zu besprechen? Traut er dir etwa nicht zu, die Hofgeschäfte zu regeln? Oder fürchtet er, du könntest ihm den Thron streitig machen?"
Der junge Prinz konnte es spüren – all die Emotionen von Kayziel. In diesem Moment war Kayziel zornig, doch er unterdrückte es und lächelte lediglich. „Wenn es Eurer Majestät missfällt, dass ich hier bin, können wir das Treffen verschieben, damit mein Bruder die Gelegenheit erhält teilzunehmen."
„Nein, das wäre nur Zeitverschwendung. Wir sind beide von weit her gereist", erwiderte König Rafael. „Da dein Bruder dich geschickt hat, musst du wohl fähig sein. Komm, zeig uns, was du kannst."
Ron spürte es. Kayziel war nervös, aber er vertraute seinen Fähigkeiten. Er wusste, dass er gut verhandeln konnte. Wenn nicht, hätte ihn sein Bruder nicht geschickt.
Diese Liebe und dieses Vertrauen, das die Brüder füreinander empfanden, fand Ron wunderschön. So konnte sie niemand auseinanderbringen.
König Rafael und Prinz Kayziel saßen sich auf harten Steinstühlen gegenüber, zwischen ihnen ein Steintisch, und die Diskussion begann. Die Personen, die König Rafael begleitet hatten, standen hinter ihm, und die einzige Person, die Prinz Kayziel begleitete, stand an seiner Seite.
Prinz Ron fragte sich, warum Prinz Kayziel nur eine Person mitgebracht hatte. Kaum war ihm der Gedanke gekommen, sprach König Rafael in einem herablassenden Ton: „Ein Leibwächter, Prinz Kayziel? Haltet Ihr zu viel von Euch selbst, oder unterschätzt Ihr unsere Fähigkeiten? Meint Ihr, Ihr könnt es allein mit uns allen aufnehmen, sollte die Situation eskalieren?"