LUO YAN blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es bald Essenszeit war. Luo Jin hatte erwähnt, dass er sich nur kurz ausloggen würde, war jedoch nach längerer Zeit nicht zurückgekehrt. Er fragte sich, was wohl passiert sein könnte.
"Bruder Ji Yun", rief er und verspürte innerlich ein leichtes Unbehagen. Es war schon seltsam, diesen Mann 'Bruder' zu nennen. Schließlich war er in Wirklichkeit älter als er. Doch hatte er sich bei ihrem ersten Treffen absichtlich zierlich und bedauernswert gegeben und ohne Zögern 'Bruder' zu ihm gesagt. Nun die Anrede zu ändern, käme ihm merkwürdig vor. Er würde sich schlicht damit abfinden. "Ich werde mich jetzt ausloggen. Danke für das Essen. Was kostete es? Ich möchte mich an den Kosten beteiligen."
"Das ist nicht nötig."
Er schien unbeeinflussbar, also entgegnete Luo Yan nur: "Dann lade ich dich das nächste Mal zum Essen ein."
Shen Ji Yun erwog, abzulehnen, da ihm virtuelles Essen nicht wirklich zusagte. Wie schmackhaft es auch sei, es fehlte stets etwas. Eine gewisse Zufriedenheit, die man nur beim Verzehr echter Speisen spürte. Vielleicht war er auch nur zu kritisch, weil er selbst kochen konnte.
Doch ehe er ablehnen konnte, kam ihm der Gedanke, dass dies eigentlich eine gute Ausrede für ein weiteres Treffen wäre. So konnte er schlussendlich nur ein zögerliches "Hm" von sich geben.
"Dann gehe ich jetzt."
"Warte", hielt er Luo Yan auf, der aufgestanden war. Der Hase drehte sich um, seine großen Augen, die an Pfirsichblüten erinnerten, waren voller Neugier, warum er ihn aufgehalten hatte. "Wenn du im Spiel auf etwas stößt, das dir unklar ist oder seltsam vorkommt, schreib mir einfach. Ich werde versuchen, es dir so gut es geht zu erklären."
"Aber wäre das nicht zu viel Mühe?"
"Keineswegs."
Luo Yan betrachtete Shen Ji Yuns scheinbar kühle Erscheinung, aber trotzdem drückte er sich recht herzlich aus. Wäre er vielleicht jemand, der äußerlich kalt, aber innerlich sehr herzlich ist? Moment - würde er dann nicht in die Kategorie jener Figuren fallen? Wie lautete noch gleich der Ausdruck? Der Begriff, mit dem Otakus diesen Charaktertyp beschreiben. Muu- juu- ah! Kuudere! Das muss es sein, richtig?
Luo Yan musste grinsen, als er an diese Möglichkeit dachte. "Dann nehme ich dich, Bruder Ji Yun, beim Wort." Der andere nickte ernst, was Luo Yan sehr belustigte. "Ich werde mich jetzt verabschieden. Auf Wiedersehen", sagte er und winkte kurz.
Als er die private Loge verließ, fiel ihm siedend heiß ein, dass er dem Ei heute noch kein Mana zugeführt hatte. Er würde es tun, bevor er sich ausloggte.
Shen Ji Yun betrachtete die geschlossene Tür der Loge und seufzte. Eigentlich wollte er fragen, ob er und der Hase Freunde sein könnten. Doch irgendwie fand er nicht den geeigneten Moment dafür. Vielleicht lag es einfach daran, dass er keine Übung darin hatte, jemanden um Freundschaft zu bitten – er hatte so etwas noch nie gemacht.
Er und Bai Ze wurden durch dessen unablässige Bemühungen Freunde. Oder besser gesagt, Bai Ze hatte einfach Freude daran, sich in seine Angelegenheiten einzumischen. Mit der Zeit gewöhnte er sich einfach an seine Anwesenheit. Ähnlich erging es mit Yuqi und den anderen beiden Teammitgliedern.
Sollte er Bai Ze also um Rat fragen? Er seufzte lang. Allein der Gedanke bereitete ihm Kopfschmerzen.
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Luo Yan verließ sein Zimmer. Er ging nur ein paar Schritte und sah sogleich Luo Jin. Es schien, als käme er gerade aus seinem Zimmer herunter."Ah Jin", rief er und ging auf ihn zu. "Warum hast du dich plötzlich ausgeloggt? Und dann bist du nicht wieder online gegangen. Ist etwas passiert?"
"Nichts. Ich fühlte mich nur müde und habe beschlossen, mich auszuloggen, um ein wenig zu schlafen", sagte Luo Jin, ohne seinen Bruder anzusehen.
Wie könnte er ihm erklären, dass er nach dieser Aufgabe mit allerlei Dingen konfrontiert wurde, über die er nicht einmal sprechen wollte? Nicht nur das, er hatte es auch gerade so geschafft, alle Ziele zu treffen, bevor die Zeit abgelaufen war. Als er dann in den Raum zurückkehrte, in dem sich der Meister-Schütze aufhielt, erhielt er von ihm die Note B für seine Leistung. Das war wirklich frustrierend. Ganz zu schweigen von all den unaussprechlichen Dingen, die noch an ihm hafteten. Er wusste nicht, wie er sie loswerden konnte, also entschied er sich einfach, sich auszuloggen.
Als er in sein Zimmer zurückkam, fühlte es sich so an, als ob der Schlamm, der Schleim und all das andere eklige Zeug immer noch an seiner Haut klebten. Er konnte das nur darauf zurückführen, dass das Spiel einfach zu realistisch war. So realistisch, dass selbst, als er nicht mehr im Spiel war, seine Sinne noch von dem beeinflusst wurden, was er erlebt hatte.
Also nahm er ein Bad. Wer hätte gedacht, dass er danach wirklich einschlafen würde? Technisch gesehen hatte er also seinen Bruder nicht wirklich angelogen. Er hatte ihm einfach nicht die ganze Wahrheit erzählt. Wie könnte er auch? Es war zu peinlich. Es würde ihn nur schwach und uncool dastehen lassen. Wie könnte er Luo Yan ein solches Bild von sich vermitteln?
Luo Yan betrachtete seinen jüngeren Bruder. "Wirklich?"
Er hatte das Gefühl, dass Luo Jin log. Er überlegte kurz, ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sagen, entschied sich dann aber dagegen. Er hatte Luo Jin schon oft genug schikaniert, ohne dass dieser sich dessen bewusst war. Luo Yan begann, ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Also ließ er es dieses Mal sein.
"Natürlich! Du hast doch nicht etwa allein mit diesem zwielichtigen Typ mit den blauen Augen gesprochen, oder?" wechselte Luo Jin das Thema.
"Doch, das habe ich tatsächlich."
"Warum? Ich hatte dir doch extra gesagt, dass du das nicht tun sollst", entgegnete Luo Jin mit einem Anflug von Vorwurf.
"Nun, er hat mehr als eine Stunde gewartet, nur um mir diese Fragen zu stellen. Es wäre unhöflich gewesen, ihn nicht zu treffen. Und ehrlich gesagt, sehe ich keinen Grund, es nicht zu tun", sagte Luo Yan. "Sei nicht so feindselig gegenüber ihm. Auch wenn er wie eine ausdruckslose Puppe wirkt, er ist kein schlechter Mensch."
"Es ist mir egal, ob er ausdruckslos ist oder nicht. Das ist nicht der Grund, warum ich nicht möchte, dass du dich ihm näherst", erwiderte Luo Jin verärgert und frustriert.
"Warte – willst du mir etwa immer noch erzählen, dass er Hintergedanken hat?"
"Ja, das hat er!"
Luo Yan lachte. "Ich versichere dir, das hat er nicht."
Luo Jin starrte auf das Lächeln seines Bruders, das sein ohnehin schon hübsches Gesicht noch schöner machte, und plötzlich stieg seine Frustration noch einige Stufen höher. Würde es Luo Yan wirklich gut gehen? Er konnte nicht einmal den Feind erkennen! Wie sollte er in dieser von Wölfen bevölkerten Gesellschaft sicher aufwachsen?
Aber egal. Luo Jin musste einfach dafür sorgen, dass er beschützt wurde.