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Chapter 31 - Ebbe

Das schwarze, undurchsichtige Wasser begann plötzlich aufzuwogen und zu brodeln, fast so als ob ein lebendiges Wesen verzweifelt versuchte, dem einfallenden Licht der Morgendämmerung zu entfliehen. Ganz langsam stand Sunny auf und näherte sich nach einigem Nachdenken vorsichtig dem Rand der Steinplattform.

Nach unten blickend blinzelte er, dann kniete er hinab um sicherzustellen, dass das, was er sah, keine Illusion war.

Es schien, als ob das Meer zurückwich.

Erst langsam, und dann immer schneller, sank der Wasserspiegel. Die kreisförmige Steinformation, die er als Zuflucht genutzt hatte, ragte kaum noch aus den Wellen hervor, aber nun lagen viele Meter von nassen Felsen zwischen ihm und der unruhigen Wasseroberfläche.

Während die Sonne aufstieg, ging die extreme Ebbe weiter. Bald stand Sunny am Rande einer hohen Klippe, mit einem hundert Meter tiefen Abgrund, der ihn von den wirbelnden Wassern trennte. Unter ihm breitete sich die Felsformation aus und veränderte sich. Allerdings war es von seinem Aussichtspunkt aus schwer zu erkennen, welche Form diese genau annahm.

Zu diesem Zeitpunkt begann die dunkle Wasseroberfläche hier und da von scharfen, karmesinroten Klingen durchstoßen zu werden. Als der Wasserspiegel noch weiter sank, schien sich schließlich ein karmesinroter Wald aus der Schwärze der Tiefe zu erheben. Die "Bäume" bestanden aus etwas, das Korallen ähnelte, sie wuchsen chaotisch ineinander und streckten sich gen Himmel.

Sie waren riesig und ihre unregelmäßigen Vorsprünge wickelten und verschmolzen miteinander - sie sahen monumentenartig und gespenstisch aus, im schwarz-roten Dasein der sonnenerhellten Leere. Das von diesem sonderbaren Riff gebildete Labyrinth erstreckte sich soweit Sunny sehen konnte, hier und da unterbrochen von hervorstehenden Klippen, plötzlichen Schluchten und entfernten natürlichen Merkmalen.

Eine halbe Stunde später blickte Sunny, vollkommen schockiert, nach unten und stellte fest, dass das Meer gänzlich verschwunden war. Wenn nicht die schwarzen Algen, die auf feuchten Felsen hingen, und die scharlachroten Korallensäulen ihm als Beweis dienten, würde er sogar bezweifeln, dass es jemals dagewesen war.

Seine kleine, kreisförmige Insel hatte sich in den Gipfel einer merkwürdig geformten, turbinehohen Klippe verwandelt. Als er hinuntersah, schwindelte ihm der Kopf.

Zu diesem Zeitpunkt war die Nacht bereits vollkommen zurückgetreten und hatte den Morgen endlich Platz machen lassen.

"Ich bilde mir das doch nicht ein, oder?" überlegte Sunny, während er sich kneifte.

Welchen Zauber war das?

Trotz des plötzlichen Verschwindens des dunklen Meeres und seiner versteckten Monster hatte Sunny es nicht eilig, von seiner kreisförmigen Steinplattform herabzusteigen. Erstens, wenn das Meer so abrupt verschwinden konnte, dann konnte es auch sicherlich genauso schnell wieder auftauchen, und das möglicherweise jeden Moment.

Und zweitens wusste er nicht, welche Gefahren das Korallenlabyrinth für ihn bereithielt. Vielleicht gab es dort unten etwas, das noch beängstigender war als der Besitzer des gigantischen Tentakels.

Aber das hieß nicht, dass er nicht vorhatte, die Gegend zu erkunden.

Er kehrte zu seinem Platz in der Mitte der Plattform zurück, setzte sich nieder und befahl seinem Schatten, sich von seinem Körper zu trennen. Dann kontrollierte er den Schatten, damit dieser sich dem Rand der Plattform nähert und geschickt hinunterrutscht.

Er bewegte sich wie gewohnt von einem Schatten zum nächsten, er begann den Abstieg. In diesem Moment war Sunny froh, dass Schatten kein Gewicht hatten und nicht von der Schwerkraft beeinflusst wurden.

Als der Schatten gerade mit dem Abstieg beschäftigt war, gähnte Sunny.

"Sag mal, glaubst du nicht, dass du einen Namen benötigst?"

Obwohl sein Schatten bereits zu weit weg war, um ihn zu hören, konnten sie sich immer noch über ihre gemeinsame Verbindung verständigen. Natürlich, weil der Schatten dazu in der Lage war, hieß das nicht, dass er das auch tun würde. Der Schatten war eher wortkarg, vor allem da er keine Stimmbänder hatte und daher nicht in der Lage war zu sprechen.

Außerdem war er auch nicht unbedingt gut gelaunt.

"Wie wäre es mit... Schamlos? Nein? Was ist mit... Schattig? Auch nein? Hmm, wie wäre es mit etwas Einfacherem, wie... Was? Hast du denn Vorschläge? Na gut, na gut! Wir vertagen dieses Gespräch auf später."

Bis er mit seinem kurzen Monolog fertig war, hatte der Schatten bereits den Fuß der Klippe erreicht. Die Reichweite von "Schattenkontrolle" war nicht grenzenlos, doch gerade so ausreichend, um ihre unmittelbare Umgebung zu erforschen.

Als Sunny das Labyrinth betrat, erkannte er, wie verwirrend und kompliziert es doch war. Die Wege zwischen den Korallensäulen waren mal breit, mal schmal. Sie windeten und drehten sich ohne ersichtliche Logik, führten oft in Sackgassen oder brachten ihn sogar an seinen Ausgangspunkt zurück. Darüber hinaus mündeten manche Wege auch im Inneren der "Korallen" Hügel und verwandelten sich in dunkle Tunnel.

Das Labyrinth war riesig und vielschichtig, was Sunnys Kopf schmerzen bereitete, nachdem er mehrere erfolglose Versuche unternommen hatte, die Anordnung der nächsten Wege zu merken. Er schickte letztlich den Schatten nach oben und brachte ihn dazu, auf den karmesinroten Wald hinaufzuklettern und von einer spitzen Korallenklinge zur nächsten zu springen, obwohl er wusste, dass er selbst dazu nicht in der Lage sein würde.

Schließlich umkreiste er die seltsame Klippe und erstarrte, schockiert von dem, was sich in ihrem Schatten abspielte.

Dort lag der Körper des riesigen, haifischähnlichen Kreatur, die ihn in der vergangenen Nacht nur kurz verfolgt hatte, auf dem Boden, die Korallensäulen um ihn herum zerbrochen und gesplittert.

Genauer gesagt, lag nur die eine Hälfte dort, mit grotesken Innereien, die aus der entsetzlichen Wunde quollen und sich weit in die Ferne erstreckten. Die andere Hälfte war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Um den Leichnam herum wimmelte es von Hunderten kleinerer Monster, die Stück für Stück sein Fleisch abrissen und verschlangen. Jedes von ihnen war etwa zweieinhalb Meter groß und sah aus wie eine seltsame Mischung aus einer dämonischen Krabbe, einem Zentaur und einem Alptraum.

Sie hatten vier Paar lange segmentierte Beine, die in sichelförmigen Fortsätzen endeten. An der Vorderseite ragte ein menschenähnlicher Torso aus dem Panzer, ebenfalls mit einer dicken Chitinschale bedeckt. Der Kopf, wenn man ihn überhaupt als solchen bezeichnen konnte, befand sich direkt auf dem Torso, ohne erkennbaren Hals dazwischen. Er hatte zwei schmale Augenschlitze und einen gefährlich aussehenden Mund mit mehreren schleimigen Mandibeln. Anstelle von Händen besaß die Kreatur zwei enorme Scheren.

Im Moment benutzten alle diese Scheren, um Fleisch von den ausgetrockneten Leichen abzureißen und in ihre Mäuler zu stopfen. Von Zeit zu Zeit entstand ein Kampf um ein besonders saftiges Fleischstück, welcher in einigen Monstern endete, die in Stücke gerissen und von den Siegern rasch verschlungen wurden.

Sunny schluckte.

Die Aussicht auf schwerbewaffnete, mächtige Monster machte ihn nervös und der Anblick ihrer Fressgelage löste plötzlich einen heftigen Hunger in ihm aus.

"Jedes Einzelne von ihnen scheint schrecklich viel Ärger zu bedeuten. Und es gibt Hunderte von ihnen."

Sein Glück war, wie immer, schrecklich.

"Aber wenigstens muss ich mich nicht fragen, warum sich das Labyrinth so leer anfühlt. Alle Einwohner feiern eine Party!"

Mit einem etwas mulmigen Gefühl, ließ Sunny seinen Schatten umdrehen und die Klippe studieren, auf der er Zuflucht gefunden hatte. Irgendetwas daran ließ ihn keine Ruhe.

Der Schatten drehte sich um und schaute nach oben, um den Anblick der seltsam geformten Klippe aufzunehmen. Es dauerte ein paar Minuten, bis Sunny seinen Blickwinkel ändern und die Klippe als das erkennen konnte, was sie tatsächlich darstellte.

"Das ist... ein Finger, das ist eine Hand, das ist... ein Schwert?"

Er blinzelte.

"Das ist eine Statue."

In der Tat war der Felsen künstlich gemacht. Es war eine antike, riesige Statue von mindestens zweihundert Metern Höhe. Das Ausmaß war so massiv, dass es einem den Verstand raubte. Soweit Sunny sehen konnte, stellte sie einen Ritter dar, der in einer kunstvollen Rüstung steckte, in deren Brustplatte sieben leuchtende Sterne eingemeißelt waren. Der Ritter hielt ein gigantisches Schwert in seinen Händen und richtete es auf den Boden.

Das bemerkenswerteste Merkmal der Statue war jedoch, dass dem riesigen Steinritter der Kopf fehlte. Tatsächlich war die ziemlich runde Plattform, auf der Sunny stand, der obere Teil seines Halses. Und nach dem Aussehen zu urteilen, war der Kopf nicht absichtlich fehlend - es sah so aus, als hätte etwas oder jemand diesen in der fernen Vergangenheit gewaltsam abgerissen.

Sunny lief um die Plattform herum und schaute von allen Seiten hinunter, konnte aber nirgendwo den Kopf der Statue ausmachen.

"Um alles in der Welt, was ist das hier für ein Ort?"

Ohne weiter in die Tiefe zu gehen und einer Antwort auf seine Frage näher zu kommen, wies er seinen Schatten zurück zum Hals des Riesen und lehnte sich an den westlichen Rand dieses, um die fressenden Monster zu beobachten.

Er bewegte sich nicht, bis die Sonne fast unterging.

Genau wie Sunny erwartet hatte, setzte ein ohrenbetäubendes Grollen ein, sobald die Sonne den Horizont berührte, das Geräusch kam von irgendwo unten. Die Monster hörten sofort auf zu fressen und flüchteten, einige versteckten sich in Korallensäulen, andere gruben sich einfach in den weichen Boden ein.

Nur wenige Minuten später erschienen die ersten Ströme von schwarzem Wasser im Labyrinth. Ihr Volumen wuchs schnell und bald verschlang die apokalyptische Flut alles um sie herum. Das Meer kehrte mit Anbruch der Nacht zurück.

Sunny starrte auf diesen unvorstellbaren Prozess und seine Gedanken überschlugen sich.

In einer Stunde war die kreisförmige Plattform das Einzige, was erneut über das dunkle Wasser ragte.