1.
Akio nahm die Zeit seiner Suspendierung schwer. Keine Schule zu haben, war zwar ein ungewohntes Vergnügen, doch die Umstände, die dazu geführt hatten, ärgerten ihn zutiefst. Besonders quälte ihn eine Frage: Hatte Kevin ebenfalls eine Strafe bekommen? Akio wusste, dass ihn nur dieser Gedanke beruhigen würde. Doch wie sollte er sich verhalten, wenn er wieder in die Schule zurückkehrte? Was würden seine Freunde sagen? Und die anderen Mitschüler?
In den drei Wochen zu Hause hatte seine Mutter versucht, ihn mit Geschichten aus ihrer eigenen Vergangenheit aufzumuntern. Sie erzählte von der Zeit, als sie Akios Vater kennengelernt hatte, von der eingeglasten Blume, die er ihr schenkte, und von ihren eigenen Kämpfen mit Zorn und Wut. Doch Akio war irgendwann nur noch genervt. „Was hat das alles mit mir zu tun?" fragte er sich. Um weiteren langen Vorträgen zu entgehen, nickte er einfach zustimmend und tat so, als würde er verstehen.
Als der erste Schultag nach seiner Suspendierung anbrach, spürte Akio ein mulmiges Gefühl. Unsicherheit, Angst und eine leise Vorfreude mischten sich. Seine Mutter versuchte ihn zu ermutigen, doch diesmal wollte Akio allein gehen.
Auf dem Pausenhof angekommen, bemerkte Akio sofort die Blicke. Einige Schüler flüsterten, andere lachten, und manche wichen ihm aus. Akio versuchte, ihre Reaktionen zu ignorieren, aber das mulmige Gefühl ließ ihn nicht los. Was war hier los? Hatte er etwas an sich, das ihn so auffällig machte?
Als er sich in Richtung seiner Klasse bewegte, bemerkte er Sophie, die ihn aus der Ferne sah. Ihre Augen weiteten sich, und bevor Akio reagieren konnte, rannte sie auf ihn zu.
„Akio!" rief sie und blieb vor ihm stehen. „Endlich bist du wieder da!"
„Ja... offensichtlich," murmelte Akio und wich leicht zurück, als Sophie ihn fixierte. „Was ist los?"
„Was los ist? Wo warst du? Du bist einfach verschwunden, ohne ein Wort! Du hast nicht angerufen, nicht geschrieben – gar nichts!" Ihre Stimme klang vorwurfsvoll, aber ihr Gesicht wirkte eher erleichtert.
„Ich war zuhause," erklärte Akio kühl.
„Das weiß ich," erwiderte sie, während sie ihre Hände in die Hüften stemmte. „Aber warum so lange? Du warst ewig weg. Es fühlte sich an wie hundert Jahre!"
„Ihr müsst ja nicht alles wissen," murmelte Akio und zuckte mit den Schultern.
Sophie verschränkte die Arme und musterte ihn. „Sei nicht wieder so mies, Akio. Ich hab dich vermisst." Dann brach sie plötzlich in ein breites Grinsen aus. „Aber weißt du was? Ich will dir was zeigen."
„Zeigen?" fragte Akio, der bereits ahnte, dass irgendwas Peinliches folgen würde.
„Ja!" Sophie straffte die Schultern und zog mit einer Mischung aus Stolz und Unsicherheit den obersten Knopf ihres Hemds auf. Sie präsentierte einen schlichten BH, den sie vermutlich zum ersten Mal trug. „Na, was sagst du?"
Akio blinzelte verwirrt. „Ähm... nette Farbe?"
Sophie wurde knallrot, senkte den Kopf und begann hastig, ihren Knopf wieder zu schließen. „Ach, vergiss es! Ich wollte dir nur zeigen, dass ich jetzt... naja, du weißt schon... erwachsener bin!"
Akio starrte sie an, seine Stirn in tiefe Falten gelegt. „Das? Das war dein großer Plan, um erwachsener zu wirken? Sophie, das hat dir doch keiner gesagt, oder?"
„Lass mich in Ruhe!" Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah zur Seite. Die selbstbewusste Fassade war brüchig, doch sie wollte nicht nachgeben. „Es ist halt wichtig für mich, okay? Ich wollte nur... keine Ahnung... zeigen, dass ich mich auch verändert habe, während du weg warst."
Akio seufzte, bereits genervt. „Okay, gut. Du hast dich verändert. Zufrieden? Kannst du mir jetzt sagen, warum die Leute mich anstarren, als hätte ich irgendwen umgebracht?"
„Oh." Sophie schien froh über den Themenwechsel. „Die erzählen irgendwelchen Mist über dich. Dass du Mädchen schlägst und die Unterstufen terrorisierst."
Akio riss die Augen auf. „Was?! Warum sollte ich so was machen?"
„Ich hab doch gesagt, dass es nur Mist ist." Sophie sah ihn ernst an. „Aber du kannst dir wahrscheinlich denken, wer dahinter steckt."
Akio knirschte mit den Zähnen. „Kevin."
Sophie nickte. „Nach eurem letzten Kampf muss er die Gerüchte wieder angeheizt haben. Es wird immer schlimmer, je länger du nicht da bist."
Akios Hände ballten sich zu Fäusten. „Dieser Typ... Hat er keine anderen Hobbys? Weißt du, ob er auch suspendiert wurde?"
„Ich weiß es nicht," gab Sophie zu. „Aber wenn er nicht suspendiert wurde, ist das wirklich unfair."
In der Pause trafen sich die vier Freunde zum ersten Mal seit drei Wochen wieder am üblichen Treffpunkt. Akio war erleichtert, sie endlich zu sehen, doch bevor er überhaupt ein Wort sagen konnte, marschierte Lirien auf ihn zu und gab ihm eine schallende Ohrfeige.
„Wo warst du?" rief sie, die Stimme bebend vor Wut und Sorge. „Drei Wochen lang keine Nachricht, kein Anruf, nichts! Denkst du, wir haben hier keine Sorgen?"
Akio rieb sich die Wange und wich zurück. „Tut mir leid," sagte er kleinlaut. „Ich hab einfach nicht daran gedacht."
„Nicht daran gedacht?" wiederholte Lirien ungläubig. „Wir sind deine Freunde, Akio! Ein einfaches Lebenszeichen, das war doch nicht zu viel verlangt!"
Bevor Akio antworten konnte, gab Auron ihm einen leichten Schlag in den Magen. „Ganz ehrlich," sagte er trocken. „Das war echt scheiße von dir. Du bist besser als das."
Sophie, die das Geschehen beobachtet hatte, trat dazwischen und versuchte, die Lage zu entschärfen. „Gebt ihm eine Chance zu erklären," sagte sie mit einer beruhigenden Stimme. „Akio, was ist passiert?"
Akio ließ die Schultern hängen und seufzte. „Ich wurde suspendiert," gab er zu. „Wegen des Kampfes mit Kevin. Drei Wochen lang. Und... ich war einfach zu wütend, um mit jemandem zu reden."
Die drei starrten ihn schweigend an, bevor Lirien den Bann brach. „Und was ist mit Kevin?" fragte sie. „Wurde er auch suspendiert?"
„Keine Ahnung," antwortete Akio ehrlich. „Ich hab ihn nicht gesehen. Aber anscheinend..." Er holte tief Luft und sah Sophie an. „Wenn er die Gerüchte in die Welt gesetzt hat, dann war er bestimmt nicht lange weg. Vielleicht eine Woche, wenn überhaupt."
Sophie nickte langsam. „Das würde erklären, warum er so schnell wieder aktiv war. Und warum die Gerüchte immer schlimmer werden."
„Gerüchte?" fragte Auron, seine Stirn runzelnd. „Was für Gerüchte?"
Sophie zögerte, bevor sie sprach. „Die üblichen Kevin-Geschichten. Er erzählt, dass Akio jüngere Schüler bedroht und Mädchen schlägt."
„Was?" rief Lirien empört. „Das kann doch keiner glauben!"
„Doch," sagte Sophie ernst. „Die meisten glauben ihm. Er hat diesen ‚ich bin das Opfer'-Blick perfektioniert, und die Leute kaufen es ihm ab."
Auron knirschte mit den Zähnen. „Wie kann jemand so verdreht sein?"
Akio ballte die Fäuste, seine Wut kochte hoch. „Ich könnte ihn..." begann er, doch er hielt inne, als er die Blicke seiner Freunde bemerkte. Er atmete schwer aus und zwang sich, ruhiger zu werden. „Ich muss das in den Griff kriegen," murmelte er. „Er macht mein Leben zur Hölle."
„Wir helfen dir," sagte Lirien entschlossen. „Aber wir müssen das klug angehen."
„Wie?" fragte Akio. „Er hat die Schule und die Lehrer auf seiner Seite."
Auron dachte einen Moment nach. „Vielleicht können wir etwas finden, das zeigt, wie er wirklich ist."
„Wie sollen wir das machen?" fragte Akio, skeptisch. „Er weiß, wie man sich schützt."
„Vielleicht sollten wir unsere Eltern fragen," schlug Sophie vor. „Sie könnten uns einen Plan vorschlagen."
Die anderen sahen sie an, unsicher, ob das die beste Idee war. Doch schließlich nickten sie. Es war besser, einen Plan zu haben, als gar nichts zu tun.
Nach der Schule ging Akio nach Hause, die Gedanken schwer von den Gerüchten und dem Wiedersehen mit seinen Freunden. Er fand seine Mutter in der Küche und ließ seiner Wut freien Lauf.
„Kevin!" rief er, seine Stimme voller Zorn. „Er hat das alles in die Welt gesetzt! Er erzählt Lügen über mich, und die Leute glauben ihm!"
Kiyomi blieb ruhig und sah ihn an. „Setz dich, Akio," sagte sie sanft. „Erzähl mir alles, ganz in Ruhe."
Doch Akio konnte sich nicht beruhigen. „Ich hab's dir doch schon gesagt!" rief er. „Hörst du mir überhaupt zu?"
„Ich höre dir zu," sagte sie ruhig. „Aber wenn du schreist, verstehe ich nichts."
Akio starrte sie einen Moment lang an, bevor er aufstand und in sein Zimmer ging. Er schlug die Tür hinter sich zu und ließ sich auf sein Bett fallen. Warum verstand niemand, wie er sich fühlte? Warum hörte niemand wirklich zu?
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, ein Wunsch, der ihm fast peinlich war: Wäre sein Vater hier, wüsste er vielleicht, was zu tun war. Doch Akio schüttelte den Kopf. Sein Vater war nicht da, und selbst wenn, er würde nichts ändern.
Dann hörte er es. Eine Stimme, leise, aber klar.
„Du machst das gut," sagte die Stimme.
Akio setzte sich auf und sah sich um. „Was?" fragte er laut, doch niemand war da.
„Ich kann dir helfen," fuhr die Stimme fort. Sie war ruhig, fast beruhigend. „Du willst dieses Problem lösen, oder?"
„Wie?" fragte Akio misstrauisch. „Was meinst du?"
„Kevin ist das Problem," sagte die Stimme. „Und ich weiß, wie du ihn loswerden kannst."
Akio saß auf seinem Bett, die Knie angezogen, während sein Blick leer auf die Wand gerichtet war. Die Stimme in seinem Kopf ließ ihm keine Ruhe, ihr Ton schien lauter und eindringlicher als zuvor.
?: „Kevin hat es verdient. Du weißt das."
Akio: „Nein... es ist nicht so einfach!"
?: „Doch, genau das ist es. Willst du Frieden? Dann schaff dir deine Probleme aus dem Weg."
Akio: „Halt den Mund! Ich will das nicht!" Seine Stimme brach die Stille im Raum, unkontrolliert laut.
Von der Küche aus hielt Kiyomi inne, ihre Hände zitterten leicht, als sie Akios Stimme hörte. Sie wollte ihn nicht stören, aber die Wut und der Schmerz in seinen Worten schnitten tief.
Drinnen presste Akio die Hände gegen seine Schläfen, als wolle er die Stimme aus seinem Kopf verbannen.
?: „Willst du Frieden? Dann hör auf, schwach zu sein."
Akio: „Ich bin nicht schwach!" rief er aus, sein Atem flach und schwer.
?: „Doch, das bist du. Du lässt dich von allen rumschubsen, sogar von Kevin. Willst du ein Verlierer bleiben?"
Akio schüttelte heftig den Kopf, als könne er die Gedanken abschütteln. „Nein... ich bin kein Verlierer!"
In diesem Moment tauchte ein Satz auf, den Kiyomi ihm immer wieder gesagt hatte: „Wut mag dir wie Stärke erscheinen, aber sie verschlingt dich, bis du nichts mehr bist." Akio kniff die Augen zusammen, versuchte, sich auf diese Worte zu konzentrieren, um die Stimme zu übertönen.
?: „Niemand versteht dich. Sie alle denken, du bist nutzlos. Selbst deine Mutter glaubt, du bist schwach."
„Das stimmt nicht!" brüllte Akio. Er schlug mit der Faust auf das Bett, die Matratze gab dumpf nach.
?: „Du bist allein, Akio. Nur ich bin bei dir."
Akio presste seine Hände gegen seine Schläfen, die Stimme hallte in seinem Kopf, schien in jeder Ecke seines Bewusstseins zu widerhallen.
?: „Sieh es doch ein, Akio. Niemand außer mir kennt dich so gut. Niemand versteht dich so wie ich."
Akio flüsterte: „Das ist nicht wahr... ich habe Freunde, meine Mutter..."
?: „Freunde? Die, die dich anschreien und schlagen, weil sie nicht verstehen, was du durchmachst? Und deine Mutter? Sie versucht, dir Geschichten zu erzählen, die nichts mit dir zu tun haben. Du weißt, dass du allein bist."
Akio zuckte zusammen. War das wahr? Seine Freunde hatten ihn tatsächlich angeschrien, und seine Mutter sprach ständig von ihrer Vergangenheit, die so weit entfernt von seiner Realität schien. Er fühlte sich immer isolierter. War er wirklich allein?
?: „Ich bin der einzige, der immer bei dir war, Akio. Denk nach: War ich jemals gegen dich? Habe ich dich je im Stich gelassen?"
Akio versuchte, sich zu wehren, die Worte seiner Mutter in den Vordergrund zu rufen. Doch die Logik der Stimme schien sich wie ein Nebel, über seine Gedanken zu legen. Es fühlte sich richtig an, was sie sagte. Vertraut.
„Es ist meine Stimme..." murmelte er, seine Augen weiteten sich. „Es ist meine eigene Stimme."
?: „Natürlich bin ich das. Ich bin du, Akio. Alles, was ich sage, ist aus dir entstanden. Es sind deine Gedanken, deine Gefühle. Ich bin kein Fremder. Ich bin du."
Akio schluckte schwer. Es ergab Sinn. Wer sonst könnte so gut wissen, was in ihm vorging? Niemand war so nah an ihm dran wie diese Stimme. Sie hatte dieselben Dinge durchgemacht wie er, dieselben Schmerzen gespürt, dieselbe Wut geschluckt. Wenn es wirklich seine Stimme war, dann waren es auch seine Gedanken. Seine Ideen.
?: „Verstehst du jetzt, Akio? Es ist nichts falsch daran, auf sich selbst zu hören. Ich bin der Einzige, der weiß, was du brauchst. Die einzige Person, der du vertrauen kannst, bin ich."
„Ich... ich weiß es nicht." Akios Hände sanken kraftlos in seinen Schoß. Sein Atem zitterte. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es wirklich so..."
?: „Natürlich ist es das. Du bist stärker, Akio. Stärker als sie alle. Und du wirst es ihnen beweisen. Zeig ihnen, dass niemand dich brechen kann."
Akios Herz pochte in seiner Brust, ein dumpfer, stetiger Schlag. Die Stimme klang immer logischer, immer vertrauter. Alles, was sie sagte, ergab plötzlich Sinn. Niemand außer ihm selbst konnte verstehen, wie es war, Akio zu sein. Niemand außer ihm selbst konnte die Antworten haben, die er suchte.
Er schloss die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und brüllte schließlich laut:
„Ich werde es allen zeigen! Ich schaffe alles, was ich will!"
Die Worte hallten durch den Raum, drangen durch die Wände. Akio öffnete die Augen, ein Glanz aus Entschlossenheit und Wut lag in ihnen. Für einen Moment fühlte er sich wie ein Sieger, als hätte er die Kontrolle zurückgewonnen. Doch tief in seinem Inneren regte sich etwas anderes, ein leises Flüstern, das nur er hören konnte.
?: „Ja, Akio... das wirst du."
Kiyomi saß im Wohnzimmer, ihre Ohren gespitzt. Sie hörte, wie Akios Stimme plötzlich in einen entschlossenen Tonfall umschlug, lauter wurde, klarer. „Ich werde es allen zeigen! Ich schaffe alles, was ich will!" Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, aber es war ein gemischtes Lächeln, halb Erleichterung, halb Sorge. Er hat es geschafft, sich durchzusetzen… aber gegen wen?