"Meine Dame, es ist Zeit aufzustehen." Die nörgelnde Stimme meiner Kinderfrau riss mich aus dem Schlaf.
"Kann ich nicht noch ein bisschen schlafen?" fragte ich sie genervt.
Martha näherte sich meinem Bett. "Prinzessinnen müssen königliche Regeln und Etikette befolgen..."
Ich zog die Decke über meinen Kopf, bedeckte mein Gesicht komplett, um den Beginn dieses gefürchteten Tages hinauszuzögern, und sagte: „Etikette ist für diejenigen, die zum Wohl des Königreiches heiraten und König und Königin stolz machen. Ich werde niemals jemanden heiraten."
Trotz meiner Worte versuchte Martha, an der Decke zu ziehen. "Trotzdem muss meine Dame bereit sein. Es ist ein wichtiger Tag im Palast."
"Nicht für mich", widersetzte ich mich.
Plötzlich ließ sie von der Decke ab, und ich blickte vorwitzig hervor, nur um etwas zu sehen, das mir nicht gefiel.
Martha hatte sich zurückgezogen, ihre Finger tanzten im Raum, und ihre Augen waren darauf gerichtet. Weißer Nebel bildete sich um ihre Finger.
"Was machst du da?" fragte ich, obwohl ich eine Ahnung hatte, worauf sie hinaus wollte.
"Mein letzter Ausweg, um meine Dame aus dem Bett zu bekommen", erwiderte Martha.
Ich erinnerte mich deutlich daran, was sie das letzte Mal gemacht hatte. Ich wurde aus dem Bett geworfen, und es war demütigend.
"Warte, warte!" Ich sprang aus dem Bett. Stirnrunzelnd konnte ich nicht anders, als mich zu beschweren. "Ich kann nicht glauben, dass ich die Prinzessin bin und du die Dienerin."
Martha verschränkte die Arme, und der Nebel um ihre Finger verschwand. "Meine Dame, Ihr Bad ist bereitet."
Als ich ins Badezimmer trat, half Martha mir wie üblich.
Ich legte mein Schlafgewand ab und hatte nichts an außer dem permanenten Schleier, der den unteren Teil meines Gesichts bedeckte. Trotz meines Widerwillens ließ ich mich vorsichtig in die Holzwanne mit dem heißen, dampfenden Wasser gleiten.
Kein gewöhnlicher Mensch konnte meinen Schleier entfernen. Martha sagte mir, meine Mutter hätte einen Zauber auf den Schleier gelegt und ihn mir angelegt.
"Vielleicht lieben Hexen ihre Kinder auch?" murmelte ich.
Martha lächelte herzlich. "Alle Mütter lieben gleich."
"Sie hätte mich nicht verlassen, wenn sie mich geliebt hätte."
"Jeder hat seine Gründe." Martha zeigte, wie immer, keine Mitgefühle für mich und nahm die Seite der Person ein, die nie jemand gesehen hat.
"Lass mich in Ruhe."
Nachdem ich das sagte, machte ich es mir in der Badewanne gemütlich, lehnte mich an die Holzwand an und streckte die Beine aus.
Martha ging, wie befohlen, und ließ mir endlich Zeit zum Einweichen. Ich schloss meine Augen und genoss die Wärme auf meiner Haut.
Nach einigen Augenblicken der Entspannung spürte ich, wie mich etwas ins Wasser zog. Ich keuchte, als mich eine strange Kraft weg zu ziehen schien.
Erschrocken öffnete ich meine Augen und stellte fest, dass ich nicht mehr in meiner Holzwanne, sondern tief unter Wasser war und eine große Gestalt hatte meine rechte Hand fest umfasst.
Ich blickte panisch um mich.
Das sanfte Sonnenlicht, das die Wasseroberfläche berührte, reichte nicht aus, um das Gesicht der großen Gestalt klar zu erkennen.
„Ein Mann?", schloss ich, nachdem ich wieder zu mir kam.
Meine freie Hand bewegte sich, um den Schleier auf meinem Gesicht zu sichern – aus Angst, der geheimnisvolle Fremde könnte ihn entfernen. Der Schleier an sich bedeutete mir wenig, aber instinktiv befolgte ich die Lehre, seit meiner Kindheit – den Schleier nicht abzunehmen und nicht von anderen abnehmen zu lassen.
Bevor ich jedoch den Schleier berühren konnte, ergriff der Fremde auch meine andere Hand. Er war so nah, doch ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Das einzige, was ich in der Dunkelheit ausmachen konnte, war die glitzernde Tätowierung auf einer Seite seines Halses.
Als ich diese Tätowierung sah, schrie ich innerlich auf und meine Augen weiteten sich vor freudiger Überraschung.
"Er ist es!"
Ich fühlte keine Angst. Stattdessen freute ich mich auf das Wiedersehen mit ihm.
Die Neugierde, sein Gesicht zu sehen, überwältigte meine Vernunft.
Ich ließ meinen Blick von seinem tätowierten Hals zu seinem Gesicht wandern. In der Dunkelheit leuchteten zwei rote Augen.
"Rote Augen?"
Ich spürte, wie diese grimmigen roten Augen in die meinen starrten.
Das war meine Chance, sein Gesicht deutlich zu sehen, zumal er weiter meine Hände festhielt.
Leider rief eine ferne, aber vertraute Frauenstimme: „Meine Dame."
Die Stimme riß mich aus seiner Umklammerung. Als ich die Augen wieder öffnete, befand ich mich wieder in meinem Turm, in meiner Badewanne, als wäre ich nie fort gewesen.
"War das ein Traum?", fragte ich mich und blickte auf meine Handgelenke.
Sie waren leicht gerötet, und ich konnte die Berührung des Fremden noch auf meiner Haut spüren. Die Art und Weise, wie er sie festhielt, schmerzte fast."Wenn es kein Traum ist, was ist es dann?" dachte ich.
Martha war hereingekommen, um duftende Kräuter ins Wasser zu geben, und innerlich verfluchte ich sie für ihr schlechtes Timing. Wegen ihr konnte ich den Mann nicht mehr sehen.
"Aber warum hat er mich so angestarrt? Wer ist er? Kennt er mich?" Mein Kopf war voll von Fragen.
Nach einer Weile stieg ich aus dem Bad und Martha half mir, ein Seidenkleid anzuziehen.
Ich setzte mich vor den Spiegel und ließ Martha mein Aussehen fertigstellen. Im großen ovalen Spiegel konnten wir uns beide sehen. Sie begann, mein Haar zu trocknen, während ich auf mein mit einem Schleier bedecktes Gesicht starrte. Ich wollte ihn abnehmen, konnte es jedoch nicht.
"Bin ich so hässlich, dass ich ständig mein Gesicht verhüllen muss?"
Martha ließ mein Haar los und tat etwas mit ihren Fingern. Der Schleier fiel von meinem Gesicht auf meinen Schoß.
Sie blickte mich durch den Spiegel an. "Das kann meine Dame selbst entscheiden."
Ich betrachtete mein Gesicht, unsicher, was ich denken sollte. "Wie kann ich entscheiden, wenn ich nicht weiß, was schönheit ist?"
"Vergleichen Sie sich mit den anderen Prinzessinnen," schlug Martha vor und meinte damit meine Halbschwestern, die Töchter meines Vaters.
"Es ist besser, hässlich zu sein, als mit ihnen verglichen zu werden," erwiderte ich.
Martha lächelte sanft. "Eine Frau mit solch schönen und seltenen violetten Augen kann doch nur hübsch sein."
"Warum muss ich dann mein Gesicht immer verbergen?" fragte ich und hob den Schleier von meinem Schoß.
"Zu Ihrem Schutz, meine Dame."
"Ich verstehe, aber vor wem?"
Martha antwortete nicht und es wurde eine Weile still.
Als Martha mein Haar getrocknet hatte, begann sie, mein Gesicht zu schminken.
"Benötige ich das überhaupt? Wozu, wenn mein Gesicht niemand sehen kann?" murmelte ich.
"Die Hälfte des Gesichts ist sichtbar," erwiderte Martha.
Ich zog eine Grimasse. "Dann schminke nur die Hälfte."
Martha holte das neu angekommene Kleid hervor, welches der König für den heutigen Anlass vorbereitet hatte und mit vielen passenden Schmuckstücken geschickt hatte.
Obwohl ich eine verstoßene Tochter war, sorgte mein Vater, der König von Abetha, dafür, dass ich alles bekam.
Seit meiner Kindheit frage ich mich, ob er sich wirklich sorgt oder ob er nur sein Ansehen wahren möchte, indem er zeigt, dass er für seine Tochter, die als Hexe gilt, gut sorgt. Vielleicht wäre es ihm peinlich, wenn man mich im ganzen Königreich in ärmlichen Kleidern sähe.
Martha zog mir das eisblaue Seidenkleid an. Das mehrlagige Kleid reichte bis auf den Boden und war am Saum fein bestickt mit silbernen und dunkelblauen Fäden. Es passte perfekt an meinen Körper, sowohl am runden Halsausschnitt als auch an der Taillenschleife.
Zuletzt zog ich das langärmelige, bodenlange Überkleid aus einem zarten, durchsichtigen Stoff an, das vorne offen war, um das darunterliegende Kleid sichtbar zu machen.
Nachdem Martha sich vergewissert hatte, dass ich fertig war, legte sie erneut den Zauber an und band mir den Schleier ins Gesicht. Der weiße Schleier wechselte seine Farbe, um zu meinem eisblauen Kleid zu passen.
Obwohl ich Martha schon oft dabei zugesehen hatte, wie sie diesen Zauber gewirkt hatte, konnte ich ihn selbst nicht ausführen. Ich fragte mich, ob ich diese Art von Magie bei mir selbst anwenden könnte, um mein Leben völlig zu verändern.
Ich beobachtete mein Spiegelbild – das rotbraune Haar, das Martha gekämmt und mit einem Schmuckteil hübsch frisiert hatte, meine Stirn mit einem winzigen, feuerähnlichen Muttermal in der Mitte, ein Paar seltener violetter Augen, während der Rest des Gesichts hinter einem Schleier verborgen war, und das teure Gewand...
Ich betrachtete den Schleier erneut. Da ich ihn ständig trug, erinnerte ich mich an mein Gesicht nur noch mit Schleier und vergaß immer wieder, wie es ohne aussah.
Ich drehte mich zu Martha um, die vor mir stand, als wartete sie darauf, noch etwas zu tun. Ich wusste, was es war, und hielt still.
Martha schloss ihre Augen, murmelte etwas und schnippte mit den Fingern.
Ich drehte mich zum Spiegel um und sah, wie sich kleine dunkelblaue Schuppen mit einem goldenen Schimmer zu zeigen begannen. Zuerst erschienen sie in der rechten Ecke meiner Stirn, dann an der Seite meines Halses und schließlich auf der Rückseite meiner rechten Handfläche.
"Nun sehe ich aus wie die Tochter einer Hexe," murmelte ich.
Meine Augen waren emotionslos, denn ich wusste nicht, was ich über diese Verwandlung fühlen sollte.
Martha wies mich an, "Es ist Zeit zu gehen."
Ich seufzte. "Wozu brauche ich diese?"
"Zu Ihrem Schutz, meine Dame."
Ich starrte sie an. "Immer dieselbe Antwort."
Leider konnte ich Martha nie dazu bewegen, mir mehr zu antworten. Ich wünschte, ich hätte irgendetwas, um sie zu bedrohen und all diese Antworten zu bekommen, aber im Augenblick gab es nichts, was man tun könnte.
"Wir sollten aufbrechen."
Martha führte mich nach draußen.