Es war früher Morgen, eine ansonsten ruhige Zeit, aber das Geräusch galoppierender Pferde und der strenge, laute Ruf von Männern lockte Ravina näher ans Fenster. Sie schob den Vorhang beiseite und öffnete das Fenster weiter, um einen klareren Blick auf die Außenwelt zu erhaschen. Soldaten hatten sich im Tor versammelt und stritten sich um einen neuen Gefangenen.
"Sie haben wieder einen Drachen gefangen", erklärte ihre Zofe, während sie das Bett machte.
Ravinas Blick blieb an dem Fenster haften. Es war schon eine Weile her, seit der letzte Gefangene zum Schloss gebracht worden war. Die verbliebenen Drachen hatten gelernt, sich zu verbergen. Wie also wurde dieser gefangen genommen?
Die Soldaten hatten Schwierigkeiten, ihn zu bändigen, trotz der Fesseln um seine Hand- und Fußgelenke. Fünf Männer mussten zusammenwirken, um ihn in die Knie und dann zu Boden zu zwingen.
Von dem Turm, aus dem Ravina beobachtete, sah sie seinen breiten Rücken – bedeckt mit verkrustetem Blut von Peitschenhieben. Ein Soldat ergriff ihn an den Haaren und drückte seinen Kopf nieder, presste seine Wange auf den harten Boden.
Ravina erhaschte einen Blick auf das Gesicht des Gefangenen – genug, um zu erkennen, dass er voller Zorn war. Sein Kiefer war fest angespannt und seine Nüstern weiteten sich. Seine Augen konnte sie nicht klar sehen; sie waren von dunklen Haarsträhnen verdeckt.
"Es heißt, er ist ein Katharos. Seine Majestät wird hocherfreut sein, dass sie so einen gefangen haben", fuhr ihre Zofe Ester fort.
Ein Katharos? Ein Drache königlichen Blutes. Nun war er hier ein Gefangener. Das musste sein Stolz verletzt haben. Drachen waren stolze Wesen. Sie wehrten sich alle bei ihrer Gefangennahme, weigerten sich, dem Feind nachzugeben. Die Peitschenwunden auf seinem Rücken zeugten von seiner Widerständigkeit, und er hatte mehr davon als jeder andere, den sie zuvor gesehen hatte. Seine gesamte Rückenfläche war damit bedeckt, keine einzige Stelle unversehrt.
Die Soldaten drückten ihn nieder, indem sie auf seinen verletzten Rücken knieten. Ravina erkannte, dass sie seinen Schmerz genossen. Auch sie hatte einst Freude am Leid dieser Kreaturen gefunden. Sie hatte gesehen, wie sie alle zum Schloss geschleppt, ausgepeitscht und dann entweder getötet oder eingekerkert wurden. Doch das freudige Gefühl währte immer nur kurz. Ihr Leid milderte Reginas Schmerz und Zorn nicht. Im Gegenteil, sie wurde mit den Jahren nur noch verbitterter.
Für einen Moment erstarrte der Gefangene. Wenn Ravina eines aus ihren jahrelangen Beobachtungen gelernt hatte, dann, dass diese Kreaturen so leicht niemals kapitulierten. Was ging also in ihm vor?
Plötzlich wehte der Wind seine Haare zurück und enthüllte seinen Blick. Diese lodernden Augen waren nicht die eines Mannes, der müde war oder kurz vor der Aufgabe stand. Er verharrte nur, um Kräfte zu sammeln, und dann wälzte er sich mit einem wilden Zornesschrei zur Seite. Die Soldaten wurden von seinem Rücken geschleudert und er schnellte auf die Beine, seine Muskeln gespannt und vor Wut bebend, während er danach strebte, sich zu befreien. Die Ketten hielten ihn jedoch fest. Bevor er weit kam, traf eine Peitsche seine Brust und riss die Haut auf.
Ravina zuckte zusammen, ein Schaudern durchlief sie, als ein tierisches Knurren aus seiner Kehle drang. Etwas regte sich unter seiner Haut, als er wild an den Ketten riss, mit denen die Soldaten ihn festhielten. Er versuchte, sein inneres Biest zu entfesseln.
Ravina wusste, dass er sich nicht verwandeln konnte, egal wie sehr er es auch versuchte. Die Fesseln um seine Knöchel und Handgelenke waren so konzipiert, dass sie Betäubungsmittel injizierten, sobald Gewalt angewendet wurde, um sie zu brechen.
Ihr Onkel, der nun König war, hatte zusammen mit ihrem Vater, dem vorherigen König, Waffen entwickelt, um gegen die Bestien zu kämpfen, die einst die Erde und den Himmel beherrscht hatten – die Bestien, die ihr Volk versklavt hatten. Ihr Vater hatte deren Herrschaft beendet und mit seinem Leben dafür bezahlt. Das Wissen, dass sein Tod nicht vergeblich war, milderte ihren Schmerz nicht.Sie konzentrierte sich erneut auf den Gefangenen. Er zog an den Ketten und schleuderte die Soldaten quer über das Feld, wobei einige in der Mitte aufeinanderprallten. Ravina konnte die Adern an seinen Armen hervortreten sehen. Stärke durchzog seine Schultern und Brust. Diese Männer waren Wildlinge, zu stark für gewöhnliche Menschen, doch fehlte ihnen deren Intellekt. Sie setzten eher auf ihre Kraft, nicht auf ihren Verstand. Genau darum hatten ihr Vater und seine Männer sie besiegt.
Ravina fiel auf, dass der Gefangene versuchte, die Ketten zu zersprengen, jedoch nie die Fesseln, als wisse er, welche Folgen es hätte, würde er Erfolg haben. Er rannte auf das Tor zu, kam jedoch nicht weit, bevor er gestoppt wurde. Diesmal wurde er mit einem Verewigungsgerät beschossen – eine kleine Armbrust, die Beruhigungsmittel verschießt, um das Wesen zu beruhigen oder es einschlafen zu lassen. Ravina wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis die Mittel wirkten. Sie verabreichten ihm mehrere Injektionen, und bald sank er zuckend zu Boden und kam zur Ruhe.
Ravina hatte so etwas schon oft gesehen. Solche Zuckungen sollten durch die Beruhigungsmittel eigentlich nicht verursacht werden. Es schien, als hätte man ihm etwas anderes verabreicht. Sie konnte nicht begreifen, warum dies alles geschah. Ihr Vater hatte die Bestien gleich nach ihrer Gefangennahme getötet, niemand wurde in Gefahr gebracht. Warum brachte ihr Onkel sie hierher und durchlebte all dies, um einige von ihnen in Käfigen zu halten?
Obwohl sie diese Monster verachtete, konnte sie nicht aufhören, die Methoden ihres Onkels zu hinterfragen. Sie fühlte sich nicht sicher, wenn Drachen unterhalb ihres Schlafplatzes eingesperrt waren. Sie hatte die Grausamkeiten und das Blutvergießen, das sie verursachten, selbst miterlebt.
Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Fenster ab. Das Zusehen genügte ihr nicht mehr. Sie wollte sie ausrotten, sie alle tot sehen, doch diese wilden Bestien waren schwer zu vernichten. Selbst jetzt, nach vielen Dosen Beruhigungsmittel, vernahm sie ein lautes Knurren.
Wie war das möglich?
Sie trat wieder an das Fenster, um einen Blick zu riskieren. Das Tier war wieder auf den Beinen, es hielt einen Soldaten umklammert und zerquetschte dessen Taille. Entsetzt sah Ravina zu, wie es den leblosen Körper des Soldaten zur Seite warf und mit feindseligem Blick nach seinem nächsten Opfer suchte. Befehle wurden erteilt.
"Feuer!"
"Nehmt ihn unter Beschuss!"
Der laute Knall einer Pistole veranlasste sie, sich die Ohren zuzuhalten. Das Geschoss traf seine Schulter und ließ ihn stöhnen und zurücktaumeln, doch das reichte nicht aus, um ihn aufzuhalten. Ein weiterer Schuss folgte.
Sie würden ihn töten, dachte sie. Er war zu ungebändigt, um kontrolliert zu werden. Nach dem zweiten Schuss herrschte Totenstille, abgesehen von ihrem pochenden Herzen. Die Situation war außer Kontrolle geraten, sie hatte sogar die Augen geschlossen. Nun schaute sie langsam wieder hoch, um zu sehen, was geschehen war.
Das Tier kniete am Boden, getroffen im Bein, und aus den Wunden rann Blut. Dennoch zeigte es keine Schmerzregung. Seine gebräunte Haut schimmerte feucht und schweißbedeckt, während seine braunen Augen, die sie an Kaffeebohnen erinnerten, die Soldaten feindselig fixierten.
"Reg dich nicht auf, Monster!" Mehrere Soldaten hielten es mit vorgehaltener Waffe in Schach, während andere sich daran machten, ihm wieder Ketten anzulegen. Weitere Soldaten kamen hinzu. Fast zwanzig Männer, schwer bewaffnet, waren erforderlich, um gegen eine einzige Kreatur anzutreten. Aber er war kein Mensch, auch wenn alles an ihm männlich wirkte.
Der Wind fachte erneut an, und aus irgendeinem Grund spürte er ihre Anwesenheit. Er schaute auf und bot ihr freie Sicht auf sein Gesicht. Ihr Herz setzte aus, als sich ihre Blicke trafen. Ohne ein Wort hielt er sie gefangen, während die Soldaten weitere Fesseln anbrachten und ihn aufzurichten zwangen. Er ließ alles über sich ergehen, immer mit dem Blick auf sie geheftet. Ravina schluckte. Warum sah er sie nur so an?