Seit Wochen war Akios Vater in der Hauptstadt, und die Leere, die er hinterlassen hatte, fühlte sich für Akio und Kiyomi wie ein tiefer, nicht enden wollender Schatten an. Jede Woche, die verging, ließ die Hoffnung kleiner werden, dass Ferruccio bald zurückkäme. Akio spürte die Abwesenheit besonders schmerzlich. In der Schule fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, und die Freude an den Aktivitäten, die er früher liebte, war wie ausgelöscht.
Sein 5. Geburtstag, der ohne seinen Vater gefeiert wurde, war ein schwerer Schlag. Akio weinte bittere Tränen, fühlte sich verraten und von seinem Vater im Stich gelassen. Doch für die anderen Schüler war er einfach „die Heulsuse", die immer über alles jammerte. Niemand fragte ihn, was los war, und Akio erzählte es auch niemandem. Die einzige Konstante in seinem Leben waren seine Freunde – Auron, Lirien und Sophie.
Doch selbst diese Freundschaften schienen in Gefahr, als Akios Traurigkeit seinen Blick auf die Welt verdunkelte. Er begann, in allem das Schlechte zu sehen, und selbst kleine Rückschläge schienen den Schmerz nur zu verstärken.
In einer Pause saß Akio wieder abseits und versuchte, seine Tränen zu verbergen. Sophie fand ihn schließlich und fragte: „Wo sind Auron und Lirien?" Akio zuckte nur die Schultern. Gemeinsam suchten sie die beiden, doch vergebens.
Zurück im Klassenraum bemerkten sie, dass auch Kevin, Jonathan und einige andere Schüler fehlten. Dann hörten sie laute Stimmen aus dem Flur:
„Du bist doch ein Freund von dieser Heulsuse!"
„Und wenn ich es bin?"
„Dann bist du doch auch eine Heulsuse!"
Sofort eilten Akio, Sophie und ihre Lehrerin, Frau Wirsing, in den Flur. Dort sahen sie, wie Kevin Auron schubste. Auron wollte sich verteidigen, aber Kevin lachte nur höhnisch.
„Hör auf, das tut weh!" schrie Akio, der herbeistürmte. Doch Kevins Antwort war ein harter Stoß, der Akio zu Boden warf.
„Warum machst du das?" rief Lirien, die Akio half aufzustehen. Doch Kevin grinste nur.
„Wenn die Heulsuse fällt, muss sie doch auch weinen!" höhnte er.
Das war zu viel für Auron. Mit einem entschlossenen Blick rannte er auf Kevin zu und stieß ihn mit aller Kraft gegen den Bauch. Kevin fiel zu Boden, keuchend und überrascht von Aurons plötzlichem Mut.
Frau Wirsing kam endlich dazu und verschaffte sich Gehör. Doch bevor sie etwas sagen konnte, jammerte Kevin laut: „Die haben mich geschlagen!"
Auron und Lirien protestierten sofort: „Das stimmt nicht! Kevin hat angefangen!"
Die Lehrerin blickte streng in die Runde. „Kevin, ich habe alles gehört. Du hast Auron beleidigt und geschubst – und dann auch noch Akio. Es war falsch, was du getan hast."
Kevin versuchte sich herauszureden, doch Frau Wirsing ließ nicht locker. Schließlich gab er widerwillig zu: „Es tut mir leid."
Aber als er sich bei Akio entschuldigen sollte, flüsterte er nur halbherzig: „Es tut mir leid."
Akio verschränkte die Arme. „Du meinst das nicht ernst!"
„DOCH!" rief Kevin gereizt. Doch Akio schüttelte den Kopf. „Du lügst. Es tut dir nicht leid."
Die Situation schien erneut zu eskalieren, doch Frau Wirsing griff ein. „Genug jetzt. Kevin hat sich entschuldigt, und wir müssen das Thema jetzt ruhen lassen."
Auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer sprachen die Freunde über das, was passiert war. Akio war Aurons Verteidigung nicht entgangen. „Danke, Auron. Du bist ein echter Freund."
Auron schüttelte schnell den Kopf. „Das habe ich nicht für dich getan." Doch Lirien lachte leise. „Na klar, sicher nicht."
Sophie grinste verschmitzt. „Er würde dich auch küssen, wenn es sein müsste."
„WAS?" rief Auron empört. Doch bevor er weitersprechen konnte, ging Sophie zu Akio und erklärte: „Freunde küssen sich manchmal, um zu zeigen, dass sie sich mögen!"
Akio war verwirrt, aber begeistert von dieser neuen Regel. Ohne Vorwarnung gab er Auron einen Kuss auf die Wange. „Was machst du da?" schrie Auron, während Lirien und Sophie laut lachten.
Sophie setzte ihren Schabernack fort: „Mädchen müssen sich auf den Mund küssen, wenn sie Freundinnen sind!" Sie schnappte sich Lirien und drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen. Lirien protestierte lautstark, aber Akio war fasziniert.
„Jetzt seid ihr beste Freundinnen!" sagte er bewundernd.
Als sie schließlich wieder an ihren Plätzen saßen, dachte Akio über alles nach. Trotz all der Trauer, die ihn noch immer quälte, spürte er, dass er nicht allein war. Seine Freunde waren für ihn da, selbst wenn die Welt manchmal ungerecht erschien.
„Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm", murmelte er leise vor sich hin. Tränen stiegen ihm in die Augen – doch diesmal waren es keine Tränen der Trauer, sondern der Dankbarkeit.