"Guten Morgen, große Schwester."
Ein grinsendes Gesicht war alles, was sie sehen konnte, und Islinda wäre beinahe von der Pritsche gestolpert. Er hatte sie erschreckt, und wie konnte es sein, dass sie so spät aufgewacht war? Die Sonne schaute bereits durchs Fenster herein; ihre Stieffamilie würde sie dafür zur Rechenschaft ziehen.
"Was ist los, große Schwester? Du siehst besorgt aus", fragte Adric und bemerkte, wie hastig sie ihr Bett in Ordnung brachte.
"Eli, jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür. Ich muss…" Was musste sie? Sie brauchte eine Pause. "Ich muss meine morgendlichen Pflichten erledigen und dafür sorgen, dass die Familie zufrieden ist, sonst lassen sie ihre Wut an dir aus…" Islinda hielt inne, als ihr klar wurde, dass sie einem Kind so etwas nicht sagen konnte.
Sie räusperte sich, nahm Elis Hände und beugte sich zu ihm hinunter: "Wenn Menschen hungrig sind, werden sie wütend und tun verrückte Dinge. Aber keine Sorge, dir wird niemand etwas tun." Sie lächelte ihn an, in der Hoffnung, dass es genug war, um ihn zu beruhigen.
Jetzt, wo sie darüber nachdachte, kam ihr der Junge reifer vor als andere Kinder. Er machte keine Wutanfälle und erschwerte ihr das Leben nicht. Ganz zu schweigen davon, dass er ziemlich gut aussah. Unwillkürlich strich Islinda ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Der Junge würde sicherlich viele Frauenherzen erobern, wenn er älter wäre.
Wenn sie doch nur wüsste.
"Große Schwester, es gibt schon Essen."
"Hm?" Islinda hob fragend die Augenbrauen. "Wovon redest du?"
Ohne einen Moment zu zögern, verließ Islinda ihr kleines Zimmer, ihr Herz schlug heftig vor der befürchteten Strafe durch Madam Alice, während ein kleiner Teil von ihr hoffte, dass das, was der Junge sagte, stimmte. Islinda trat ins Wohnzimmer und blieb überrascht stehen.
"Warum bist du zu spät zum Frühstück?" Remy warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, während sie das Essen servierte. Sie hatten keinen separaten Essbereich in ihrem engen Häuschen und stellten normalerweise einen Tisch auf, wenn sie aßen.
Deshalb war es für Islinda so erschütternd zu sehen, dass Remy alles vorbereitet hatte. Nein, normalerweise kochte Remy nie und weigerte sich, im Haushalt mitzuhelfen. Was ging hier vor sich? Was hatte diesen plötzlichen Wandel bewirkt? War dies noch dieselbe Remy oder hatte ein böser Geist von ihr Besitz ergriffen?
Vielleicht war dies eine neue Foltermethode? Sie zeigten Güte, um anschließend in einem unvorbereiteten Moment zuzuschlagen. Islinda war beunruhigter als zuvor.
Als ob das nicht genug wäre, erkundigte sich Remy: "Und der Junge?"
"Der Junge?" Islinda stammelte, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Beabsichtigte sie, ihm ebenfalls etwas anzutun? "Du meinst Eli?"
"Ja, Eli. Kinder brauchen Nahrung zum Wachsen. Bring ihn an den Tisch."
Islinda schluckte den Knoten in ihrem Hals hinunter und fragte sich, was Remy mit dem Jungen vorhatte. Doch wenn sie Eli etwas antäte, würde sie von den Dorfbewohnern gesteinigt werden, und Remy war zu stolz, um so zu enden. Vielleicht hatte sie wirklich ihre Meinung geändert. Bevor Islinda ihre Aufrichtigkeit hinterfragen konnte, ergriff eine kleine Hand ihre.
Sie blickte in große unschuldige Augen. "Große Schwester, isst du nicht?"
Islinda schaute wechselnd zwischen Eli und Remy hin und her, hin- und hergerissen, wie sie dem Jungen erklären sollte, dass sie ihr nicht trauen sollten, doch dann eilte Remy zu ihr herüber und zog ihn an den Tisch.
"Du solltest dich setzen und essen, Eli", sagte Remy mit einer Ehrfurcht und einem Hauch von Angst im Gesicht, was Islinda bemerkte und die Stirn runzelte. Remy sah nicht so aus, als würde sie den Jungen vergiften, vielmehr wirkte sie eher ängstlich.
Etwas ging hier vor.
Es konnte nicht sein, dass Remy auf einmal ihr Verhalten von letzter Nacht überdacht und bereut hatte. Oder hatten vielleicht ihre Ahnen sie im Traum heimgesucht? Islinda ging alle möglichen Szenarien durch, die Remys seltsames Verhalten erklären könnten, doch keines kam auch nur annähernd an die Wahrheit heran.Sie war nicht die Einzige, die sich über ihr Verhalten aufregte. Madame Alice kam hinzu und sah mit aufgerissenen Augen auf die Szene herab. "Was ist hier los?!" polterte sie und fixierte den Jungen mit purer Verachtung. Genau wie Remy es in der vergangenen Nacht empfunden hatte, war der Junge nichts weiter als ein Bettler, den Islinda aus irgendeinem unerfindlichen Grund mitgebracht hatte.
"Man sollte nicht so früh am Morgen schreien, Mutter. Setz dich doch, das Frühstück steht bereit. Du hast mich doch gelehrt, am Tisch nicht zu sprechen."
"Remy..." Lillian, die Jüngere, sah ihre Schwester verwirrt an: "Geht es dir gut?"
Sie zuckte mit den Schultern: "Natürlich, wieso auch nicht?"
Für Islinda war es eine Erleichterung zu sehen, dass nicht nur sie von Remys Verhalten irritiert war. Sie bildete sich das Ganze nicht nur ein.
"Sollten wir uns nicht alle zum Frühstück setzen? Andernfalls könnt ihr den Tisch verlassen, wenn ihr keinen Hunger habt."
Es war keine Anweisung, doch niemand konnte das Essen ausschlagen, Islinda nicht ausgenommen. Falls dies ein neuer Versuch war, ihr zu schaden, dann musste sie genug essen, um sich gegen alle möglichen bösen Pläne zu wappnen.
Doch in dem Moment, als Islinda den Löffel zum Mund führte und das Essen kostete, erstarrte sie. Bei den Göttern, sie hätte wissen müssen, Remys Essen nicht zu vertrauen, und auch die anderen mussten das spüren, denn Madame Alice warf ihr einen finsteren Blick zu und machte sie für dieses ... Desaster verantwortlich. Sie selbst hatte doch das Frühstück zubereiten sollen, und nicht ihre nichtsnutzige Tochter.
Im Gegensatz zu ihnen war Eli jedoch damit beschäftigt, sein Essen zu verschlingen. Im Vergleich zu dem, was Islinda für ihn zubereitet hatte, war dieses Essen furchtbar, aber es lieferte ihm keinerlei Nährstoffe, es war fast so, als würde er Sand in seinen Magen schütten. Er musste den Schein wahren, ein Mensch zu sein – und merkte nicht, dass er übertreibe.
"Ich werde wohl an einer Lebensmittelvergiftung sterben, wenn ich das hier weiter esse", gab Lillian verärgert von sich und ließ ihren Löffel fallen.
Verächtlich blickte sie zu Islinda: "Das ist wohl deine Form von Rache, oder? Remy das Essen verderben zu lassen, das so schwer zu beschaffen war." Als hätte sie selbst die gefährliche Reise in den Wald auf sich genommen.
Islinda hätte gerne gekontert, aber sie schwieg. Es war ja nicht so, dass sie Remy zum Kochen gezwungen hatte. Und es war auch nicht ihre Schuld, dass ihre Schwester so eine entsetzliche Köchin war.
"Und hast du etwa den Bettler hier vergessen?" spottete Madame Alice.
In diesem Moment bemerkte Islinda schließlich, wie gierig Eli das Essen verschlang, und hielt ihn davon ab. Das könnte seinem Magen schaden. Remy bereitete tatsächlich Gift zum Verzehr zu.
"Er wird heute noch gehen, denke ich...", setzte sie an, "Der Dorfchef würde mir helfen, seine -"
"Welchen Dorfchef?" unterbrach Remy sie barsch. "Den lebenden oder den toten?"
"Was soll das bedeuten?" Nichts von dem, was sie sagte, machte Sinn.
"Vor einer Stunde kam die Nachricht, dass der Dorfchef letzte Nacht im Schlaf gestorben ist. Also frage ich noch einmal: Welchen Dorfchef meinst du?"
Blutleer wurde Islindas Gesicht, und sie sprang von ihrem Platz auf. Bevor irgendjemand begriff, was sie vorhatte, geschweige denn sie aufhalten konnte, rannte sie barfuß aus der Hütte.
Nein, das darf nicht wahr sein, dachte Islinda, als sie zum Haus des Häuptlings eilte. Es kann einfach nicht wahr sein. Wenn der Häuptling tot war, wer würde sich dann um Eli's Mutter oder Eltern kümmern? Sie hatte dem Jungen versprochen, dass er bald wieder mit seiner Familie zusammen sein würde. Doch nach dem Tod des Häuptlings würde es Wochen dauern, einen neuen zu krönen.
Was sollte sie jetzt nur tun?