Als Lina ins Auto stieg, grübelte sie über ihr Gespräch mit Kaden nach. Wie schon so oft zuvor hatte Kaden sie mit mehr Fragen als Antworten zurückgelassen. Er war ein mysteriöser und geheimnisvoller Mann, der nur die allerkleinsten Details von sich preisgab, die genug waren, um Begierde auf mehr zu wecken.
Lina seufzte.
"So viel dazu, Abstand von ihm zu halten...", murmelte sie vor sich hin.
Jedes Mal, wenn Lina versuchte, sich von ihm fernzuhalten, tauchte er wie durch Magie wieder auf. War diese riesige Stadt etwa so klein?
Ritan wurde früher als globales Hafenstadtzentrum bekannt, in dem alle Exporte und Importe ankamen, bevor sie an andere Orte im Land weitergeleitet wurden.
Heutzutage ist Ritan der Sitz großer Fortune-500-Unternehmen und damit eine der technologisch fortschrittlichsten und reichsten Städte der Welt.
"Ritan war schon immer wohlhabend", sinnierte Lina, während sie sich daran erinnerte, wie schön die Stadt in der Vergangenheit aussah – Adelige saßen auf dem Thron und Pferde zogen Kutschen.
Der Aufschwung Ritans begann mit dem zweiten König, der das Territorium des Königreichs verdoppelte, den Reichtum verdreifachte und die Bevölkerung vervierfachte, was es zur fortschrittlichsten Nation in der Region machte.
Und das alles dank eines einzigen Kommandanten.
"Was haben Sie gesagt, junge Frau?" fragte der Fahrer, da er glaubte, sie hätte etwas gesagt.
"Ach, nichts", antwortete Lina.
Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und blickte aus dem Fenster. Bald darauf kam das Auto zum Stillstand. Lina erinnerte sich daran, wie ihr Vater alle Fahrer testete, indem er ihnen eine übervolle Kaffeetasse in die Hand drückte. Wenn auch nur ein Tropfen verschüttet wurde, war der Fahrer nicht qualifiziert.
"Wir sind da, junge Frau", sagte der Fahrer höflich.
"Danke", entgegnete Lina herzlich.
Obschon sie in einer gnadenlosen Oberschicht aufwuchs, in der Angestellte ebenso austauschbar waren wie ein Kleidungsstück, bemühte sie sich stets, andere Menschen gut zu behandeln.
Es war eine Frage des Anstands – und nicht viele handelten so. Aus was für einem Grund? Wegen des Stolzes?
Ihr Großvater hatte ihr einmal gesagt, Stolz sei der Untergang eines Menschen.
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"Junge Frau, Sie sind zurückgekehrt", begrüßte der Butler sie sofort.
"Ja, ist Großvater noch zuhause?" erkundigte sich Lina, bereit, die schwarze Karte zurückzugeben, die sie nicht benutzt hatte.
Die Sonne neigte sich dem Untergang zu und die Abenddämmerung setzte ein. Lina hatte völlig vergessen, Lebensmittel zu kaufen, und wollte auch erfragen, warum ihre Kreditkarten gesperrt worden waren. Sie ahnte, dass es daran liegen musste, dass ihr Großvater wollte, dass sie die schwarze Karte verwendete…
"Leider nicht, junge Frau. Der Herr verließ das Haus kurz nach Ihnen", erklärte der Butler.
"Und wo ist er jetzt?" fragte Lina und nahm das ihr von einem Dienstmädchen gereichte heiße Handtuch entgegen. Sie dankte und das Dienstmädchen senkte rasch den Kopf.
"Wahrscheinlich in der Hauptvilla", erwiderte Evelyn stellvertretend für den Butler und musterte sorgfältig das Outfit ihrer Tochter.
Sofort runzelte Evelyn die Stirn angesichts Linas unscheinbarem Aussehen. Es hieß, die Schönheit einer Mutter werde durch ihre Tochter aufgezehrt. Und dieses alte Märchen war keine Lüge.
In dem Augenblick, in dem Evelyn schwanger mit Lina wurde, spürte sie, wie ihre Zukunft und Schönheit ihr entglitten. Hätte sie doch nur jenen anderen Heiratsantrag angenommen, anstatt sich für Linas Vater zu entscheiden... Vielleicht würde sie dann nicht in irgendeiner zweitklassigen Villa leben."Das Hauptanwesen?" wiederholte Lina.
Lina war enttäuscht und hatte sich eigentlich darauf gefreut, das Abendessen mit ihrem Großvater zu genießen. Aber da sie den Hass ihrer Mutter auf ihn kannte, sprach sie es nicht laut aus.
"Da, wo dein Onkel und seine Frau sind", spuckte Evelyn aus. "Weißt du, das Hauptanwesen hätte uns gehören sollen, wenn du deine dramatische Ausrede, das Internat zu verlassen, überwunden hättest."
Linas Unmut über die gefühllosen Kommentare ihrer Mutter wuchs. Sie atmete tief durch die Nase und ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben.
Wut führt immer zu unüberlegten Diskussionen. Wenn Lina schon mit jemandem argumentieren wollte, dann doch bitte mit kühlem Kopf.
"Psychische Krankheiten und Traumata sind keine dramatischen Ausreden", entgegnete Lina gelassen.
Lina hegte langsam den Gedanken auszuziehen, aber ihr Großvater würde das nie zulassen. Jedes Mal, wenn sie es versuchte anzusprechen, hatte jemand schon eine Ausrede parat.
"In der heutigen Zeit habt ihr Kinder so viel Zeit und Luxus, dass ihr euch dumme Geisteskrankheiten ausreden könnt", spottete Evelyn.
Evelyn verschränkte die Arme und musterte Linas schlichte Kleidung. Mit all dem Reichtum der Welt entschied sich Lina dazu, was zu tragen? Ein T-Shirt, Jeans und einfache Ohrringe. Schon wieder hatte Lina es geschafft, sie zu enttäuschen. Mittlerweile hatte Lina darin fast schon eine Meisterschaft erlangt.
"Nur weil du die Therapie verweigerst, heißt das nicht, dass du deine Probleme auf mich projizieren kannst", gab Lina trocken zurück.
Nachdem sie so oft von ihrer Mutter beleidigt worden war, hatte Lina gelernt, die Kommentare nicht mehr an sich heranzulassen. Trotzdem konnte sie ihre Enttäuschung nicht verstecken.
Bevor Evelyn antworten konnte, meldete sich eine warme Stimme.
"Oh, du bist ja schon zuhause!" zwitscherte Milo. "Gerade noch rechtzeitig zum Abendessen. Wir haben auf dich gewartet –"
"Iss erst mal", sagte Lina und schenkte ihm ein kurzes Lächeln, während sie sich der Treppe zuwandte.
"Warum das denn?" fragte Milo und zog die Stirn kraus.
"Ich will schnell duschen gehen", sagte Lina.
"Du meinst deine einstündigen Duschen? Wie soll das bitte schnell sein?" spottete Milo.
"Sagt der, der eineinhalb Stunden braucht, um sich fertig zu machen", konterte Lina. "Was treibst du eigentlich so lange im Bad? Fällst du in die Toilette rein?"
"Ja, und es ist sehr schwer, da wieder rauszukommen", erwiderte Milo schlagfertig.
Lina verdrehte die Augen. "Das kann ich mir vorstellen."
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stieg Lina die Treppe hoch und ging direkt in ihr Zimmer. Sie warf die Kleider von heute Morgen beiseite und überlegte, wie sie das freizügige schwarze Kleid loswerden sollte.
"Ich sollte sie alle spenden", murmelte Lina und warf einen Blick in den hinteren Teil ihres Kleiderschranks, wo sich all die gewagten Outfits befanden.
Mit einem Kopfschütteln ging Lina schnell ins Bad, duschte und kam bald darauf in ihrem Schlafanzug heraus. Sie rieb sich gerade die nassen Haare mit einem Handtuch trocken, als ihr Telefon klingelte.
Sofort ging Lina darauf zu und sah, dass es ihr Großvater war. Überrascht zogen sich ihre Augenbrauen hoch.
Warum rief ihr Großvater sie so spät am Abend an? War etwas passiert?
Ohne zu zögern nahm Lina den Anruf entgegen. "Hallo?"