Aus den riesigen Türen schallte beschwingte, doch melodische Barockmusik. Offensichtlich gab es drinnen einen Ball, der bereits in vollem Gange war. Hatte der Vampirkaiser zu ihrer Ehren eine Feier veranstaltet? Evie schüttelte schnell den Kopf und tadelte sich selbst bei dem Gedanken. Unmöglich – sie war schließlich ihr Feind, und das wusste wohl jeder in diesem Reich. Selbst wenn die Feier ihretwegen gegeben wurde, fiel ihr nur ein Grund ein: Der Kaiser wollte vermutlich, dass sie sich willkommen fühlte und dann ihre Wachsamkeit sinken ließe.
"Ängstlich?", riss jene herrliche Stimme sie aus ihren Grübeleien. Als Evie aufblickte, wich sie überrascht zurück – er hatte sich so weit herübergebeugt, dass ihre Gesichter beinahe kollidierten. Geschickt fing er sie bei der Taille.
Nachdem Evie wieder festen Stand gewonnen hatte, machte sie einen Schritt zurück. "Bitte erschrecke mich nicht mehr so." Sie murmelte es, doch Gavriel neigte lediglich den Kopf, als hätte er nichts gehört.
"Meine Liebe, wir können umkehren, wenn du noch nicht bereit bist", sagte er sanft, und Evies Augen weiteten sich ungläubig. Was? Bot er ihr das jetzt wirklich an, nachdem sie bereits hier waren?
Sprachlos vor Überraschung schwankte sie. Warum sagte sie nicht sofortig ja, um zurückzukehren? Sie war doch so nervös, und überzeugt, niemals bereit dazu zu sein – woher also die Zögerlichkeit?
Nach einer langen, stillen Minute des Zögerns ließ sie ihren Blick zum offenen Tor schweifen. Ihre Hände ballten sich unter dem Umhang zu Fäusten, und schließlich deutete sie unsicher dorthin. "Wir sind aber doch schon hier", sagte sie, ohne Gavriel dabei anzusehen. Sie bemerkte nicht sein amüsiertes Lächeln.
"Richtig, der Kaiser wird bestimmt schon ungeduldig", stimmte er zu und trat vor sie. "Lass mich dir helfen, deinen Mantel abzulegen, meine Dame."
Evie schaute nach unten und nickte, fest entschlossen, nicht gegen ihre eigene Regel zu verstoßen. Sie war neugierig, warum gerade der Prinz sich um sie kümmerte – schließlich hatten sie den Butler mitgebracht. Warum überließ er diesem nicht die Aufgabe?
Sie kämpfte gegen die Versuchung an, zu ihm aufzusehen und zu ihrer Erleichterung schaffte sie es, standhaft zu bleiben, bis er ihr schließlich den Umhang abnahm. War es ihre Einbildung, oder schien es, als würde er die einfache Geste unnötig in die Länge ziehen? Es musste Einbildung sein, oder? Der Gedanke an eine Alternative erschreckte sie zu sehr.
Nachdem er ihren Mantel Elias überreicht hatte, reichte Gavriel Evie seine Hand. Sein Blick verließ dabei nicht ihr Gesicht. Das feurige Kleid, das sie trug, kontrastierte herrlich mit ihrem langen silbernen Haar. Er fand, sie ähnelte einer exotischen roten Rose im Mondlicht.
Als sie schließlich eintraten und die riesige Tür passierten, konnte Evie nicht anders, als den verschwenderischen Luxus im Inneren des kaiserlichen Palastes zu bestaunen. Sie hatte noch nie einen solchen Ort gesehen. Sie hätte gedacht, alle Paläste seien nahezu identisch, doch dieser übertraf bei Weitem jeden, den sie jemals gesehen hatte. Wie reich mussten diese Vampire sein?
Kurz bevor sie einen weiteren imposanten Eingang erreichten, der scheinbar in einen riesigen Ballsaal führte, hielt Gavriel inne. Evie blickte ihn fragend an.
"Wenn dich irgendetwas beunruhigt oder du dich unbehaglich fühlst, zögere nicht, es mir zu sagen", flüsterte er, und Evie blinzelte verwundert.
Sie nickte nur, biss sich dabei auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Als sie voranschritten, wurde die Musik in ihren Ohren lauter, das Licht der gewaltigen Kronleuchter eine Augenweide. Der Ballsaal strahlte in genau der Pracht und Eleganz, wie sie sie sich vorgestellt hatte – er war ein Ort wie aus einem Traum. Die Damen schritten in ihren schönen Roben und mit glitzernden Juwelen behangen anmutig dahin, während die Herren ihre Partnerinnen gallant über das Parkett führten. Alles und jeder bot einen atemberaubenden Anblick.
Das Fest war lebendig, die Atmosphäre alles andere als bedrückend. Sie sah, wie sich die Vampire vergnügten – sie lächelten, unterhielten sich und tanzten. Ein Gedanke kam Evie in den Sinn. Das Verhalten dieser Vampire glich dem der Menschen. Überraschend fragte sie sich, ob sie jemals darüber nachgedacht hatte, wie das Leben der Vampire abseits des Tötens von Menschen und des Bluttrinkens aussehen mochte? Nie. Bis jetzt. Und als sie nun darüber nachdachte und es mit eigenen Augen sah, hätte sie nie für möglich gehalten, dass auch sie lächeln und lachen konnten, genau wie sie.
Plötzlich berührte sie ein seltsames Gefühl, und sie spürte, wie Gavriel sie sanft zog. „Komm", sagte er und Evie nickte. Sie atmete tief durch und umklammerte unbewusst seinen starken Arm fester.
Die Blicke der Vampire richteten sich auf sie, und mit jedem Schritt tiefer in den Saal hinein schienen mehr Augen auf sie zu fallen. Die Musik blieb beschwingt und die Tanzpaare hielten nicht inne, also warum fühlte sich die Atmosphäre plötzlich so schwer an? Evies Miene veränderte sich allmählich. In diesem Moment konnte sie nur an eines denken: dass sie der Grund für die Stimmungsänderung sein musste. Sie war die einzige Fremde, die nicht dazugehörte. Ihre Gegenwart wurde von den Vampiren nicht begrüßt. Doch sie wussten, dass sie kommen würde, oder etwa nicht? Der Vampirkaiser selbst hatte sie eingeladen.
Ein Ausruf, der die Anwesenheit des zweiten Prinzen und seiner Gemahlin bestätigte, erreichte Evies Ohren, und sie drückte Gavriels Hand fester.
Der langsame Marsch zum Thron des Kaisers war einer der nervenaufreibendsten, die Evie je erlebt hatte – vielleicht sogar intensiver als ihr eigener Hochzeitszug. Sie fragte sich, ob Gavriel das laute Klopfen ihres Herzens hören konnte. Es schien fast so, denn er beugte sich vor, um ihr etwas zuzuflüstern.
„Entspanne dich, meine Frau. Ich bin bei dir." Seine Worte beruhigten ihr pochendes Herz erstaunlich leicht.
Als sie endlich vor dem Kaiser standen, war Evie überrascht. Sie hatte einen furchteinflößenden Vampirkaiser erwartet, dessen bloße Anwesenheit sie erschauern lassen würde. Doch sie empfand nichts dergleichen. Gewiss, der Kaiser war ein stattlicher Mann, jedoch keineswegs beängstigend.
„Es freut mich, dass Ihr heute Abend gekommen seid, Lady Evielyn." Seine Stimme klang wie das tiefe, fließende Wasser eines Flussbettes – ungeahnt milde für seine imposante Erscheinung.
Leicht verwirrt verbeugte sich Evie und grüßte ihn. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Eure Majestät." Sie schaffte es, flüssig zu sprechen, ohne zu stottern. Nach dem Austausch einiger Höflichkeiten führte Gavriel sie zu ihren Plätzen.
Obwohl erleichtert, als sie sich setzte, spürte Evie stets eine gewisse Anspannung in der Luft. Sie endlich um und bemerkte Gavriels Männer, die alle bewaffnet und in Alarmbereitschaft waren – nicht gerade typisch für einen Ballsaal.
Ihr Blick wandte sich Gavriel zu und sie realisierte, dass er kein Wort mit dem Kaiser gewechselt hatte. Konnte sie sich nicht erinnern, dass der Kaiser ihrem Mann auch nur einen Blick zugeworfen hatte, seit sie näher gekommen waren? Hatte Gavriel seinen königlichen Vater überhaupt begrüßt? Nein!
Diese Erkenntnis schockierte Evie. Noch einmal sah sie sich um und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass vielleicht nicht ihre Anwesenheit, sondern die ihres Mannes, des Vampirprinzen Gavriel, den Wandel der Atmosphäre herbeigeführt hatte. Doch warum?