Gu Jiao ging hinaus, um Feuerholz zu hacken, teils weil es tatsächlich Mangelware war, aber auch in der Hoffnung, im Wald etwas zu finden, um den Hunger zu stillen.
Ihre Familie war zwar noch nicht so verarmt, dass sie keine Mahlzeiten mehr leisten konnte, aber sie stand kurz davor. Wenn nur Xiao Liulang essen würde, könnten sie es wahrscheinlich noch ein paar Tage aushalten. Aber mit ihr wurde die Versorgung kritisch knapp.
Es war tiefer Herbst, der Himmel war klar und weit, keine einzige Wolke in Sicht.
Sie fragte sich, ob das vielleicht an der fehlenden Verschmutzung lag – Gu Jiao empfand den Himmel über ihr ungewohnt, untypisch blau. Die Luft war ebenfalls sehr frisch und erhebend.
Sie war ohne konkreten Grund hier, wusste nicht, ob die Verrückten im Forschungsinstitut sie vermissen würden. Wahrscheinlich bissen sie vor Wut in die Tischkante, weil sie plötzlich verschwunden war und ihnen die neuesten Forschungsergebnisse vorenthalten hatte.
Sie mochte zwar oberflächlich gesehen als Ärztin am Forschungsinstitut der M-Universität arbeiten, aber in Wahrheit war sie eine Spezialagentin. Sie war mit acht Jahren in die Organisation eingetreten, und alles, was sie seither erlebt hatte, war lediglich eine Tarnung ihrer wahren Identität.
Natürlich hatte sie nicht vor, für immer ein solch gefährliches Leben zu führen. Sie hatte mit der Organisation vereinbart, dass dies ihr letzter Einsatz sein würde. Sobald dieser abgeschlossen war, wollte sie aufhören, aber dann hatte das Flugzeug unerwartet einen Unfall...
Rückblickend erschien der Zeitpunkt des Flugzeugabsturzes zu zufällig.
Aber darüber jetzt zu diskutieren, brachte nichts, denn sie war tot und eine Rache unmöglich.
Niemand sollte ihren Tod betrauern.
Als sie zwei Jahre alt war, ließen sich ihre Eltern scheiden, gründeten neue Familien und bekamen weitere Kinder; sie war immer das Überzählige.
Ihr Schicksal ähnelte in gewisser Weise dem des vorherigen Wirts. Die Eltern des vorherigen Wirts starben früh, und auch in der Gu-Familie war sie überflüssig.
Als der vorherige Wirt starb, gab es niemanden, der aufrichtig um sie trauerte.
Gu Jiao spottete über sich selbst, in ihren Augen lag ein Hauch von Kälte.
Aus Angst vor Regen wagte sich Gu Jiao nicht weit in den Wald hinein. Dennoch gelang es ihr, ein paar lohnende Dinge zu finden: Pilze und Wildpilze, die auf alten Baumstümpfen wuchsen.
Die Pilze waren prall und dick und bedeckten fast den ganzen Stumpf. Gu Jiao pflückte die größeren Exemplare.
In diesem, offensichtlich von Dorfbewohnern abgeholzten Bereich wuchsen viele Pilze auf solchen Stümpfen.
Gu Jiao ging von einem Stumpf zum nächsten, pflückte, und schon bald war ihr Korb prall gefüllt.
Sie entschied sich, genug gepflückt zu haben, hackte noch etwas Brennholz, band es samt Korb fest und wollte, mit dem Korb auf dem Rücken, den Hügel hinuntersteigen.
Doch als Gu Jiao sich umdrehte, hatte sie plötzlich das Gefühl, auf etwas zu treten.
Gleich darauf hörte sie ein schwaches Stöhnen, sehr schwach und machtlos.
Sie blinzelte, hob vorsichtig ihren Fuß und stellte fest: "Das kann doch nicht wahr sein ..."
Sie atmete tief ein, blickte hinunter und sah einen weißbärtigen alten Mann im Gebüsch liegen, den sie gerade mit ihrem Fuß bewusstlos getreten hatte...
Gu Jiao: "..."
Wie konnte jemand im Graben liegen?
Und sie trat ausgerechnet auf ihn?
Gu Jiao schritt gewissenhaft und bedacht über ihn hinweg, aber nur zwei Sekunden später drehte sie sich emotionslos um.
"Nur damit das klar ist, ich rette dich nicht aus reiner Nächstenliebe", sagte sie.
Im nächsten Moment gab das Huhn, das neben dem alten Mann in einem engmaschigen Sack saß und mit den Flügeln schlug, einen Laut von sich.
Gu Jiao warf dem Sack einen flüchtigen Blick zu, und in diesem Augenblick verstummte er.
Dann schaute sie auf den weißbärtigen alten Mann vor sich. Auf seinem Gesicht war der große Fußabdruck von Gu Jiaos Tritt zu sehen, ein bedauernswerter Anblick.
Seine Kleidung wies ihn als schlichten Dorfbewohner aus.
Trotzdem lag eine unbeschreibliche Aura der Autorität in seiner Erscheinung.
Gu Jiao ließ das Brennholz von ihrem Rücken fallen und begann, seinen Puls zu fühlen.
Sie hatte westliche Medizin gelernt. Doch später hatte sie eine besondere Aufgabe: Sie schlüpfte unter dem Vorwand einer Ausbildung ins Haus eines renommierten Arztes für traditionelle chinesische Medizin und blieb fünf Jahre lang inkognito.
Nach seinem Puls zu urteilen, hatte er keine schwere Krankheit. Gu Jiao schlussfolgerte, er litt an einem plötzlichen hohen Fieber wegen einer Grippe und war versehentlich in den Graben gefallen und hatte sich dabei den Arm ausgekugelt.Gu Jiao holte ihren kleinen Erste-Hilfe-Kasten aus ihrem Rucksack, griff sich einen Eisbeutel und legte ihn auf seine Stirn. Dann kümmerte sie sich um seinen Arm, schnitt ein Stück Brennholz ab, riss ihm die Kleidung vom Leib und schiente seinen Arm. Nach alledem überprüfte Gu Jiao noch einmal seine Temperatur und stellte fest, dass sie immer noch zu hoch war. Darum gab sie ihm eine intramuskuläre Injektion, um das Fieber zu senken.
Nicht weit entfernt befand sich eine kleine Grashütte als Rastplatz für die Dorfbewohner auf dem Bergweg. Gu Jiao brachte ihn dorthin. Nachdem das Fieber nachgelassen hatte und er kurz davor war aufzuwachen, stand Gu Jiao auf, um den Berg zu verlassen. Sie hinterließ ihm ihren Regenschirm und meinte: „Ich heile Menschen nicht umsonst." Nach diesen Worten nahm sie einen Stoffbeutel mit einem Wildhuhn darin und ging.
Kaum war Gu Jiao zu Hause angekommen, fing es heftig an zu regnen. Die ferne Berge und die Schutzhütten des Dorfes verschwanden im Regennebel. Gu Jiao ging direkt zum Herd. Xiao Liulang hatte bereits das Geschirr weggeräumt, den Herd gesäubert und sogar die Wäsche weggelegt.
Gu Jiao stellte das Brennholz und den Stoffbeutel ab, öffnete den Schrank und fragte sich, ob er alles aufgegessen habe, denn sie hatte ziemlich viel übrig gelassen. Sie hatte nicht erwartet, dass dieser schmale Mann einen derartigen Appetit haben würde. War dies wirklich das Alter des Wachstums? Gu Jiao zog eine Augenbraue hoch und stellte das Wildhuhn in einen Käfig.
Sie trennte das kleine Brennholz von den großen Scheitern und suchte sich diejenigen aus, die gespalten werden mussten. Als sie mit dem Spalten des Holzes fertig war, war es bereits Abend und der Regen hatte nicht aufgehört. Der Raum war feucht und kalt. Sie suchte nach einem Heiztopf und wollte sich ein Feuer machen. Plötzlich bekam sie eine Idee und ging zu Xiao Liulangs Zimmer, klopfte leise an seine Tür und fragte sanft: „Willst du dich aufwärmen?"
Es kam keine Antwort. Sie rief erneut, doch es kam immer noch keine Antwort. Als sie sah, dass die Tür einen Spalt offen stand, stieß Gu Jiao sie vorsichtig auf. Sie sah eine schlanke Gestalt, die am abgenutzten Tisch unter der schwachen Öllampe eingeschlafen war. Er hielt immer noch ein Buch in der Hand, das er nicht zu Ende gelesen hatte. Das Buch war deutlich vergilbt, und der Einband war rissig und mit Ölpapier geflickt.
Es war schwer, auf dem Land ein Gelehrter zu sein, besonders für Xiao Liulang, der ständig von der Familie Gu und seinem früheren Meister ausgebeutet wurde. Er konnte nicht einmal auf eine Privatschule gehen und lernte alles im Selbststudium.
Gu Jiao zögerte einen Moment, ging dann leise hinüber, nahm eine Baumwolljacke aus dem Schrank und zog sie ihm an. Als Xiao Liulang aufwachte, war es bereits Mitternacht. Er hatte in den letzten Tagen nicht gut geschlafen und hätte nicht erwartet, am Tisch einzuschlafen. Als er die Augen öffnete und eine Baumwolljacke an sich fand, runzelte er die Stirn und in seinen Augen blitzte eine Spur von Vorsicht auf. Er runzelte die Stirn beim Anblick des Buches in seiner Hand und dann hörte er ein Knistern. Als er den Kopf drehte, sah er einen brennenden Heiztopf auf dem Boden.
Der kalte Raum wurde durch das Feuer sofort erwärmt. Xiao Liulangs Blick fiel auf den Heiztopf und er sah nachdenklich aus. Es gab nur einen Heiztopf im Haus. Wenn sie ihn Xiao Liulang gab, hätte Gu Jiao keinen an ihrer Seite.
Nachdem sie ihren kleinen Erste-Hilfe-Kasten beiseite gestellt hatte, kroch Gu Jiao schnell ins Bett und wickelte sich ein wie eine kleine Seidenraupe. Sie war so erschöpft von den Erlebnissen des Tages, dass sie schnell in der Kälte einschlief.
Gu Jiao hatte seit vielen Jahren nicht mehr geträumt, doch in dieser Nacht träumte sie. In ihrem Traum kam ein Arzt in die Stadt und Xiao Liulang ging zu ihm, um sein Bein behandeln zu lassen. Doch es kam zu einem medizinischen Streit in der Apotheke, bei dem ungewollt viele Menschen verletzt wurden. Xiao Liulang, der schon auf einem Bein hinkte, konnte nicht schnell genug weglaufen und verletzte sich auch das andere Bein. Diese Verletzung kostete ihn zwar nicht das Leben, führte jedoch dazu, dass er drei Tage später eine Prüfung verpasste.