"Est, kannst du diese Aufgabe bewältigen?"
"Ich kann."
"Gut." Eine Frau, die Anfang dreißig zu sein schien, nickte. "Dein Vater erwartet Großes von dir. Enttäusche ihn nicht."
"Ich werde mein Bestes geben, Mutter", erwiderte der Junge mit einem ernsten Blick. "Ich werde dich und Vater nicht im Stich lassen."
Die Frau seufzte und zog den Jungen in eine Umarmung. Sie strich ihm liebevoll über den Kopf, ehe sie ihn schließlich losließ.
"Nana, Herman, ich vertraue Est euch an." Die Frau wandte sich an ihre beiden treuen Diener. "Sorgt dafür, dass er seine Mission unversehrt und erfolgreich beendet."
"Jawohl, Mylady."
"Nach Eurem Willen, Mylady."
Zehn Minuten später verließ eine hölzerne Kutsche die Stadttore und fuhr hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Das Ziel war der Heilige Tempel. Der Junge blickte durch das Fenster der Kutsche, während sie die prächtige Stadt hinter sich ließen.
'Mach dir keine Sorgen, Vater, Mutter, ich werde meine Aufgabe erfüllen', gelobte Est, als er in die Ferne zu den Sternen blickte. 'Eure Exzellenz, Lady Astrid, bitte behüte mich.'
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"Brrrr! Das Wasser ist so kalt!" fröstelte William, als er sich mit dem Wasser des Flusses das Gesicht wusch. Er war erst vor einigen Minuten aufgewacht und hatte entschlossen, sich zu waschen, um die letzten Spuren des Schlafs aus seinem Körper zu vertreiben.
Ella ging neben ihm her und begrüßte ihn mit ihrem morgendlichen Gruß.
"Meeeeeeh."
"Guten Morgen, Mama Ella."
"Meeeeeeh."
Nach ihrer täglichen Begrüßung holte William eine Holzschale aus seinem Aufbewahrungsring und melkte seine Mama Ella. Obwohl er schon zehn Jahre alt war, trank er immer noch täglich ihre Milch. Warum? Weil Ellas Milch köstlich war.
Außerdem würde Ella schimpfen, wenn er ihre Milch nicht täglich trinken würde. William hätte sie direkt trinken können, aber er entschied sich für einen Becher. Ella schien diese Änderung in der Routine ihres Schützlings nicht zu stören. Was für sie zählte, war dass William ihre Milch trank.
< Tägliche Aufgabe: Milch trinken wurde abgeschlossen! >
< Belohnungen: 6 Erfahrungspunkte. >
'Ich verstehe immer noch nicht, warum diese Aufgabe bis heute funktioniert', dachte William nach, als er auf sein Benachrichtigungsfenster blickte.
Als er noch ein Baby war, war diese tägliche Aufgabe entscheidend, um ein paar Erfahrungspunkte zu sammeln. Jetzt erinnerten ihn diese Benachrichtigungen an die Zeit, als er noch ein schwaches und hilfloses Baby war, das ruhig bleiben musste und darauf wartete, täglich gefüttert zu werden.
Ein nostalgisches Lächeln breitete sich auf Williams Gesicht aus, als er an die Streiche zurückdachte, die er und Ella in seiner Kindheit spielten. Er war gerade im Begriff, ins Schwärmen zu geraten, als er eine feuchte Empfindung auf seinen Wangen spürte.
"Meeeeeeeh."
"Entschuldigung, Mama Ella", sagte William, während er Ellas Nacken streichelte. "Ich habe in Erinnerungen an früher geschwelgt."
"Meeeeeh?"
"Ja, an die Zeit, als ich noch ein Baby war."
"Meeeeeh."
"Die Zeit vergeht so schnell. Alles kommt mir vor, als wäre es erst gestern passiert", sagte William, während er Ellas Hals umarmte. "Ich habe großes Glück, dich zu haben, Mama."
"Meeeeh." Ella schloss die Augen und drückte ihren Kopf gegen Williams Wange. Mutter und Sohn blieben für einige Minuten so. Sie beendeten ihre Umarmung erst, als sie bemerkten, dass die anderen Ziegen begannen, aus ihrem Schlaf aufzuwachen.
William bereitete ein kleines Feuer vor, an dem er sein Frühstück und Ellas Milch erwärmte. Ella und die anderen Ziegen tranken aus dem Fluss und knabberten an Gräsern, bis sie satt waren.
Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatten, setzten William, Ella und die Ziegen ihre Reise fort.Es waren drei Tage vergangen, seit sie die Stadt Lont verlassen hatten. Bislang waren sie unterwegs weder auf Banditen noch auf streunende Monster gestoßen. Auf ihrem Weg zum Heiligen Tempel kamen sie jedoch an mehreren Ruinen vorbei. Diese waren Überreste von Städten und Dörfern, die einst in der westlichen Region des Hellanischen Königreichs florieren.
Immer wenn William an diesen Orten vorbeikam, hielt der Junge inne und widmete einige Minuten des stillen Gebets den Menschen, die bei den Geschehnissen ums Leben gekommen waren. Als jemand, der sich an seine Wiedergeburt erinnerte, wusste er, dass auch diese Seelen eine neue Gelegenheit bekommen würden, ihr Leben von Neuem zu beginnen.
Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie sich nicht mehr an ihr früheres Dasein erinnern konnten.
"Ich bete, dass ihr in eurem nächsten Leben Glück finden mögt", murmelte William, während er sich auf die Knie niederließ. "Mögen eure Tage schön und leuchtend sein."
Die Ziegen standen still an seiner Seite und blickten auf die Ruinen. Sie machten keinen Mucks und warteten darauf, dass William sein Gebet beendete.
Gerade dann vernahm er das Geräusch einer sich nähernden Kutsche. William bewegte sich nicht vom Fleck und setzte sein Gebet fort. Er spürte keine böse Absicht hinter sich, deshalb entschied er, sein Gebet nicht zu unterbrechen.
Der Junge dachte, dass es bloß Reisende waren, die vorbeizogen, also ignorierte er sie.
Als William sein Gebet beendet hatte, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass die Kutsche ein paar Meter hinter ihm angehalten hatte. Verwundert schaute der Junge zu den Ziegen. Einen Moment lang dachte er, die Ziegen hätten den Weg blockiert, aber als er sah, dass seine Herde ordentlich am Wegesrand stand, löste sich seine Sorge auf. Der Junge richtete seinen Blick auf die Kutsche und sah einen Mann mittleren Alters, der auf dem Kutschbock saß und ihm zulächelte.
"Junger Mann, kennst du dich hier aus?" fragte der Mann mit den ergrauenden Haaren.
"Verzeihung, aber ich komme nicht von hier", erwiderte William. "Ich bin nur vorbeigekommen und habe diese Ruinen bemerkt."
"Ich verstehe", sagte der Mann und nickte verständnisvoll. "Weißt du denn, wo sich der Heilige Tempel befindet?"
"Ihr seid auf dem Weg zum Heiligen Tempel?" Williams Lächeln wurde breiter. "Welch ein Zufall. Ich bin ebenfalls auf dem Weg dorthin."
"Ach ja? Warst du schon mal dort, mein Junge?"
"Nein, es ist das erste Mal, dass ich meine Heimatstadt verlasse, aber ich trage eine Karte bei mir."
"Darf ich mir deine Karte ansehen, mein Kleiner? Ich möchte nur die grobe Richtung zum Tempel wissen."
"Natürlich."
William trat an die Kutsche heran und zog die Karte aus seinem Aufbewahrungsring. Er überreichte die Karte dem Mann mittleren Alters auf sehr höfliche Weise.
"Junge, man sollte nicht zu sehr vertrauen", sagte der Mann mit ernstem Gesichtsausdruck. "Was wäre, wenn ich ein böser Mensch wäre? Ich könnte einfach die Karte ergreifen und dich hier zurücklassen."
"Meine Ziegen sind gute Charakterrichter", entgegnete William. "Da sie keine Unruhe stiften, bedeutet das, dass du kein schlechter Mensch bist."
"Du vertraust deinen Ziegen dermaßen?"
"Ich vertraue ihnen mein Leben an."
Der Mann mittleren Alters wusste nicht recht, ob er über Williams Naivität lachen oder weinen sollte, aber Williams sorglose Haltung machte einen positiven Eindruck auf ihn. Der Mann betrachtete mehrfach nickend die Karte. Es war viele Jahre her, dass er in der westlichen Region war, und das jüngste Unglück hatte die Landschaft stark verändert. Die ihm bekannten Landmarken waren verschwunden und es fiel ihm schwer, den richtigen Weg zum Tempel zu finden.
Glücklicherweise hatte er William aus einiger Entfernung wahrgenommen und beschlossen, in dessen Richtung zu fahren. Sein Wagnis zahlte sich aus und er wurde mit einer Karte belohnt, die ihn zu seinem Ziel führte.
"Danke", sagte er, als er William die Karte zurückgab. "Ihr sagtet, Ihr wäret ebenso auf dem Weg zum Heiligen Tempel. Warum reisen wir nicht gemeinsam?"
"Das Schicksal hat uns zusammengeführt", kommentierte William. "Ich nehme euer Angebot an, zusammen zu reisen. Gemeinsam ist man stärker."
"Hahaha! Du bist ein interessanter Junge."
"Nicht nur interessant, sondern auch gutaussehend."
"Guahahahaha! Was für ein Bursche, das gefällt mir!" Der Mann mittleren Alters zeigte William den Daumen nach oben.
William lächelte breit und schwang sich auf seine Mama Ella. Der Mann war sehr kommunikativ und plauderte unablässig mit William weiter, während die Kutsche und die Herde Ziegen Seite an Seite dahin zogen.