Islinda war nicht tot. Dennoch kam es ihr vor, als hätte ihr die Person, die gegen sie gestoßen war, einen Vorgeschmack auf den Tod gegeben. Ihr Kopf schwirrte, schmerzhafte Stiche durchbohrten ihren Körper nach dem Aufprall, und sie presste die Augen zu einer Grimasse zusammen. Tief im Inneren wusste sie, dass der Hunger Schuld an ihrem Schwindel war, aber was war mit dem erdrückenden Gewicht auf ihr?
Moment, Gewicht…?
Ihr Verstand klärte sich allmählich, und Islinda erkannte, dass ein größerer und schwererer Körper sie niederdrückte. Zunächst geriet sie in Panik, denn sie dachte, es handele sich um einen Jäger, der sich ihr aufzwingen wollte, bis sie ihren Kopf hob und in leuchtend goldene Augen blickte, die ihr eine dunkle Furcht den Rücken hinunterjagten.
"Bei den Göttern, nein…" Sie würgte, als sie die andersweltliche Kreatur erkannte, die sie mit diesen seltsamen Augen anstarrte, und das Blut wich aus ihrem Gesicht.
Nein! Das war unmöglich! Die Dämmerung hatte noch nicht einmal begonnen!
"Überschreite niemals das Grenzgebiet zwischen Menschen und Feen", hatte ihr Vater sie als Kind gewarnt. Als sie aufwuchs, hörte sie die Erzählungen von den exotischen Wesen mit den spitzen Ohren, die hinter der Trennwand lebten. Man nannte sie Faes.
Islinda hatte als Kind einmal eine Fae gesehen, doch diese war schwach und weiblich – so unglücklich, von Menschen gefangen genommen und als Unterhaltung zur Schau gestellt zu werden. Sie erinnerte sich, dass sie das Fae-Erscheinungsbild, so ähnlich dem der Menschen und dennoch so anders, begierig aufgesogen hatte.
Die Faes waren wunderschöne, ätherische Geschöpfe, die nie alterten. Man sagt, sie würden in einem gewissen Alter eingefroren werden, und diejenige, die damals gefangen wurde, war nach ihren Maßstäben noch ein Kind. Was später mit jener Fae geschah, wusste Islinda nicht, denn ihr Vater hatte sie eilig aus der Menge gerissen, um ihr das Leben zu retten.
Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass die dummen Menschen im Handumdrehen ausgelöscht worden wären, wäre es eine stärkere Fae gewesen. Feen waren so mächtig – und unbarmherzig –, und sollte sie das Pech haben, auf eine zu treffen, musste sie laufen, so schnell sie konnte, ohne zurückzublicken.
Doch was sollte sie jetzt tun, nun, da die furchterregende Kreatur sie zu Boden gepinnt hatte und es keine Fluchtmöglichkeit gab?
Islinda rührte sich nicht. Nein, sie wagte es nicht, nicht während sie hilflos unter dieser tödlichen Kreatur lag und sich die möglichen Todesarten vorstellte. Sie beschloss, sich möglichst ruhig zu verhalten.
Die meisten gefährlichen Tiere greifen nicht an, es sei denn, sie werden provoziert, also hoffte sie, dass sie diese Technik auch auf ihn anwenden konnte. Der Schnee, der in ihren Mantel eindrang und ihren Körper kühlte, war ihr fast gleichgültig. Wichtig war nur, am Leben zu bleiben.
Doch dann bemerkte Islinda den Schweiß auf der Stirn der Kreatur. Aha, sie schwitzen also doch, dachte sie verwundert. Aber das hielt nur an, bis sie sein vor Schmerzen verzerrtes Gesicht sah. Irgendetwas stimmte nicht. Da wurde ihr bewusst, dass der Fae sie längst hätte töten können, wenn er gewollt hätte.
"H-Hilfe… mir…", keuchte die Kreatur schwach, und Islindas Augen weiteten sich.
Islinda konnte nicht sagen, was sie mehr schockierte – die Tatsache, dass die Fae-Kreatur ihre Sprache sprechen konnte oder dass er sie um Hilfe bat. Aber Hilfe wofür?
Und dann spürte sie es, eine weitere Flüssigkeit, die sich in ihre Kleidung saugte, unterschiedlich vom Schnee, denn sie war warm und klebrig. Mit gerunzelter Stirn griff Islinda zwischen ihnen hindurch und hob dann ihre Hand, nur um festzustellen, dass sie blutüberströmt war, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Just in dem Moment, als hätte die Fae-Kreatur seine Absicht erreicht, brach er auf ihr zusammen und raubte ihr erneut den Atem. Er fiel in sich zusammen und sein ganzes Gewicht lag auf ihr. Islinda konnte sich nicht unter ihm hervorwinden. Er war zu schwer.
"Bei den Göttern, was geschieht hier nur?" Islinda hätte vor Verzweiflung weinen mögen angesichts ihrer seltsamen Lage. Sie war lediglich hierher gekommen, um Nahrung zu suchen, nicht um in diese verrückte Situation verwickelt zu werden.
Sie war nun nass und musste unbedingt vom Boden hochkommen, sonst würde sie erfrieren, während ein Fae sie erstickte. Sollte sie hier sterben, was würden die Dorfbewohner von diesem Anblick halten, wenn sie auf ihre Leiche stießen? Würden sie tatsächlich Mitleid empfinden oder dies als schlechtes Omen deuten und ihren Körper ohne eine angemessene Bestattung zurücklassen – was bedeutete, dass sie als erzürnter Geist zurückkehren und sie heimsuchen würde.'Sie würde heute nicht sterben! Nicht in diesem Wald. Islinda fasste einen Entschluss und wälzte den Fae mit all ihrer Kraft um, wobei sie bei der Anstrengung stöhnte. Er kippte zur Seite, und Islinda holte tief Luft und starrte in den rosafarbenen Himmel. Endlich war sie frei.
Als sie aufstand, bemerkte Islinda, dass ihr Mantel nun nass war und sie vor Kälte fast fror. Sie wollte das nasse, schwere und unangenehme Material ablegen, aber ihre darunterliegende Kleidung würde sie kaum vor der Kälte schützen.
Unentschlossen stand Islinda da und schaute auf den Fae herab, der um Hilfe gebeten hatte, unsicher, was sie tun sollte. Er wirkte so reglos, dass er beinahe tot schien, doch als Zoe seinen Körper berührte, fühlte dieser sich eigenartig warm an. Er lebte, vorerst. Es schien, als könnten Fae Kälte besser als Menschen ertragen.
Jetzt stand Islinda an einem Wendepunkt. Der Mann war ein Fae, verdammt noch mal, und sie sollte ihn seinem Schicksal überlassen, um das menschliche Reich von einem Raubtier wie ihm zu befreien. Doch Islinda stellte fest, dass sie ihn nicht zurücklassen konnte. Nicht, wenn er sie so anflehte, obwohl er eine gefährliche Kreatur war, die ihr Leben beendet hätte, wäre er auf den Beinen gewesen.
Außerdem kam es nicht in Frage, ihn mit in ihre Hütte zu nehmen und dort zu pflegen. Wenn Madame Alice herausfände, dass sie eine solch exquisite Kreatur wie ihn in Obhut hatte, würde sie ihn verkaufen und das Geld einstecken, ohne dass Islinda jemals erführe, was mit ihm geschah. Zur Hütte zurückzukehren, war also keine Option. Dort gab es auch keinen Platz, um ihn zu verstecken.
Was sollte sie also tun?
In Islinda wuchs das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief. Dass eine so starke Kreatur seinen Verletzungen erlag, bedeutete, dass es wirklich ernst war. Dann kam ihr die verlassene Hütte im Wald in den Sinn, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Warum gerade dorthin? Heute war tatsächlich nicht ihr Tag.
Die verlassene Hütte hatte sie vor Jahren bei einer Jagd mit einigen Dorfbewohnern entdeckt. Niemand wusste, wer die Hütte errichtet hatte; sie stand einfach da. Es hieß, sie habe einem bösen Fae gehört, der nichtsahnende Menschen anlockte, um sie dann zum Abendessen zu verspeisen. Ob das wahr war oder nicht, wusste niemand, denn niemand wagte es, in die Nähe zu kommen.
Was konnte schlimmstenfalls passieren? Hier lag ein Fae, der sterben würde, wenn sie ihm nicht helfen würde. Wenn die Gerüchte stimmten und dort ein böser Fae lebte, wäre dieser vielleicht bereit, ihrem Fae-Verwandten zu helfen - und stattdessen sie zum Abendessen zu nehmen.
Islinda wusste, dass sie dies bereuen würde, doch es lag nicht in ihrer Natur, wegzuschauen, wenn jemand in Not war. Ihre Probleme schienen sich jedoch nur zu mehren, denn wie sollte sie den verletzten Fae zur verlassenen Hütte bringen und gleichzeitig das Reh tragen? Es war unmöglich.
Das Reh konnte sie nicht zurücklassen. Was, wenn ein anderer Jäger, der verzweifelt genug war, in diesen Teil des Waldes kam und das Tier fand, um die Jagd für sich zu beanspruchen? Noch schlimmer, andere Raubtiere könnten dem Blut folgen und das Tier wegschnappen. Sie konnte nicht mit leeren Händen nach Hause gehen, sonst würde Madame Alice sie bei lebendigem Leib häuten.
Islinda traf eine Entscheidung.
"Es tut mir leid," sagte sie zum Fae, als ob er sie hören könnte, "aber die Familie steht an erster Stelle, und ich bin sicher, du verstehst das." Islinda traf eine Entscheidung.
Dann hob sie das Reh mit Kraft vom Boden und legte es sich über die Schulter, wie sie es bei anderen Jagden getan hatte, da sie das Gewicht bereits gewohnt war.
Islinda tat es leid, aber der Fae hatte sich die falsche Person ausgesucht, um ihm zu helfen.
Sie musste jetzt nach Hause gehen.
Also ging sie.
Und doch hatte Islinda kaum einen Kilometer zurückgelegt, als sie seufzend stehenblieb, das Tier ablegte und zu ihm zurückkehrte.
Mögen die Götter ihr helfen.