Das erste Tageslicht fiel durch die Fenster und leuchtete sanft das Gesicht eines schlummernden Mädchens, das auf dem Bett lag. Plötzlich riss sie der Klang eines Weckers aus dem Schlaf, und sie fühlte sich gedrängt aufzustehen.
Mit beinahe mechanischer Genauigkeit erhob sie sich, dehnte ihre Glieder und schritt ins Bad, um ihre morgendliche Routine zu beginnen. Jede Handlung verrichtete sie emotionslos, es war ein sorgfältig einstudierter Tanz der Gewohnheit.
Nachdem sie sich fertiggemacht hatte, ging sie in den Speisesaal, wo ihre Familie bereits auf sie wartete. Ein stilles Frühstück folgte, lediglich ein Vorspiel für die unablässigen Anforderungen des anstehenden Tages.
Nach Ariels Tod entwickelte sich Embers Leben zu einer Symphonie aus Disziplin und Durchhaltevermögen. Sie verbrachte nahezu jeden Tag mit Training.
Das Programm, dem sie sich unterzog, war ein unbarmherziger Parcours: Laufe durch unversöhnliche Landschaften, Krafttraining, das ihre Grenzen austestete und Kampfübungen, die ihre Fähigkeiten zu tödlicher Präzision schärften.
Die zermürbende Routine prägte ihr Inneres, sie zeugte von ihrer unbeugsamen Entschlossenheit. Bei jeder quälenden Wiederholung hallte ein Mantra in ihrem Kopf wider, das sie vorantrieb: „Ich muss stärker werden."
Selbst inmitten von Schweiß und Anstrengung schweiften Embers Gedanken manchmal ab zu einer Erinnerung, dem flüchtigen Echo eines Versprechens eines kleinen Jungen: „Du bist nie allein." Die Erinnerung erzeugte ein wehmütiges Lächeln auf ihren Lippen, auch inmitten der Entbehrungen.
Als die Nacht hereinbrach, kehrte Ember von ihrem anstrengenden Training zurück, um erneut mit ihrer Familie zu speisen. Als sie den Speisesaal betrat, überflog ihr Blick die vertrauten Gesichter, die bereits saßen und bemerkte, dass Avalon fehlte. Ein beiläufiges „Hey" erwiderte sie auf Atticus' Begrüßung.
„Wie war dein Tag, Liebes?", fragte Anastasia, eine Spur von Besorgnis in ihrer Stimme.
Ember antwortete mit einem unveränderten „Es war gut", wobei sie ihre Fassung behielt, doch Anstasias besorgter Blick blieb.
Freya meldete sich zu Wort: „Machst du dich bereit für das Camp, Liebes? Wenn du noch nicht fertig bist ..."
„Ich bin bereit", unterbrach Ember sie.
Freya und Anastasia tauschten besorgte Blicke aus, beide bewusst über Embers ruhige Haltung und ihre zunehmend zurückgezogene Natur, die Anlass zur Sorge gaben.
Seit Ariels Tod hatte sich ihr sonst so zurückhaltendes Wesen noch verstärkt, was dazu führte, dass sie sich zunehmend in ihre eigene Welt zurückzog und sich von ihrer Umgebung isolierte.
Nach dem Essen zog sich Ember erneut zurück, zielstrebig zu den Trainingsgeländen, die sowohl ihr Zufluchtsort als auch ihre Feuerprobe waren.
Mit dem Ende des Tages setzte Ember ihr unermüdliches Streben nach Stärke fort, ein steter Rhythmus in der Symphonie ihrer Existenz.
***
Am nächsten Tag durchquerte eine Reihe glänzender Schwebefahrzeuge die Landschaft, ihre schnittigen Formen zerschnitten die Luft. Von näherem Hinsehen erkannte man, dass sie sich außerhalb des Sektors 3 bewegten, nahe einer lebensfeindlichen Grenze in einem Ödland.
In einem dieser Fahrzeuge sagte ein Mann auf dem Beifahrersitz mit schwarzen Haaren und einem vom Leben gezeichneten Gesicht: „Ich verstehe immer noch nicht, warum wir flüchten. Diese Weißhaarigen machen uns keine Angst."
Er betrachtete die Umgebung, sein Blick glitt über die außerhalb des Fensters liegende Landschaft, in Gedanken versunken.
Eine Stimme aus dem Fahrersitz durchbrach die Stille: „Darum geht es nicht. Meister Alvis hat entschieden, dass wir uns eine Weile zurückhalten sollten. Wir würden viele Ressourcen verlieren, wenn wir gegen diese Wahnsinnigen kämpfen", erklärte er."Wir wären gar nicht in dieser Misere, hätte Ronad diesen weißhaarigen Kerl nicht getötet", gab er zurück.
"Ich würde dir raten, auf deine Worte zu achten", warnte der Fahrer mit fester, bestimmender Stimme.
Er konterte sofort, seine Stimme von Stolz durchdrungen. "Ich habe keine Angst vor..."
Wie aus dem Nichts bildete sich vor dem führenden Schwebefahrzeug eine gewaltige Eiswand, zehn Meter breit und zwei Meter dick. Der drängende Schrei des Fahrers durchschnitt die Stille und lenkte sein Fahrzeug gerade rechtzeitig auf einen Ausweichkurs.
Die anderen Schwebefahrzeuge folgten ihm und umflogen die Eismauer mit präzisen, bruchstückhaften Manövern.
Eine Aura der Erleichterung lag in der Luft, aber die Ruhe währte nur kurz. Plötzlich bildeten sich Eisspitzen über ihnen und bohrten sich durch die Triebwerke der Schwebefahrzeuge. Nur Sekundenbruchteile vor der Explosion retteten schnelle Reaktionen die stärkeren Insassen, während die Schwächeren ein anderes Schicksal ereilte - ihre Fahrzeuge wurden zu ihren eisigen Särgen.
Die Überlebenden, mit pochenden Herzen, stiegen aus ihren Fahrzeugen und fanden sich inmitten einer Szenerie der Verwüstung wieder.
Die Stimme einer Frau zerschnitt die Spannung, jedes Wort schwer wie Eis. "Sagt mir nicht, ihr habt es gewagt, die Ravensteins herauszufordern und seid dann geflüchtet, als es ernst wurde." Die Stimme schien aus den Schatten zu kommen, ein gespenstisches Flüstern, das den Männern einen Schauer über den Rücken jagte.
Als sie nach oben blickten, trafen ihre Augen auf eine Gestalt, die die Flammen der Angst in ihren Herzen entzündete. "Die Eishexe!" Ein Manns Stimme bebte vor Schreck, ein Name, der ihr kollektives Entsetzen einfing.
Lyannas Abstieg war ein Akt der Eleganz, ihre Landung ein Kontrast zum vorausgegangenen Chaos. Mit unnachgiebigem Blick fokussierte sie sich auf die zitternden Männer, ihre Worte stellten ein Rätsel dar, das ihr Schicksal in sich trug.
"Der schwere Weg oder der leichte Weg? Bitte wählt den schweren Weg. Es ist schon lange her, dass ich jemanden gefoltert habe." Ihre Stimme, durchzogen von einer beunruhigenden Ruhe, hallte wie der Ruf einer Sirene wider.
Ein kollektiver Schrei hallte auf, als die instinktive Furcht der Männer die Vernunft besiegte. "Laufen!" Ihre Stimmen verschmolzen zu einer Kakophonie der Panik, und sie flohen unter Einsatz ihrer stärksten Bewegungstechniken.
Lyannas Lippen kräuselten sich zu einem frostigen Grinsen, ihre Stimme ein unheimliches Flüstern, als sie ein einziges Wort sprach, das ein unbestreitbares Gewicht trug.
"Domäne."
Ein geflüstertes Beschwörungswort, und eine Welle von Energie färbte den Himmel in eisigen Schattierungen. Ein frostiger Kokon, gewaltig und alles umschließend, entstand und umschloss die Männer darin.
Im Wimpernschlag verwandelte sich die Welt in einen gefrorenen Abgrund, eine Ödnis, die jeder Vorstellung von Wärme und Leben trotzte. Die Gefangenen spürten den bitteren Biss der Kälte, ein grausamer Hinweis darauf, dass die Beherrschung von Feuer oder Eis keine Immunität gegen Lyannas Macht bot. Die Landschaft, eben und formlos, erstreckte sich endlos, ein Bild der Zerstörung, das die Tiefe ihrer Lage spiegelte.
Lyannas Gesicht blieb unbewegt, ihre Lippen zu einem eiskalten Lächeln gekrümmt. Eine Folge von Angriffen, jeder ein Ausdruck der Verzweiflung der Männer, schoss auf sie zu. Doch ihre Haltung blieb unverändert, eine gespenstische Ruhe umgab sie.
Mit einer beiläufigen Geste rief sie einen Eisschild hervor, der den Ansturm mühelos abwehrte. Die Angriffe verpufften zu einem bloßen Flackern gegen ihre gewaltige Verteidigung.
Scharfe, unnachgiebige Eisspitzen brachen aus dem Boden hervor und umschlungen ihnen die Beine in einem eisernen Griff. Einer nach dem anderen fiel, ihr Kampf war vergebens gegen den unerbittlichen Halt des Eises.
Lyanna hob das Kinn des letzten Überlebenden und er begegnete ihrem Blick. Ihre Berührung war wie ein kalter Kuss, ihre Worte ein geflüstertes Gebot, das ihm Schauder durch den Körper jagte. "Widerstehe, wenn du kannst."
Dutzende Meister ihres Standes, jeder ein Symbol für Können und Respekt, wo auch immer sie auftraten, fanden ihr vorzeitiges Ende, ohne die Chance auf Vergeltung zu haben.
Das war die Macht von Lyanna Ravenstein, der Anführerin des Silent Nexus!