Danny folgte Kael'thar widerwillig, seine Gedanken ein chaotisches Durcheinander. Jeder Schritt fühlte sich schwer an, als hätte die Schwerkraft in dieser Welt plötzlich mehr Macht über ihn. Der Boden unter seinen Füßen schimmerte in mattem Kristallblau, doch er achtete kaum darauf. Die Worte des Drachen hallten in seinem Kopf wider:„Das Tor wählt nie falsch."
Warum er? Warum jetzt?
Er hatte immer geglaubt, sein Leben wäre durchschnittlich. Er hatte keine besonderen Talente, keine großen Ambitionen. Seine Tage bestanden aus Arbeit, ein paar Bier mit Freunden, und dem Gefühl, dass er irgendwie feststeckte. Er war nicht jemand, der in Geschichten auftauchte, schon gar nicht in solchen, in denen Drachen vorkamen und Welten auf dem Spiel standen.
„Ich bin niemand," murmelte er vor sich hin, leise genug, dass Kael'thar es nicht hörte.
Eine Erinnerung stieg in ihm auf – an einen Tag, der sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Er war zehn gewesen, und es hatte geregnet, als sein Vater gegangen war. Es war keine dramatische Szene gewesen, nur ein kühler Abschied, ein letzter Blick, und dann war die Tür hinter ihm zugefallen.
„Du bist nicht genug, Danny," hatte sein Vater damals gesagt, bevor er ihn und seine Mutter verlassen hatte.
Diese Worte hatten sich in ihn eingegraben wie Dornen. Sie hatten ihn durch die Schule begleitet, durch die Jahre, in denen er versuchte, irgendwo dazuzugehören, und später durch die Jobs, die nie mehr als Mittel zum Zweck gewesen waren. Jedes Mal, wenn er scheiterte – bei einem Projekt, in einer Beziehung, selbst bei den kleinsten Dingen – hörte er diese Worte wieder.
Und jetzt stand er hier, in einer Welt, die wie aus einem Märchenbuch entsprungen war, und ein riesiger Drache erwartete, dass er … was? Die Welt rettete?
Er spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Wut auf diese Welt, auf Kael'thar, aber vor allem auf sich selbst. „Ich bin nicht genug," flüsterte er, diesmal etwas lauter.
Kael'thar hielt abrupt an. Ohne sich umzudrehen, sprach er mit seiner tiefen, resonanten Stimme: „Deine Zweifel sind wie ein Stein, der dich in einen Abgrund zieht. Wenn du ihn nicht loslässt, wirst du ertrinken."
Danny starrte den Drachen an, überrascht von der plötzlichen Bemerkung. „Wie soll ich das loslassen?" fragte er, mehr zu sich selbst als zu Kael'thar. „Du redest, als wäre das so einfach."
Der Drache wandte seinen Kopf leicht, genug, dass Danny den goldenen Glanz seiner Augen sehen konnte. „Es ist nicht einfach. Aber es ist notwendig. Jeder trägt Zweifel mit sich, doch sie dürfen nicht das Fundament deines Seins werden."
„Und wenn ich es nicht schaffe?" fragte Danny.
Kael'thar schwieg für einen Moment. Dann sprach er, seine Stimme weicher als zuvor: „Dann wirst du scheitern. Aber das Wichtigste ist, dass du es versuchst. Die Wahrheit ist, Danny, dass niemand wirklich bereit für solche Prüfungen ist. Es sind nicht die Zweifel, die dich definieren, sondern die Entscheidungen, die du trotz ihnen triffst."
Danny ließ die Worte auf sich wirken, während sie weitergingen. Ein Teil von ihm wollte aufgeben, sich weigern, noch einen weiteren Schritt in diese fremde Welt zu setzen. Doch ein anderer Teil – ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Funke – flüsterte, dass er vielleicht doch mehr sein könnte, als er dachte.
Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, keine Ahnung, wie er helfen sollte oder ob er überhaupt helfen konnte. Aber er wusste, dass er, so sehr er es sich auch wünschte, nicht zurück konnte.
Vielleicht war es an der Zeit, den Funken zu finden, den das Tor in ihm gesehen hatte.
Während Danny weiterging, überfluteten ihn weitere Erinnerungen. Sie kamen plötzlich und unaufhaltsam, wie Wellen, die gegen die Ufer seiner Gedanken schlugen. Es waren Momente, die er jahrelang versucht hatte zu verdrängen, doch die fremde Umgebung und die Worte des Drachen schienen etwas in ihm ausgelöst zu haben.
Er erinnerte sich an seine Schulzeit – die Matheprüfungen, bei denen er immer versagte, egal wie viel er geübt hatte. Er hatte die Blicke seiner Lehrer gesehen, dieses subtile Zucken der Mundwinkel, das nicht ausgesprochen, aber dennoch unmissverständlich sagte:„Er wird es nie schaffen."Seine Mitschüler waren nicht besser gewesen. Sie hatten ihn nicht gemobbt, zumindest nicht direkt. Aber sie hatten ihn ignoriert, als wäre er unsichtbar.
Dann gab es den Sommer, in dem er zum ersten Mal verliebt gewesen war. Lisa. Sie hatte diese Art von Lächeln, das die Luft aus einem Raum zu saugen schien, und Danny hatte nie geglaubt, dass jemand wie sie ihn überhaupt wahrnehmen würde. Doch sie hatten ein paar Wochen zusammen verbracht, lange Spaziergänge gemacht, gelacht, über alles und nichts gesprochen. Und dann war es vorbei gewesen. Einfach so.
„Du bist nett, Danny," hatte sie gesagt, als sie ihn verließ. „Aber … du bist nicht das, was ich suche."
Das war der Moment gewesen, in dem er begriffen hatte, dass nett zu sein nicht reichte. Es war eine seiner größten Lektionen, und gleichzeitig eine der schmerzhaftesten.
„Du bist nicht das, was ich suche." Diese Worte hatten sich in ihn eingebrannt, genau wie die seines Vaters. Er hatte immer versucht, diese Stimmen zu ignorieren, doch tief in seinem Inneren glaubte er ihnen.
Doch warum hatte ihn das Tor gewählt?
„Wenn dieses Tor so schlau ist," murmelte er vor sich hin, „warum hat es nicht jemanden geholt, der tatsächlich Ahnung hat?"
Kael'thar schien ihn gehört zu haben, denn der Drache blieb erneut stehen und sah über seine Schulter zurück. „Du wiederholst dieselbe Frage," sagte er ruhig. „Und sie wird dich nicht weiterbringen. Die Antwort liegt nicht in deinem Verstand, Danny. Sie liegt in deinem Herzen."
Danny runzelte die Stirn. „Das klingt wie aus einem schlechten Film."
Kael'thar drehte sich ganz zu ihm um, sein massiver Kopf senkte sich, sodass Danny ihm in die Augen sehen musste. „Ich habe viele Menschen gesehen, die durch das Tor kamen. Einige waren weise, andere stark. Einige glaubten an sich, andere zweifelten. Doch es waren nie die Stärksten oder Klügsten, die überlebten. Es waren diejenigen, die den Mut fanden, ihre Schwächen anzunehmen und trotzdem weiterzugehen."
„Und wenn ich keine Schwächen habe, die ich überwinden kann?" entgegnete Danny trocken.
Kael'thar ließ ein tiefes Grollen hören, das mehr wie ein Lachen klang. „Jeder hat Schwächen, Danny. Die Frage ist nur, ob du den Mut hast, sie zu akzeptieren und zu lernen, mit ihnen zu leben."
Danny schwieg. Er wollte widersprechen, wollte dem Drachen erklären, dass er nur ein Kerl war, der es gerade so durchs Leben schaffte. Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Ein Teil von ihm wusste, dass Kael'thar recht hatte. Vielleicht war es an der Zeit, aufzuhören, vor sich selbst wegzulaufen.
Doch war er dazu bereit?
Während sie durch die unendlich wirkende Ebene gingen, fielen Danny weitere Erinnerungen ein – Bruchstücke seiner Kindheit und Jugend, die sich wie verblasste Bilder vor ihm auftürmten. Es war, als würde diese fremde Welt all die Dinge ausgraben, die er jahrelang unter Verschluss gehalten hatte.
Er dachte an seine Mutter. Sie war immer da gewesen, immer bemüht, immer kämpfend, um ihn durchzubringen. Nach der Trennung von seinem Vater hatte sie zwei Jobs angenommen – tagsüber an der Kasse in einem Supermarkt, nachts in einem kleinen Diner in der Stadt. Es war nicht viel, aber sie hatte es irgendwie geschafft, dass sie nie Hunger leiden mussten.
Doch Danny hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen.
Einmal, er musste etwa zwölf gewesen sein, hatte er sie spät in der Nacht weinen hören. Sie hatte gedacht, er würde schlafen, aber ihre leisen Schluchzer hatten ihn geweckt. Als er durch die Tür seines Zimmers spähte, hatte er sie in der Küche gesehen, mit dem Kopf in den Händen und einer unbezahlten Rechnung auf dem Tisch vor ihr.
Er hatte sich zurück ins Bett gelegt und die Decke über den Kopf gezogen, zu jung, um zu verstehen, wie man mit so etwas umging, aber alt genug, um den Schmerz zu spüren.
In der Schule hatte er versucht, ein guter Sohn zu sein, aber es war nie genug gewesen. Mathe war ein Albtraum, Sport eine endlose Quelle von Demütigungen. Seine Lehrer schienen ihn kaum wahrzunehmen, und seine Mitschüler ignorierten ihn, außer wenn sie jemanden brauchten, der für sie abschrieb oder das Mittagessen teilte.
Er hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, Hausaufgaben gemacht, gelernt – alles, um seiner Mutter zu zeigen, dass ihre Opfer nicht umsonst waren. Aber selbst dann hatte er immer das Gefühl gehabt, dass er sie enttäuschte.
Und dann war da noch der Tag, an dem sie zusammengebrochen war.
Er war fünfzehn gewesen, und sie hatte gerade ihre Schicht im Diner beendet. Sie war nach Hause gekommen, hatte ihm ein schwaches Lächeln geschenkt und gesagt, sie müsse sich kurz hinlegen. Er hatte sie später bewusstlos auf dem Boden ihres Zimmers gefunden.
Der Arzt hatte gesagt, es sei Erschöpfung gewesen, kombiniert mit Dehydrierung und Stress. „Ihr Körper hält das nicht ewig aus," hatte er gesagt, als ob Danny das nicht längst wusste.
Von da an hatte sich alles verändert. Sie hatte einen ihrer Jobs aufgegeben, aber das bedeutete weniger Geld und mehr unbezahlte Rechnungen. Danny hatte sich einen Nebenjob gesucht, während er noch zur Schule ging, um zu helfen, aber es war nie genug gewesen. Nie genug.
„Nie genug," flüsterte er vor sich hin und ballte die Fäuste.
Kael'thar warf ihm einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts.
Danny dachte an die Nächte, in denen er wach gelegen und sich gefragt hatte, warum sein Vater gegangen war. Hatte er seine Mutter verlassen, weil sie nicht genug war? Oder war es wegen Danny? Hatte er von Anfang an gewusst, dass er ein Sohn war, der nichts Besonderes erreichen würde?
Mit achtzehn war er ausgezogen, in eine winzige Wohnung, kaum größer als das Zimmer, das er bei seiner Mutter gehabt hatte. Er hatte gedacht, dass er endlich unabhängig sein würde, dass er endlich beweisen konnte, dass er allein zurechtkam. Doch die Einsamkeit war überwältigend gewesen.
Er hatte sich immer gefragt, was falsch an ihm war. Warum er nicht wie die anderen Menschen zu sein schien – voller Selbstvertrauen, voller Träume. Er hatte sich mit der Zeit damit abgefunden, dass er ein Niemand war, ein Name in der Menge, ein Gesicht, das niemand bemerken würde.
Doch jetzt war er hier, in einer Welt voller Drachen, dunkler Kreaturen und Elementarenergie. Und plötzlich sollte er wichtig sein.
„Das ergibt keinen Sinn," murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Kael'thar.
„Deine Vergangenheit ist nicht das, was dich definiert," sagte der Drache, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme war ruhig, fast sanft. „Es ist das, was du mit ihr machst."
Danny blieb stehen. „Was, wenn ich nichts mit ihr machen will?" fragte er, seine Stimme scharf. „Was, wenn ich einfach nur mein Leben zurück will? Ein normales Leben, ohne all das hier?"
Kael'thar hielt ebenfalls an und drehte sich langsam zu ihm um. „Das Leben, das du hattest, hat dich nicht glücklich gemacht. Es hat dich eingeengt. Vielleicht ist das Tor nicht nur eine Bürde, Danny. Vielleicht ist es eine Chance."
Danny starrte den Drachen an, unfähig zu antworten. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Kael'thar recht hatte. Aber das machte es nicht leichter, die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die immer wieder flüsterte:„Du bist nicht genug."
Danny atmete tief ein. Die kühle Luft der fremden Welt fühlte sich in seiner Lunge anders an – rein, aber irgendwie schwer. Der Gedanke, dass er vielleicht nicht zurückkehren konnte, begann sich in ihm zu verfestigen, und zum ersten Mal ließ er ihn zu, anstatt ihn wegzuschieben.
Kael'thars Worte hallten in ihm wider:„Vielleicht ist das Tor nicht nur eine Bürde, Danny. Vielleicht ist es eine Chance."
Eine Chance.
Er dachte an die Momente, in denen er gezögert hatte, an die Gelegenheiten, die er verstreichen ließ, weil er dachte, er würde sowieso scheitern. Ein Bewerbungsgespräch, für das er sich nicht traute, den letzten Schritt zu machen. Ein Freund, den er aus den Augen verloren hatte, weil er Angst hatte, nicht genug zu geben. Eine Beziehung, die zerbrach, weil er nicht glaubte, dass er sie halten konnte.
Was, wenn dieses Tor all das ändern konnte? Was, wenn das Tor nicht falsch lag?
Kael'thar ging weiter, sein massiver Körper bewegte sich fast lautlos über den schimmernden Boden. Danny blieb für einen Moment zurück, stand still und blickte auf seine Hände. Sie zitterten leicht, aber nicht vor Angst – vor Adrenalin.
„Vielleicht bin ich nicht genug," flüsterte er zu sich selbst. „Aber vielleicht kann ich es werden."
Mit diesem Gedanken setzte er sich in Bewegung, seine Schritte wurden sicherer, gleichmäßiger.
Kael'thar bemerkte den Unterschied sofort, ohne zurückzuschauen. „Dein Blick hat sich verändert," sagte er.
Danny holte tief Luft. „Ich glaube, ich bin es einfach leid, ständig wegzulaufen."
Der Drache blieb stehen und drehte seinen Kopf zu ihm. In seinen goldenen Augen lag eine Mischung aus Neugier und Anerkennung. „Das ist der erste Schritt, Danny."
„Der erste Schritt wohin?" fragte er.
„Zu dir selbst," antwortete Kael'thar.
Danny schnaubte. Es klang wie etwas aus einem abgedroschenen Selbsthilfebuch, aber es fühlte sich trotzdem richtig an. Vielleicht war das Tor tatsächlich eine Gelegenheit. Vielleicht war das hier sein Moment, endlich herauszufinden, ob er wirklich zu mehr fähig war, als er selbst geglaubt hatte.
Als sie einen Hügel erklommen, bot sich Danny eine Aussicht, die ihm den Atem raubte. Vor ihnen erstreckte sich ein endloses Tal, erfüllt von seltsamen Lichtern, die wie Glühwürmchen in der Dunkelheit tanzten. Überall wuchsen gigantische Kristalle aus dem Boden, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten.
„Das ist das Herz des Drachenreichs," sagte Kael'thar. „Von hier aus wirst du deinen Weg beginnen."
Danny spürte, wie etwas in ihm zu pochen begann – nicht Angst, sondern eine Art Erwartung. Zum ersten Mal fragte er sich, waseraus dieser Reise machen konnte, anstatt nur an all die Dinge zu denken, die er nicht war.
„Und was jetzt?" fragte er schließlich.
Kael'thar lächelte, soweit ein Drache das konnte. „Jetzt wirst du deine ersten Prüfungen bestehen müssen. Aber diesmal wirst du nicht allein sein."
Danny wollte schon fragen, was er damit meinte, als sich plötzlich der Himmel veränderte. Wolken, die wie schwarzer Rauch aussahen, wirbelten zusammen und formten einen dunklen, bedrohlichen Wirbel über dem Tal. Ein tiefes Dröhnen erfüllte die Luft, und aus den Schatten lösten sich dunkle Gestalten – Kreaturen, die aussahen wie lebendige Albträume.
„Das Tor hat dich nicht ohne Grund hierher geschickt, Danny," sagte Kael'thar ruhig. „Jetzt wirst du es beweisen müssen."
Danny spürte, wie die Zweifel zurückzukehren drohten, aber er drückte sie entschlossen zurück. Er wusste nicht, wie er kämpfen oder sich verteidigen sollte, aber er wusste, dass er eines tun konnte: versuchen.
Vielleicht war das genug, um anzufangen.