Sunny hatte erwartet, das Ziel seiner Ankunft im Traumreich zuerst aus der Vogelperspektive zu betrachten, so wie es beim ersten Alptraum der Fall gewesen war. Damals hatte die Zeit sich auf magische Weise rückwärts bewegt und ihm so einen Vorgeschmack auf die kommenden Ereignisse gegeben.
Jedoch, kaum hatte er die Begrüßung des Zaubers vernommen, fand sich Sunny blind und ertrinkend wieder. Als er instinktiv versuchte zu schreien, strömte salziges Wasser in seinen Mund und ließ ihn würgen und sich krümmen.
Mehr noch, er konnte nichts sehen. Es war nicht so, dass er nicht sehen konnte - es gab einfach keine Lichtquelle. Normalerweise war Dunkelheit für Sunny kein Problem, aber aus irgendeinem Grund funktionierte sein Sehvermögen plötzlich nicht mehr. Vielleicht wurde es durch das Salzwasser, in das er getaucht war, blockiert.
Wäre da nicht die besondere Raumwahrnehmung, die ihm seine Affinität zu den Schatten verlieh, er wäre komplett desorientiert gewesen. Mit ihrer Hilfe konnte er jedoch gerade so ausmachen, wo oben und wo unten war.
Zum Glück hatte Lehrer Julius ihm das Schwimmen beigebracht. Mit dem Vorsatz, sowohl dem alten Mann als auch Meister Jet zu danken, sobald er wieder zurück war, zwang sich Sunny zur Ruhe und begann nach oben zu schwimmen.
Nach einigen angespannten und langen Sekunden durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche. Endlich konnte er tief und heiser Luft holen.
'Atme, atme. Du lebst noch!'
Nachdem er genug Luft aufgesogen hatte, um seine brennenden Lungen zu beruhigen und sich ein wenig zu sammeln, begann Sunny vorsichtig, sich im Wasser zu drehen, um seine Umgebung wahrzunehmen.
Was er sah, war ein endloses, pechschwarzes Wellenmeer. Darüber ein leerer, schwarzer Himmel. Kein Mond, keine Sterne, nur eine dunkle Leere, die eine beklemmende Ausstrahlung hatte. Sunny blinzelte ein paar Mal, die Kälte kroch ihm ins Herz.
'Ein Meer? Ein Ozean? Bin ich mitten in einem Ozean abgesetzt worden?'
Nein, das konnte nicht sein. Irgendwo musste es festen Boden geben!
Während ihn ein Moment der Panik erfasste, lenkte ein fernes Geräusch seine Aufmerksamkeit auf sich. Sunny drehte sich und sah eine dreieckige Rückenflosse auf ihn zukommen. Glücklicherweise war sie noch hunderte Meter entfernt.
'Warte … wenn sie so weit weg ist … warum kann ich sie dann so deutlich sehen?'
Obwohl er noch unter Wasser war, hatte Sunny das Gefühl, dass sich plötzlich kalter Schweiß auf seinem Körper ausbreitete. Nach seiner Einschätzung war die Rückenflosse mindestens fünf Meter groot. Sie näherte sich mit rasender Geschwindigkeit und wuchs mit jeder Sekunde deutlich an.
'Verflucht seist du, Zauber!'
Vor Schreck drehte Sunny sich wieder um und suchte verzweifelt nach irgendetwas, das ihm helfen könnte. Und da, nicht weit entfernt, bemerkte er schließlich eine dunkle Masse, die leicht aus dem Wasser ragte.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, begann er mit Armen und Beinen zu rudern und schwamm mit beachtlicher Geschwindigkeit auf die dunkle Masse zu. Doch egal wie schnell er schwamm, der riesige Schatten des unbekannten Wesens näherte sich viel schneller.
Trotz der grenzenlosen, urtümlichen Angst, die er empfand, konnte Sunny einen klaren Kopf behalten. Um nicht vollständig in Panik zu geraten, zwang er sich zum Denken und befahl dann seinem eigenen Schatten, sich um seinen Körper zu wickeln. Sofort verdoppelte sich seine Geschwindigkeit.
Nur wenige Sekunden, bevor das unbekannte Ungetüm ihn erreichte, erreichte Sunny die dunkle Masse, streckte seine Hände aus und zog sich aus dem Wasser. Er rollte sich von der Kante weg, sein Körper wurde von den unebenen Steinen zerkratzt, und er zuckte zusammen, als die gesamte Oberfläche unter ihm erbebte, als ob etwas Riesiges dagegen gestoßen wäre.
Als Sunny sich zurückzog, tauchten schreckenerregende Kiefer aus dem Wasser auf, gefüllt mit Reihen von riesigen Zähnen, die mindestens so lang waren wie er selbst. Mit großen Augen erkannte er, dass der Felsen, auf den er geklettert war, nicht hoch genug war, um ihn vor dem Monster zu schützen.
'Warum versucht es mich zu fressen?! Ich bin viel zu klein, um für so ein riesiges Ding eine sättigende Mahlzeit zu sein!'
Aber bevor das Monster zuschnappen konnte, durchbrach plötzlich ein gewaltiger Tentakel die Wasseroberfläche und erhob sich wie ein schwarzer Turm in die Luft. Kurz darauf fiel er wieder herab und wickelte sich um das Monster, bevor es wieder unter die Wasseroberfläche gezogen wurde.
Sunny sackte zusammen, das Geühl in seinen Beinen war verschwunden. Sein ganzer Körper zitterte vor Schreck.
Einige Sekunden später war das dunkle Meer wieder ruhig, als ob nichts passiert wäre. Die gleichgültigen Wellen bewegten sich still unter dem lichtlosen Himmel.
'Es hat also nicht versucht, mich zu fressen', stellte er fest, wie gelähmt vor Schreck.
'Es hat versucht, wegzulaufen.'
***
Einige Minuten später war Sunny sich ziemlich sicher, dass nichts ihn verschlingen würde, zumindest nicht sofort. Mit dieser Gewissheit war er endlich in der Lage, seine Umgebung in Augenschein zu nehmen.
Die dunkle Masse, auf die er geklettert war, stellte sich als eine etwa zwölf Meter durchmessende Steinplattform heraus. Die Oberfläche war größtenteils flach, mit Rillen versehen und trocken. Aufgrund der regelmäßigen Ecken und Kanten wirkte es eher wie etwas von Menschen Geschaffenes als eine natürliche Formation. Aber hier im Traumreich war es schwer zu sagen, ob etwas von Menschenhand tatsächlich von Menschen geschaffen wurde...
Besser, nicht weiter darüber nachzudenken.
Die Plattform war mit nichts verbunden, sie existierte wie eine kleine Insel im Dunkeln. Soweit Sunny sehen konnte, ragte nichts anderes aus dem Wasser heraus. Nachdem er das festgestellt hatte, wurde ihm noch etwas anderes klar.
Er war nass, kalt und völlig nackt.
'Hm.'
Zu seiner Verteidigung, das Thema Bekleidung stand ganz unten auf der Prioritätenliste, als man versucht, sich vor abyssalen Monstern zu retten. Außerdem war ja niemand hier, um seine Blässe oder seine Genitalien zu begutachten.
Trotzdem war es irgendwie kalt.
Sunny rief den Mantel des Puppenspielers herbei und beobachtete, wie dunkelgraue Kleidungsstücke seinen Körper bedeckten. Dazu gehörten sogar ein Paar hohe, weich besohlte Lederstiefel. In dem grauen Stoff und dem matten Leder fühlte er sich gleich viel sicherer. Und wärmer.
Dann setzte sich Sunny in die Mitte der Plattform, so weit es ging vom Wasser entfernt, und versuchte, sich an die Eigenschaften jeder einzelnen erkundeten Region des Traumreiches zu erinnern.
Leider passte keine von ihnen in diese Sternlose, dunkle Leere.
'Natürlich nicht, dachte er mit einem Hauch von Bitterkeit. Selbst wenn einige unglückliche Menschen jemals hierher gekommen sind, zweifele ich daran, dass sie es lebend zurück in die reale Welt geschafft haben.'
Nicht mit solchen Dingen, die unter Wasser lauern.
Noch nicht verzweifelt genug, die Plattform zu verlassen und auf der Suche nach Land zu schwimmen, beschloss Sunny abzuwarten. Vielleicht würde sich irgendetwas ändern, mit der Zeit.
Mit einem leisen Seufzer warf er einen Blick auf seinen Schatten. Doch aufgrund der Dunkelheit, die ihn umgab, konnte er ihn nicht wirklich erkennen. Er konnte seine Präsenz gerade noch spüren.
'Das muss ein Paradies für dich sein, oder? Alles ist so dunkel und es ist kein einziger Stern zu sehen!'
Sein Schatten gab natürlich keine Antwort.
'Wie auch immer, danke für deine Hilfe vorhin.'
Sunny legte sich hin und benutzte seine Hände als Kissen. Nachdenklich starrte er in den schwarzen Himmel und wartete. Das Geräusch der Wellen war tatsächlich ziemlich entspannend.
Nach einer Weile schloss er seine Augen und lauschte. Die Minuten vergingen und wurden zu Stunden.
Plötzlich nahm Sunny eine Veränderung im Geräusch des Meeres wahr. Es hörte sich an, als würde sich etwas bewegen. Er öffnete die Augen und sah, wie sich eine Ecke des Himmels langsam aufhellte. Bald konnte man einen blassen Sonnenaufgang am Horizont erkennen.
Ein neuer Tag war im sternenlosen Leeren angebrochen.
Und mit ihm wogte das dunkle Meer plötzlich auf.