Altmeister Nan blickte auf Hou Lin, der regungslos dastand. "Wie findest du den Gedanken, ein Mädchen zu unterrichten?"
"Meister, wenn Ihr es wünscht, dass ich sie ausbilde, werde ich ihr mein Bestes geben."
"Es ist lange her, dass jemand dich so schnell durchschaut hat." Altmeister Nan lachte. Ihm war klar, dass er Nan Huas Zukunft nicht mehr vorhersehen konnte. Doch ganz gleich, was passieren würde, er war bereit, ihren Wünschen nachzukommen.
"Meister, ist es wirklich in Ordnung, wenn sie das lernt?" Hou Liang war besorgt. Würde bekannt, dass eine Dame aus adeligem Haus die verdeckten Künste erlernte, wäre das ihr Untergang.
Altmeister Nan schnaubte. "Kein Problem. Sie kann so viel lernen, wie sie will. Und wenn sie gut genug ist, wird niemand je herausfinden, dass sie es war. Und falls doch jemand es weiß und sie damit erpressen will.... die schicke ich direkt vor die Tore der Hölle."
Hou Liang war verblüfft, doch er wusste, dass Altmeister Nan entschlossen war, seiner Enkelin jeden Wunsch zu erfüllen. Seufzend schüttelte er den Kopf und stellte keine weiteren Fragen.
Ein alleinstehender Mann wie er würde niemals das Gefühl eines Großvaters verstehen, der seine Enkelin liebt.
…
Die Nadeln kamen bald bei Nan Hua an. Es war noch nicht ihr Geburtstag, aber Altmeister Nan wollte ihr das Geschenk früher überreichen, damit sie sich daran gewöhnen konnte.
Als Nan Hua die Box voller Nadeln in unterschiedlichen Größen betrachtete, musste sie sich fragen, ob ihr Großvater einen ganzen Laden gekauft hatte. Es waren fünf Boxen, fast so, als hätte er Sorge, eine könnte nicht genug sein.
"Fräulein, werden Sie heute wieder zum Ning Shu Pavillon gehen?" fragte Mu Yan, eine von Nan Huas drei persönlichen Dienerinnen, während sie ihre Haare band.
Nan Hua nickte.
"Dann mache ich es einfach." Mu Yan lächelte und fuhr fort, Nan Huas Haare gekonnt zu kämmen. Von den drei Dienerinnen war Mu Yan die Geschickteste mit den Haaren, daher war es ihre Aufgabe.
Meist wünschte sich Nan Hua aber nur einfache Frisuren.
Xiao Yun stellte die Kisten vorsichtig ab. Sie atmete tief durch. "Diese Kisten sind ziemlich schwer. Wohin damit, Fräulein?"
"Stellt sie neben mein Bett."
"Jawohl, Fräulein."
Nachdem Xiao Yun die Kisten abgestellt hatte, bemerkte sie, dass Nan Hua gedankenverloren wirkte. Sie trat vorsichtig näher und lächelte. "Fräulein, wenn Sie eine Frage haben, zögern Sie nicht, sie zu stellen."
Nan Hua warf Xiao Yun einen Blick zu. In den vergangenen Wochen war sie distanziert zu ihnen gewesen, aber sie hatten so getan, als wäre es normal. So kam sie zu dem Schluss, dass die frühere Nan Hua genauso kalt zu ihnen war.
"Sind alle Großväter so?" fragte Nan Hua und ihr Blick fiel auf die letzte Kiste, die sie auf dem Tisch abgestellt hatte.
Xiao Yun war überrascht von der Frage. Ihre Miene verkrampfte sich kurz, bevor sie sich wieder entspannte. "Dieser Diener hatte keinen Großvater, aber er ist Ihr Großvater, also ist es natürlich, dass er sich um Sie kümmert."
"Wirklich?"
Xiao Yun: "...", ganz ehrlich, das ist Logik.
Mu Yan kicherte. "Fräulein, Sie sind die Enkelin von Altmeister Nan, er wird sich selbstverständlich um Sie kümmern. Sie sind sein Familienmitglied."
Familienmitglieder.
Das Wort klang für Nan Hua fern. Obwohl sie schon einige Zeit hier war, erinnerte sie sich noch an ihre eigene Vergangenheit. In ihrer ursprünglichen Welt war sie Waise, die seit ihrer Geburt verlassen wurde.
Es gab keine Eltern, die sich um sie kümmerten, keinen Großvater, der sie mit Zuneigung überhäufte.
Und als sie jener Organisation beitrat, war sie nicht mehr als ein Werkzeug – ein Werkzeug zum Töten.
Nan Hua betrachtete die Kiste einen Augenblick lang, bevor sie eine Entscheidung traf. Da sie gut zu ihr waren, wollte sie auch gut zu ihnen sein, denn sie waren... ihre Familie.