Als William und Ella sich ihrem Anwesen näherten, bemerkten sie in der Ferne eine prächtige Kutsche. Solch eine Kutsche hatte William in Lont noch nie zuvor gesehen, daher nahm er an, dass sie Gäste hatten, die aus anderen Gebieten angereist kamen.
Neben der Kutsche stand eine sechs Meter große Kreatur. Dieses Wesen hatte den Kopf und die Flügel eines Adlers und den Körper eines Löwen. Es fiel William nicht schwer, diese Geschöpf aus Mythen und Legenden zu erkennen.
"Ein Greif", murmelte William, während Ella stehenblieb, um das Tier genauer zu betrachten.
Die Angorianische Ziege hob ihren Kopf und fixierte den Greif. Dieser erwiderte den Blick. William konnte die Verachtung in seinen stolzen und scharfen Augen sehen. Für den Greif schienen sie nicht mehr als lästige Insekten zu sein, die seiner Aufmerksamkeit nicht würdig waren.
"Komm, Mama", sagte William, während er Ellas Hals streichelte. "Es ist nur ein überdimensionaler Birb."
"Meeeeeh."
"Das ist kein Vogel, Mama. Das ist ein Birb."
"Meeeeh?"
"Ein Birb nennt man einen Vogel, der eine Identitätskrise hat."
Die Ziege warf dem Greifen einen letzten Blick zu, nickte dann und gab damit ihre Zustimmung zu Williams Einschätzung – es war kein Vogel, sondern ein Birb. Sie brauchte sich also nicht damit auseinanderzusetzen, warum er Beine statt Krallen besaß.
Offensichtlich befand sich dieser Vogel in einer Identitätskrise.
Die Ziege sah den Greifen mitleidig an, bevor sie in Richtung des Hauses ging.
"Meeeeh."
"Ich stimme dir zu, Mama. Dieser Birb ist wirklich bemitleidenswert."
Der Greif war ein äußerst intelligentes Wesen. Natürlich verstand er das Gespräch zwischen William und Ella, was ihn sehr zornig machte. Wäre er nicht an die Kutsche gebunden gewesen, hätte er die beiden Insekten, die es wagten, ihn mit mitleidigen Augen zu betrachten, längst niedergestampft.
Mit zorngeblähtem Bauch stieß der Greif einen ohrenbetäubenden Schrei aus, aber William und Ella würdigten ihn keines weiteren Blickes. Sie waren gespannter darauf, wer ihr Gast sein könnte. Bei jemandem, der in einer so außergewöhnlich schönen Kutsche anreiste und von einem Greifen gezogen wurde, konnte es sich kaum um eine gewöhnliche Person handeln.
"Großvater, ich bin zurück", rief William, als er die Tür öffnete.
"Meeeeeeh!" verkündete auch Ella ihre Ankunft und verwandelte die ruhige Szenerie im Wohnzimmer in eine überraschte Stille.
Drei Personen saßen auf der Couch, flankiert von vier weiteren Personen, die dahinterstanden. Die drei trugen elegante Gewänder, während die vier Männer hinter ihnen leichte Rüstungen trugen.
James, Mordred und Anna saßen diesen Gästen gegenüber. William erkannte, dass sein Großvater sichtlich angespannt war. Er verspürte den kaum zurückgehaltenen Zorn, der jederzeit auszubrechen drohte.
"William, sei so gut, nimm Platz", sagte Anna mit einem Lächeln. "Diese Gäste stammen aus dem Herzogtum Griffith."
Annas Ton war höflich, aber in ihrer Stimme schwang keine Spur von Achtung mit. Es war, als ob seine Tante diese Leute nicht als willkommene Gäste behandelte, sondern als Eindringlinge, die in ihr Territorium gelangt waren.Mordred räusperte sich und stellte der Reihe nach die Gäste vor.
"Diese Dame ist die Herzogin von Griffith, Lady Agatha", sagte Mordred mit einem Lächeln. "Und dieses entzückende junge Mädchen ist ihre Tochter, Lady Rebecca."
Sein Blick ging weiter zu der schönen Frau in der eleganten hellblauen Robe. Ihre kalten Gesichtszüge und ihr eisiger Blick könnten jeden dazu bringen, in Ehrfurcht den Kopf zu senken.
"Diese Dame ist eines der Ältesten der Nebelsekte, Lady Eleanor", fügte Mordred grinsend hinzu. "Sie sind von weit hergereist, nur um dich zu sehen, William."
"Oh?" William hob fragend eine Augenbraue und betrachtete die Gäste nacheinander.
Die Herzogin von Griffith hatte langes, hellbraunes Haar und grüne Augen. Sie könnte als schöne Frau gelten, aber das offensichtliche Missfallen in ihrem Gesicht erinnerte William an eine alte Hexe, die Kindern vergiftete Äpfel anzubieten pflegte.
Ihre Tochter Rebecca hingegen erweichte Williams Blick. Obwohl er sich nicht ganz sicher war, vermutete er, dass sie in etwa sein Alter hatte. Ihr kurzes hellbraunes Haar reichte kaum bis zu den Schultern und schimmerte seidig.
Sie hatte dieselben hellgrünen Augen wie ihre Mutter, doch anders als die alte Hexe, waren ihre strahlend und klar. Ihre niedlichen und bezaubernden Lippen verharrten in einem Lächeln, das ihr ohnehin hübsches Gesicht bezaubernd machte.
William seufzte bei dem Anblick des puppenhaften Mädchens vor ihm. Hätte er neigungen eines Lolicons gehabt, hätte er sie zweifellos bereits in seinem Zimmer eingeschlossen und wie ein Haustier gehalten.
Die kalte Schönheit, die ihn durchdringend anschaute, beachtete William kaum. Trotz ihrer Schönheit konnte der Junge erkennen, dass sie nichts als Ärger verkörperte.
"Guten Tag, ihr alle", begrüßte William mit einem Lächeln. "Mein Name ist William von Ainsworth, kurz Will, und ich bin der attraktivste zehnjährige Junge des Zentralkontinents. Ich wage zu behaupten, dass ihr niemanden finden werdet, der hübscher ist als ich. Was die anderen Jungen des Kontinents angeht..."
William verzog verächtlich die Lippen. "Die können sich alle nur um den zweiten Platz balgen."
Nach Williams unverblümter Behauptung wurde es plötzlich still im Raum. Sogar die mürrische alte Hexe und die eisige Schönheit sahen William mit fassungslosen Gesichtern an. Was das Grinsen auf Williams Gesicht nur noch breiter werden ließ. Offensichtlich war er mit diesem Ergebnis sehr zufrieden.
Die Stille wurde jäh durch das schallende Gelächter von James unterbrochen.
"Hahaha! Wie zu erwarten von meinem Enkel!" James klatschte in die Hände. Die Wut, die er aufgestaut hatte, verflüchtigte sich, und seine Augen formten sich zu Halbmonden. "Würdig, ein Ainsworth zu sein!"
William warf sein Haar zurück und zeigte ein strahlendes Lächeln, während er der kleinen Puppe einen "Ich weiß, dass du mich magst" Blick zuwarf.
Durch das Spielen auf der Weide waren Williams Kleider schmutzig, sein Gesicht staubbedeckt und sein rotes Haar zerzaust. Doch seine grünen Augen, die so klar wie Smaragde waren, veranlassten die kleine Puppe Rebecca, anerkennend eine Augenbraue zu heben.
'Das sollte für einen ersten Eindruck genügen', dachte William bei sich. 'Wenn ich mich nicht irre, dann sollte dieses kleine Loli meine Verlobte sein. Wie man es von Opa erwarten kann, hat er wirklich gute Arbeit geleistet.'
William fand Rebecca sympathisch und gab dem jungen Mädchen in seinem Herzen zwei Daumen nach oben. Der Junge war sich sicher, dass diese kleine Puppe in ein paar Jahren zu einer außergewöhnlichen Schönheit heranwachsen würde. Jemanden wie sie zu heiraten, schien ihm keine schlechte Idee zu sein.
Doch bevor er sich seine rosige Zukunft ausmalen konnte, öffnete die alte Hexe ihren Mund und unterbrach Williams Tagträume.
"Da ihr nun hier seid, lasst uns direkt zum Wesentlichen kommen", sagte Agatha mit spöttischem Unterton. "Wir sind gekommen, um den Heiratsvertrag zwischen meiner Tochter und diesem unwürdigen Jungen, der mit Schmutz bedeckt ist, zu annullieren!"