Mit glasigen Augen nickte Elise ganz langsam und hörte, wie Ian mit den Fingern tippte, um seine Gedanken zu ordnen. "Warum hast du Angst vor mir?" fragte Ian in einem sanften Ton, den er seit mindestens einem Jahrzehnt im Leben eines Menschen nur noch selten anwandte. Und doch war er beängstigend.
"Die Leute an dem Ort davor haben mir gesagt, dass der Zauberer mich als Opfer benutzen würde", rutschte ihr vor Nervosität die Zunge heraus. "Herr, Ihr seid doch ein Zauberer, nicht wahr? Werdet Ihr mich als Opfer benutzen?" Die kleinen Hände auf ihrem Schoß zitterten in der Stille, die durch ihre Frage entstanden war.
Als sie keine Antwort hörte, beschleunigte sich ihr Herzschlag laut, laut genug für Ian, um das Geräusch aufzufangen. Sie spähte unter ihrem Kopf hindurch, der immer noch nach unten gebeugt war, um Ians Gesichtsausdruck zu lesen. Aber wie zu erwarten war, konnte sie mit der Maske im Weg nicht die Veränderung in seinem Gesicht lesen und befürchtete, dass ihre Worte bei ihm eine große Menge Unmut hervorgerufen hatten.
"Darüber musst du dir keine Sorgen machen. Ich bin ein Zauberer, aber ein anderer als der, der dich als Opfer benutzen will. Und nenn mich nicht Mister. Nenn mich von nun an Meister Ian." befahl Ian leise, woraufhin das Mädchen flüsternd seinen Namen rief. "Meister Ian ..."
Ihr Herz war mit Ians Bestätigung, dass er sie nicht als Opfer benutzen würde, sicherer geworden. In ihren Augen war er ein sehr freundlicher Mensch, der sie von ihrer Wunde geheilt hatte. Auch wenn seine Maskerade sehr deplatziert war, so war er doch zumindest kein böser Mensch.
Die Straße wurde langsam ruhiger, nachdem die Zeit bis Mitternacht verstrichen war, und Elise, die die Straße von Zeit zu Zeit beobachtet hatte, bemerkte die Gestalt von Familien, die sich an den Händen hielten, um mit einem warmen Lächeln ihr Zuhause zu erreichen. Als sie ihren Blick zur Seite zu dem Brotverkäufer lenkte, der seinen Laden schloss, grummelte ihr Magen laut, was Ians Blick zu ihr brachte.
"Es tut mir leid ..." Sie entschuldigte sich und dachte, dass das Geräusch ihres Magens Ian unangenehm gewesen sein musste.
"Das muss es nicht. Hunger ist normal für einen Menschen. Du hast noch nicht gegessen, Hündchen?" Ians Frage brachte die Kutsche zum Stehen, die schließlich im Gasthaus ankam. Da das Gasthaus in der Nähe des Stadtrandes lag, kamen sie erst nach einer großen Strecke an.
Elise antwortete mit einem Kopfschütteln und sah, wie Ian die Kutsche öffnete, um als Erster auszusteigen. Er sah, wie sein Adjutant Maroon ebenfalls ausstieg und befahl. "Bringen Sie mir etwas zu essen auf mein Zimmer."
Es war eher selten, dass Ian Essen bestellte, da er nie etwas außerhalb seines Hauses aß. Seit er zum ersten Mal in Ians Villa angestellt wurde, hatten er und der andere Diener ihn nie essen sehen, da er immer in seinem Zimmer aß. Er fragte sich, was für ein Essen er zubereiten sollte, damit der Fürst nicht beleidigt wäre, wenn er das Essen eines einfachen Mannes zu sich nähme.
Ian, der Maroons verwirrten Blick auffing, antwortete, während er seine Augenbrauen auf Elise richtete. "Es ist nicht für mich, sondern für das Mädchen. Bereite vor, was du brauchst, ein normales Gericht sollte genügen."
Elise trabte zur Tür der Kutsche und stieg mit Ians Hilfe aus ihr aus. "Warte." sagte Ian und hielt Elise auf, die gerade absteigen wollte. "Ich habe es vorher nicht gesehen, aber du hast keine Schuhe?"
Er sah, dass das Mädchen schwieg und nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. "Komm her."
Schließlich trug er die Sklavin auf einem seiner Arme, so dass Maroons Gesicht fast auf den Boden sank. Da er zuerst auf dem Vordersitz der Kutsche saß, hatte er nicht gesehen, wie Ian Elise in die Kutsche brachte. Aber als er Elise mit ihren schmutzigen Kleidern neben dem Lord sah, spürte er fast, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. "Mylord, das solltet Ihr nicht tun!" Maroon hob seine Hand in die Luft, um das freundliche Verhalten seines Herrn gegenüber der Sklavin zu stoppen.
"Was sollte ich nicht tun?" Ian sah Maroon an, dessen Blick auf Elises schmutziger Kleidung hängen blieb.
"Sie ist eine Sklavin, Mylord. Bitte lasst mich für Euch auf sie aufpassen." mahnte Maroon, wurde aber schnell von seinem Herrn abgewiesen.
"Sie ist meine Sklavin. Es liegt in meiner Verantwortung, für sie zu sorgen. Und sie ist die Auserwählte, Maroon. Genau wie du ist sie keine Sklavin mehr, behandle sie so, wie du mich behandelst." Bei diesen Worten verbeugte sich Maroon tief. Elise schaute den rothaarigen jungen Mann an, der fast mit dem Kopf auf dem Boden klebte, und hörte ihn reden. "Ich bitte um Verzeihung."
"Vergiss es. Bereite ein paar Schuhe für sie vor, wenn du schon dabei bist." Maroon nahm den Befehl entgegen und marschierte zum Gasthaus, um Ians Zimmer zu reservieren.
Ian folgte seinem Gehilfen und betrat mit Elise das Gasthaus. In dem Zimmer, das nun Ian und Elise gehörte, nahm der Mann seine Maske ab und enthüllte sein hübsches Gesicht. Der Mann hatte einen hohen Nasenrücken, scharfe rote Augen, röter als loderndes Feuer, die das kleine Mädchen an die Juwelen einer teuren Halskette erinnerten, und seidiges, langes, schwarzes Haar mit einem kurzen, nach hinten geflochtenen Schnitt.
Da er die ganze Zeit eine Maske trug, konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber jetzt, wo sie es sah, fragte sie sich, ob er die ganze Zeit über ein so skurriles Grinsen aufgesetzt hatte. Seine Augen hatten eine unfassbare Trägheit, wie bei jemandem, der gerne tut, was er will, frei von den Regeln der Welt, eine ungezähmte Wildheit. Die Art und Weise, wie er sich bewegte, war sehr entspannend, und doch hatte er den Anschein einer unerklärlichen, allwissenden Gelassenheit. Es war, als ob er alles wüsste und sich dennoch auf der Mittellinie hielt.
Aber was die Augen und den Mund des kleinen Mädchens im Moment zum Glucksen brachte, war nicht er, sondern der Anblick der wunderschön aussehenden Teller aus Porzellan und der silbernen Utensilien, die sie noch nie gesehen hatte. Ihr Magen knurrte in dem leeren Raum, und obwohl das Essen nur wenige Zentimeter vor ihr stand, wollte sie vor Meister Ian nicht unverschämt sein und starrte es nur an.
"Pfft-" Ian gluckste und sah, wie das Mädchen den Kopf zu ihm drehte. Er saß auf der Couch und schlug die Beine übereinander, um eine Zeitung zu lesen, die ihm seine rothaarige Assistentin reichte. "Du brauchst nicht auf meine Erlaubnis zu warten, du kannst essen." befahl Ian, bevor er seinen Blick wieder auf die Zeitung richtete, um weiter zu lesen.
Elise schluckte und biss in das Schinkensandwich, wobei ihr Blick auf dem Steak neben dem Sandwichteller haften blieb. Sie hatte das Steak schon einmal gesehen und auch das silberne Besteck, das als Messer und Gabel bezeichnet wurde. Aber sie hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, es zu benutzen und hatte Angst, einen Fehler zu machen. Nachdem sie eine Scheibe Sandwich und Obst aufgegessen hatte, nahm sie das Glas Wasser besonders vorsichtig mit beiden Händen und kippte es, damit die Flüssigkeit darin an ihren Lippen hinunterlaufen konnte.
Ian hatte soeben seine Zeitung zu Ende gelesen und bemerkte, wie das kleine Mädchen sich beim Essen Mühe gab. Er bemerkte auch, dass die Augen des Mädchens auf das Fleisch neben ihrem Teller starrten, unternahm aber nichts. Mit einem kleinen Schritt stellte er sich neben das Mädchen an den Tisch und fragte. "Reicht dir ein einziges Sandwich?", setzte er sich neben sie und stützte seinen Kopf auf seinen Arm.
Elise antwortete mit einem Nicken, wurde aber schnell von ihrem eigenen Magen verraten, der sich wieder meldete. "Du brauchst dich nicht zurückzuhalten. Iss mehr", fuhr er fort und wartete darauf, dass Elise den Rest des Sandwiches aß und hörte, wie Elise mit ihrer kleinen Stimme murmelte. "Aber, Miste-... Meister Ian, wollt Ihr nicht essen?"
Ich brauche keine Nahrung wie die Menschen, verstehst du? Ich bin anders", antwortete er und nahm die Gabel in die rechte und das Messer in die linke Hand. "Weißt du nicht, wie man Besteck benutzt?"
"Nein..." Elise antwortete vorsichtig, sie fürchtete, dass Ian ihr Unvermögen, tägliche Dinge zu erledigen, wie es Kinder in ihrem Alter sonst tun, übelnehmen könnte. Da ihre Tanten und Onkel sie stets nur zur Feld- und Hausarbeit eingesetzt hatten, wusste sie nur, wie man putzt oder pflanzt. Sie hatte zwar andere Kinder mit Besteck essen sehen, konnte aber selbst nur mit Gabel und Löffel umgehen. Und meistens aß sie ihr Brot mit den Händen.
"Dann sollte ich wohl einen Lehrer für dich engagieren", erwiderte Ian gelassen und schnitt das Fleisch in mundgerechte Stücke für das Mädchen. Nachdem er ihr den Teller gereicht hatte, beobachtete er sie dabei, wie sie ihr Essen mit regerem Gesichtsausdruck als zuvor in kleinen Bissen aß.
Nachdem Elise fertig war, strich sie leicht über ihren Magen, der sich zum ersten Mal komplett gefüllt anfühlte. Nachdem Ian sie gefüttert hatte, verbesserte sich ihr Bild von ihm, ihrem neuen Herrn, beträchtlich. Er hatte sie geheilt, ihr Essen gegeben und sie nicht geschlagen. Er hatte sie auch nicht angeschrien, weil sie zu viel gegessen hatte, und ließ sie alles vom Tisch essen.
"Du bist fertig, dann lass uns schlafen gehen", sagte Ian mit einem Gähnen und ging zu seinem Bett. Auch Elise trottete zur nähesten Ecke und ließ sich mit umschlungenen Knien nieder, um zu schlafen. "Was machst du dort?", fragte er und schaute sie verwundert an. Er hatte doch 'schlafen' gesagt, oder?
"Schlafen...?", antwortete sie unsicher und Ians tiefer Seufzer ließ sie erneut nervös werden. Hatte sie etwas falsch gemacht? Beschämt senkte sie den Kopf. Er hatte ihr gerade ein köstliches Mahl gegeben und es tat ihr leid, einen Fehler gemacht zu haben, der ihn zu verärgern schien. Doch sie konnte nicht erkennen, was genau sie falsch gemacht hatte, und entschuldigte sich nur leise: "Es tut mir leid."
"Komm her. Wir können dich doch nicht auf dem kalten Boden schlafen und krank werden lassen, oder?" Ian klopfte auf die leere Seite seines Bettes. Zögerlich kam das Mädchen näher, woraufhin er noch einmal sagte: "Du musst keine Angst haben, ich tu dir nichts und ich beiße auch nicht."
Elise rollte sich auf seiner Seite mit einer warmen Decke zusammen, die sie dann gar nicht so warm fand, wie sie angenommen hatte. Nun neben ihm liegend, löschte Ian die Kerze neben sich und das kleine Mädchen schloss die Augen, um zu schlafen.